|Goethes Erben - Vermisster Traum (Youtube)|
Kei stand auf, nahm Colin dabei etwas grob mit hoch und drehte ihn
um, sodass der Kleinere mit dem Rücken zu ihm stand und folgte
Delilah. Colin zog er dabei einfach mit sich. Widerwillig stolperte
dieser mit. Unterwegs knurrte er leise weiter, während Delilah sie
zwischen Beeten und Rasenstücken in einem weiten Bogen um das
Schloss herumführte, um sich ihm von der Küchen- und Garagenseite
aus zu nähern, wohin sich kein Gast begeben konnte. Dabei flankierte
sie Colin und musterte ihn skeptisch, wenn sie nicht gerade nach
Beobachtern Ausschau hielt.
Durch eine Bedienstetentür gelangten sie hinein und mit Delilahs
Hilfe unbemerkt in Colins Zimmer, wo Dennis schon auf sie wartete. Er
verschloss sofort die Tür, nachdem sie ihn hineinmanövriert hatten.
Den Schlüssel ließ er aber in der Tür stecken. Delilah war draußen
geblieben und ging wieder auf ihren Wachposten im Park.
Mit besorgtem Blick zeigte Dennis auf einen Stuhl, den er in die
Zimmermitte gestellt hatte. Kei verfrachtete Colin mit Leichtigkeit
darauf. Es war zwar störend, aber nicht hinderlich, dass Colin nicht
besonders kooperativ war.
„Erklär‘ mir das,“ forderte Kei von Dennis.
Weil Colin natürlich nicht sitzenbleiben wollte, schlang Dennis die
Kordeln der Vorhänge, die er auch in Vorbereitung bereits abgenommen
hatte, um seine Beine und den Oberkörper und fesselte ihn so an
Stuhlbeinen und Lehne fest. Als er damit fertig war und Kei ihn auch
loslassen konnte, trat er etwas zurück und betrachtete Colin. Er sah
eigentlich nicht mehr nur besorgt aus. Sondern bedauernd. Als würde
er jemandem beim Sterben zusehen. Kei musterte Colin und Dennis.
„Was ist mit ihm los?“
Dennis blinzelte. Sein Gesichtsausdruck war entweder endlos traurig
und verzweifelt oder ein wenig angewidert. Vielleicht beides.
„Ich weiß nicht genau. Es ist merkwürdig... Sein Kopf ist... Ich
kann nichts hören. Ich finde keine Gedanken.“
„Er hat versucht, mich anzugreifen.“ Kei stand relativ dicht bei
Colin. Der reckte den Kopf in seine Richtung, legte ihn auf seine
eigene Schulter und sah Kei treuherzig an, auf seiner Zunge und
seinen Lippen kauend.
„Er will fressen,“ sagte Dennis. Während er Colin zusah, wurde
sein eigenes Gesicht niedergeschlagener.
„Das hab ich auch schon festgestellt. Aber er ist weder er selbst,
noch die skrupellose Version von sich selbst...“
„Nein, er ist noch eine Stufe weiter...“ sagte Dennis, Colin
nachdenklich weiter musternd. „Erinnerst du dich an die
Videomontage in den Gruben?“
„Ja, wieso?“
Dennis zeigte auf Colin, der sofort den Finger fixierte.
„Das ist der Ghul, glaube ich.“ Als Dennis' Finger sich wieder
krümmte, begann Colin, kehlig und rauh zu lachen, was schnell wieder
abebbte und in einen langen, dünnen Quietschlaut überging, als er
den Kopf auf der Lehne zurücklegte. Kei
sah ihn an.
Colin? Steckst du da noch drin? Vergiss nicht, du darfst nicht
draufgehen.
„Kannst du ihm was zu fressen besorgen?“
Dennis nickte, den ernsten Blick nie von Colin abgewandt.
„Natürlich.“ Gerade als er sich abwandte und zur Tür ging,
schwoll Colins leises Winseln schmerzerfüllt an und sein Gesicht
verzog sich wie zuvor im Garten. Er sah aus, als würde er schreien,
doch der Laut aus seinem Mund war hoch und leise.
„Maaahm...“ wimmerte er und fing an zu weinen. Kei wischte ihm
die Tränen aus dem Gesicht. „Mum, mum... muuum...“ winselte er
weiter, während Dennis sich wieder langsam umwandte, um ihn weiter
zu beobachten. „Go on, go on, more, please, more,“ flüsterte er
hechelnd, während seine Augen blind auf die Decke starrten. Stöhnend
wand er sich in den Fesseln. „One, two, three, four, five, five,
five, five, fiiive... much five, Kei...“ Er drehte den Kopf
in jede Richtung, bis er Kei in die Augen sehen konnte, und das tat
er auch. Weinend und schluchzend und mit fassungslosem Blick. „Ich...
kann... nicht... mehr zählen... zu viele... Kei... Kei... au...“
Dennis hatte einen starren, schockierten Gesichtsausdruck. Verstohlen
wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen. Kei stand ganz ruhig
da. Etwas - ziemlich - überfordert. Er wusste weder, was er sagen
noch was er tun sollte.
„Er hat Schmerzen,“ sagte Dennis schließlich. „Oder er glaubt,
welche zu haben.“ Er trat neben Colin, gegenüber von Kei, und
legte die Hände auf Colins Hinterkopf und die feuchte Stirn, nachdem
er ihm die Perücke abgenommen und sie hinter sich auf das Bett
geworfen hatte. Colin blinzelte Kei immer noch hilflos an und wand
sich in den Kordeln. Kei machte ihm die Hände los.
„Was passiert mit ihm?“
„Lass ihn gefesselt!“ warnte Dennis.
„Meinst du, er geht wieder auf uns los?“ Kei befestigte Colin so,
dass es bequemer war, er da aber nicht rauskam. Er wand sich nur noch
mehr und sein Stöhnen und Wimmern hörten auch nicht auf.
„Ja.“ Etwa eine Minute lang hatte Dennis stumm die Augen
geschlossen und hielt Colins Kopf fest. Während dieser Minute wurde
Colin erst ruhiger und leiser, ehe er sich wie draußen im Garten
zusammenkrampfte und zu zucken begann, wieder mit diesem kehligen
Knurren, das nun auch genausogut ein nicht ausgestoßener Schrei sein
konnte. Nur sein Kopf blieb still, weil Dennis ihn ungerührt weiter
festhielt.
Kei setzte sich vor Colin auf den Boden und sah ihn einfach an. Man
konnte nicht erkennen, was in Keis Kopf vorging. Er machte sich
Sorgen. Das hieß aber nicht, dass man das auch sehen sollte. Dennis
hingegen konnte man seine Sorge deutlich ansehen. Oder vielmehr wie
resigniert er sein musste, als er die Hände von Colin nahm und der
Junge sich sofort wieder beruhigte, ohne jedoch ganz stillzuhalten.
„Ich kann das nicht ganz verstehen,“ sagte Dennis vorsichtig.
„Ich kann nur spekulieren.“ Er sah Kei nachdenklich an. „Diese
Prozedur ist nicht für Menschen gedacht, sondern für Vampire. Und
die Dinge, die er erlebt hat, haben auf ihn einen anderen Effekt als
sie auf uns gehabt hätten.“ Er legte den Kopf schief, während er
laut nachdachte. „Wir sind darauf ausgelegt, Menschen zu jagen und
zu töten, er nicht. Wir werden viel älter als Menschen, nicht nur
körperlich. Wir haben von allem mehr als sie - Alter, Kraft,
Geschicklichkeit, Konstitution... Erinnerung... unsere Psyche hält
viel mehr aus als eine menschliche.“
Colin war dazu übergegangen, auf seiner Zunge und den Innenseiten
seiner Wangen herumzukauen und richtete dabei deutlich hörbar
Schaden an, während er dumpf an die Decke starrte. Dennis zog ein
Taschenmesser aus seiner Hosentasche und riss damit einen breiten
Fetzen aus der schönen Bettwäsche, um ihn damit zu knebeln. Er
wehrte sich nicht, sondern kaute nun nur auf dem Stück Stoff herum.
„Wenn die Instanz das weiß...“ Davon ging Kei einfach aus.
„Warum machen sie das dann?“ Das war doch mehr als dumm. Gut,
Colin starb nicht mehr - oder war vielmehr einer permanenten
Verwandlung unterzogen, die anscheinend mehrere Tode brauchte, aber
davon hatte die Instanz gar nichts. Und ob Kei wirklich nicht zu
töten war, war noch nicht bewiesen.
Der Vampir sah Colin an und hoffte für sich, dass sein Freund nicht
ganz tot war, nicht ganz weg. Er fixierte Colins Augen mit seinen.
Irgendwann starrte Colin sogar zurück. Blind und leer.
„Ich glaube nicht, dass die Instanz das wusste, bevor sie ihn hier
in England entführt hat. Das Experiment wird sonst nur an Vampiren
durchgeführt. Es ist auch nur für Vampire gedacht. Darum bist du
für sie wichtiger als er. Aber auch solche... Kreaturen kann man
sich zunutze machen. Guck ihn dir an. Er ist eine hirnlose
Fressmaschine, die man nicht endgültig umbringen kann, solange der
Partner noch lebt. Ist doch echt nützlich,“ sagte Dennis bitter.
„Du kannst ihn mit Maulkorb im Zwinger halten.“
„Bleibt er die ganze Zeit so oder steckt Colin da noch drin?“
Praktisch denkend würde Kei seinem unbrüderlichen Halbbruder sogar
zustimmen, aber praktisch denken war im Bezug auf Colin nicht seine
Stärke.
„Beides. Er ist noch da drin. Zusammen mit ein paar alternativen
Persönlichkeiten und Erfahrungen, die wahrscheinlich kein Mensch
überleben würde, ohne wahnsinnig zu werden. Wenn er nicht ständig
so bleibt, wird er mit Sicherheit immer wieder in diesen Zustand
fallen, und wenn er wieder rauskommt, ist er noch ein bisschen
kaputter, jedesmal.“
Und er hat mich Bluthund genannt... Kei seufzte.
Colin war wieder dazu übergangen, zu knurren und zu zappeln, und
reckte sich Kei mit wütendem, hungrigem Blick entgegen. Sein Mund
bearbeitete das nun von Speichel und Blut triefende Stück Stoff
weiter. Kei saß außerhalb jeglicher Gefahrenzone, also blieb er
sitzen und sah ihm weiter in die Augen. Dennis setzte sich auf die
Bettkante und rieb sich über das Gesicht. Als Colin es schaffte, den
Stuhl nach vorn kippen zu lassen, packte er die Rückenlehne und zog
ihn wieder aufrecht.
„Also... es gibt da...“
„Hm?“ Kei bewegte sich nicht, hörte aber zu.
„Entweder sperren wir ihn so weg oder wir bringen ihn um. Oder...“
„Oder was? Ich will ihn weder einsperren noch umbringen.“
Stöhnend und durch den nassen Lappen schreiend stemmte Colin sich
wie unter Schmerzen gegen die Stuhllehne.
„Ich auch nicht. Ich weiß aber nicht, ob - ich habe sowas noch nie
gemacht, aber ich würde es lieber versuchen, als Colin sich so zu
überlassen oder zu riskieren, dass du bei seiner Erlösung mit
draufgehst.“ Dennis stand wieder auf und strich sich nervös über
das Kinn. „Wenn ich mit meiner Spekulation Recht habe, dann könnte
es helfen, wenn ich Teile seiner Erinnerung lösche.“
„Versuch's.“ Egal, wie er draufgeht. Ich geh mit drauf.
„Gut. Es wird länger dauern und ich brauche wahrscheinlich mehrere
Anläufe. Und es wird wehtun, glaube ich. Wenn es schiefgeht, bekommt
er noch ein Trauma dazu.“
„Dann lass es nicht schiefgehen.“ Schmerzen hat er so auch...
Nun hielt Colin still und weinte wieder. Er summte irgendeine
Melodie. Dennis stellte sich hinter ihn und packte wieder seinen
Schädel, nun weniger vorsichtig als zuvor. Colin zuckte zusammen und
stemmte sich wieder gegen die Seile, während Dennis die Augen
zusammenkniff.
„Sorg dafür, dass er still bleibt. Wir können hier keine
Gesellschaft gebrauchen.“
Kei hörte genauer hin. Behalte die guten Erinnerungen. Sonst muss
ich dir so viel erzählen... Er knebelte Colin vernünftig mit
dem Stoffstück. „Gomen ne.“
Nach kurzer Zeit begann Colin wieder zu schreien, von den Knebeln
unterdrückt und durchsetzt von Knurren und Schluchzen. Er zuckte,
bis er den Stuhl zum Wackeln brachte.
Nach einigen Minuten atmete Dennis durch und lockerte seinen Griff.
Colin sackte zusammen und blieb so scheinbar bewusstlos liegen, als
Dennis weitermachte, mit was immer er da in seinem Kopf tat. Kei saß
vor ihm und hatte seinen Kopf einfach ungefragt auf Colins Schoß
gelegt. Er konnte ihm gerade nicht helfen, aber er konnte wenigstens
da sein.
Es dauerte lang.
Im Laufe der folgenden Stunde pausierte Dennis ein paarmal, jedesmal
ein bisschen länger, bis er sich schließlich auf die Bettkante
setzte und sich mit einer Ecke der Bettdecke das Gesicht abwischte.
Colin lag reglos im Stuhl und atmete flach und langsam. Keis Kopf lag
still auf Colins Knien, während er die Augen aufmachte und lauschte.
Am deutlichsten konnte er Dennis' schweren Atem hören, und das
Rascheln seiner Kleider und der Bettwäsche, während er sich auf die
Knie stützte und sich die Handballen auf die Augen drückte. Kei
setzte sich leicht auf und sah Colin an.
Er sah aus, als würde er schlafen. Kei schaute kurz hinüber zu
Dennis, dann zu Colin.
„Schläfst du?“ fragte er ihn überflüssigerweise. Der reagierte
überhaupt nicht. Nur Dennis richtete sich auf und stand vorsichtig
auf, so als ob er erwartete, dass seine Knie nachgeben würden. Kei
drehte sich leicht in Richtung Dennis, irgendwie erleichtert, dass
Colin nicht mehr sterbend aussah. Dennis machte den Mund auf um etwas
zu sagen, aber winkte dann nur schwach ab und wankte an Kei vorbei
zur Tür. Kei drehte sich so, dass er an den Stuhl gelehnt sitzen
konnte. Das tat er nicht lange. Er machte Colin los und legte ihn
aufs Bett, dann legte er sich daneben.
Colin schlief friedlich durch die Nacht, rollte sich zwischendurch
sogar ein bisschen in die Decke und trat dabei die Perücke auf den
Boden, die Dennis ihm abgenommen hatte. Irgendwann waren auf dem Flur
aufgeregte Stimmen zu hören und ein leichtes Rumpeln an der Tür,
doch es kam niemand herein.
Kei blieb die meiste Zeit bei ihm. Er schlief kaum, aber das störte
ihn nicht. Schlaf war purer Luxus. Er lauschte auf die Geräusche um
sich herum, Colin, das was draußen vor der Tür stattfand, was
draußen im Garten passierte.
In der Zeit, in der Colin dalag, ging Kei in sein Zimmer um sich
umzuziehen und die Kontaktlinsen herauszunehmen. Er ließ Colin für
eine Weile alleine um seinen Hunger zu stillen und kam dann wieder
zurück. In Jogginghose und Tanktop legte er sich neben ihn.
Rupert verlangte noch ein paarmal Einlass, der ihm jedoch jedesmal
von irgendjemandem vor der Tür verwehrt wurde.
Erst als das Tageslicht den Raum merklich aufgewärmt und Colin die
flauschige Bettdecke wieder weggetreten hatte, bohrte er langsam den
Kopf etwas in das Kissen und blinzelte. Kei lag dicht bei ihm. Colin
sah ihn an, gähnte, drehte sich auf den Rücken und setzte sich
langsam auf.
„Alles okay?“
„Huh?“ Colin sah schläfrig zu Kei und dann an sich herunter.
Stirnrunzelnd. „What the hell?“
Kei musterte ihn und fragte sich, wie viel Colin noch wusste.
„What the-“ Colin nahm eine Falte seines Rockes und hob sie hoch,
so als ob er mit den Fingern nachprüfen musste, dass sein Aufzug
real war. Das lenkte seinen verdutzten Blick auf das Bett und den
Rest dieses Schlosszimmers, und zurück zu Kei.
„Was ist das letzte, an das du dich erinnerst?“
„Was soll die bescheuerte Frage? Was soll das hier bitte?“
Er gestikulierte in der Luft herum, meinte scheinbar den ganzen Raum
und seine Kostümierung.
„Ist ‘ne längere Geschichte und wenn du mir sagst, was gestern
passiert ist, weiß ich wie lang sie ist.“
„Was soll passiert sein? Schule, du hast mich angezeckt, das
Übliche halt.“ Colin wandte sich zur Seite um aufzustehen. „Wo
sind wir hier?“
„In England.“ FUCK.
„Ja, klar!“ Colin prustete los, kriegte sich aber gleich wieder
ein, als die Absätze der Stiefel unter ihm wackelten und er sich
erst einmal ausbalancieren musste. „Fuck this,“ brummte er
daraufhin und kniete sich hin, um sich die Stiefel auszuziehen.
„Ernsthaft jetzt, was ist das hier?“
Wenn das letzte, woran er sich erinnert, Schule ist... dann weiß
er ja fast gar nichts mehr.
„Das könnte eine sehr lange Geschichte werden....“ dachte Kei
laut. Sie waren, seit Colin bei ihm untergetaucht war, nicht mehr
gemeinsam in der Schule gewesen. Das war mehr als zwei Jahre her.
Als Colin es geschafft hatte, sich beide Stiefel runterzureißen und
sich wieder aufrichtete, sah er sich mit in die Hüften gestemmten
Händen noch einmal um und sein Gesichtsausdruck wandelte sich
merklich zu etwas, das wie mildes Staunen aussah.
„Willst du die ganze Geschichte oder eine Kurzversion?“ Kei
setzte sich auf.
„Sht, warte,“ sagte Colin und winkte hastig ab. „Das hier ist
mein Zimmer. Wir sind bei Rupert zuhause.“
„Ja.“
Er stinrunzelte Kei misstrauisch an. „Was machst du dann hier?“
„Ich bin länger hier als du.“
Colins trockener Blick sagte genug. Nämlich, dass er diese
Behauptung für dreisten Unsinn hielt und lieber die richtige Antwort
hören wollte.
„Wir wurden angegriffen, relativ kurz nachdem wir in England
ankamen. Du wurdest entführt und ich bin hier gelandet.“ Kei
erzählte die Geschichtsfetzen ruhig und absolut glaubwürdig.
Colin atmete durch. Er wirkte genervt und glaubte offensichtlich
nichts davon.
„Gut. Ich regel das.“ Forsch marschierte er zur Tür, machte aber
gleich darauf halt, weil sie sich plötzlich öffnete. Rupert glotzte
ihn wie ein Gespenst an.
„Dennis took his memory. Well, everything after school in Japan,“
warnte Kei.
„What?“ Irritiert schüttelte Colin den Kopf und wandte sich
wieder Rupert zu. „What's this twat doing here, pray tell?“
forderte er mit anklagendem Fingerzeig auf Kei auf dem Bett hinter
sich. „... In my bed?“ spezifizierte er mit Nachdruck und
einem genervten Blick, als Rupert sich außer Stande sah, sofort zu
antworten und nur weiter glotzte. Kei seufzte genervt.
„Could you tell him what happened so far? I need to find Dennis to
thank and kill him. Colin? Wie alt bist du?“ Kei wollte wissen,
welcher Tag der letzte war, an den Colin sich erinnern konnte.
„Vierzehn, immer noch. Und du meinst, mein Gedächtnis wäre
nicht in Ordnung,“ schnaufte Colin augenrollend.
Rupert hatte sich etwas gefangen und deutete mit Blick auf Kei über
seine Schulter um anzuzeigen, dass Dennis gleich draußen sein
müsste.
„Look, Colin, there‘s something I need to explain to you,“
begann er.
„Yeah. Like this here,“ schnappte Colin, indem er wild an
sich herunterzeigte. Das Kleid.
Nicht mal sein Geburtstag im Park?... Kei suchte Dennis, fand
ihn sehr schnell und blieb neben ihm stehen. „Er weiß nichts mehr.
Gar nichts. Das letzte, woran er sich erinnert ist irgendein Schultag
in Japan relativ kurz nachdem wir uns begegnet sind.“
Dennis, irgendwo im Flur an die Wand gelehnt, schien sich in der
Zwischenzeit nicht ausgeruht zu haben. Er trug immer noch die Kleider
vom vorigen Abend und dazu einen müden Blick. Er nickte langsam.
„Ich habe alles schädliche gelöscht, das ich finden konnte. Und
ich habe ihm etwas neues gegeben,“ sagte er matt.
„Was ist das Neue?“
„Er glaubt jetzt, dass seine Mutter und ihr Lebensgefährte bei
einem Verkehrsunfall gestorben sind. Dass Rupert sein Pate ist und er
darum jetzt hier bei ihm lebt. Er weiß nichts von der Instanz, von
Vampiren... nichts mehr davon.“
Er weiß wenigstens noch, wer ich bin... So halbwegs... Kei
seufzte und lehnte sich an die Wand.
„... well, he's not!“ tönte Colins aufgebrachte Stimme durch die
Tür. „All right, thank you!“ rief er danach patzig. Und: „Jesus
Christ!“
Eine Tür wurde lautstark zugeworfen und Rupert kam wie ein
begossener Pudel auf den Flur.
„He did not believe you one word. I heard him.“ Kei starrte die
Wand an. Das konnte ja heiter werden.
„He did. He just doesn‘t like the story I told him.“ Rupert
seufzte und lehnte sich ihnen gegenüber an die Wand, die Kei gerade
mit seinem Blick durchlöcherte.
„The story being,“ erklärte Dennis, „that out of sheer
coincidence, your half brother and sister happen to be friends with
Rupert, and that we brought you along as his school friend, to make
things easier for him here, what with his mother dead and him in a
new place again.“
„He says you‘re not friends, though,“ fügte Rupert hilfreich
hinzu.
„You must know, we weren‘t really friends back at this time.“
Rupert nickte ratlos.
„Still, you‘re my brother, it‘s still a good excuse,“ sagte
Dennis.
Dass Keis und Colins Beziehung zu jenem Zeitpunkt daraus bestanden
hatte, dass Kei sich an Colins Blut gütlich getan hatte und sie sich
ansonsten eigentlich immer angezickt hatten, obwohl Kei damals schon
andere Gedanken bezüglich Colin hatte, musste er Rupert und Dennis
ja nicht auf die Nase binden.
Er nickte.
Die Spuren der Gala vom Vorabend waren längst sämtlichst beseitigt
und alles war wieder an seinem gewohnten Platz. So auch das Mobiliar
im Salon, wo es nun Abendessen geben sollte. Colin hatte sich
mürrisch in seinem Zimmer eingeschlossen und wurde nur durch den
Hunger hinuntergetrieben. Er hatte wieder seine eigenen Kleider an
und dazu die Mütze, um seine immer noch Fast-Glatze stylisch zu
verdecken, als er in den Salon trat, wo schon alles eingedeckt war.
Das Abendessen mit Rupert und Jane begann in betretener Stille, doch
zog sich schlussendlich durch ein ausgedehntes Gespräch in
die Länge, das Colin dann lange nach Sonnenuntergang etwas
nachdenklicher wieder in sein Zimmer hinaufgehen ließ.
Kei spielte immer noch auf seiner neuen Gitarre, was Colin leise in
seinem Zimmer hören musste. Der Vampir würde an diesem Tag nicht
unbedingt das Gespräch mit dem Kleineren suchen. Er war in erster
Linie froh, dass er noch lebte.
Colin hörte in der Tat durch die Tür den Gitarrenklängen zu.
Zumindest für eine Weile. Irgendwann klopfte er an Keis
Badezimmertür.
Für dich ist all das nie passiert... Kei legte die Gitarre
beiseite.
„Ja?“
Langsam kam Colin herein, mit einem friedlichen Halblächeln auf dem
Gesicht und den Händen in den Hosentaschen.
„Ich wusste nicht, dass du Gitarre spielst. Das war gut,“ bot er
an. Kei seufzte. Man konnte meinen, er sei traurig, dass Colin alles
vergessen musste, aber das ließ er den Kleineren nicht sehen.
„Danke.“
„Pass auf, uhm, es tut mir Leid, dass du meinetwegen hier sein -
nein, warte, anders...“ Er spazierte zur nächstgelegenen Kommode
und fummelte da an einer Glasschale herum. „Also, wenn du‘s
hinkriegst, kein Arschloch zu sein, werde ich auch keins sein, in
Ordnung?“
„Ich werd‘ mir Mühe geben.“ Kei war der Meinung, dass sein
Versprechen auch galt, wenn Colin es nicht wusste. Ob dem Kleineren
wohl auffiel, dass Kei bunter war als zu diesem Zeitpunkt vor drei
Jahren, der für Colin gestern war?
„Ich kann dir auch helfen, dich hier zurechtzufinden,“ bot Colin
nach einem etwas forcierten Luftholen an, indem er unschlüssig mit
den Armen ruderte. „... Wenn du willst.“ Dann fiel sein
wandernder Blick auf Keis Schultern, über die sich die farbenfrohen
Ausläufer seiner großen Rückentätowierung rankten, und wurde
etwas ernster. „Ach nein, komm...“ sagte er wie ein resignierter
Nachhilfelehrer. Er ging etwas auf Kei zu und in einem weiten Bogen
um ihn herum, um mehr von seinem Rücken zu sehen, der durch das
Tanktop nicht ganz verdeckt war.
Kei fand es irgendwie bemerkenswert, wie Colin sich von Colin
unterschied.
„Ich kenn mich hier ganz gut aus, aber danke,“ sagte er ruhig und
ließ sein Tattoo von dem Kleineren betrachten.
„Hast du darum ständig Probleme? Weil du was mit der Yakuza zu tun
hast?“ sagte Colin fordernd und beugte sich in noch ziemlich großem
Abstand etwas vor, um die sichtbaren Teile der Geisha und ihrer
bunten Umrahmung anzusehen.
„Kommt drauf an, von welchen Problemen du redest,“ entgegnete
Kei.
„Dein mieses Benehmen zum Beispiel, wie der letzte Penner in der
Schule aufzutauchen zum Beispiel, mich vom Konzerthausdach mit Geld
zu bewerfen zum Beispiel, mich dafür dann noch zu bedrohen zum
Beispiel... Ooh, bist du darum hier? Nicht um mir Gesellschaft zu
leisten, sondern weil du untertauchen musst?“
„Wenn du das Probleme nennst, nein. Das hat...“ Hatte
„nichts mit der Yakuza oder der Verfolgung durch die Polizei in
Japan zu tun.“ Das ist dafür schon zu lange her.
Mit hochgezogener Augenbraue sah Colin ihn trocken an. „Yakuza ist
aber richtig?“
„Ist ‘ne Weile her, aber ja.“
„Eine Weile? Bist du als Kind in den Ruhestand gegangen, ja?“
Colin lachte.
„Ich hab‘ nicht gesagt, wie lang diese Weile ist.“ Kei zog
seine Beine so an seinen Körper, dass er halbwegs gerade im
Schneidersitz saß.
„Okay, du versteckst dich also nicht hier. Du bist nur hier, um
deine Geschwister zu besuchen und dann gehst du zurück?“ Colin
zuckte mit den Schultern und wanderte weiter langsam durch den Raum.
„Nein, ich bleibe hier.“
„Wieso? Zum Englischlernen?“
„Es gab andere Probleme.“ Englisch kann ich mittlerweile...
You were my teacher, Mister.
Colin kaute ein bisschen auf seiner Unterlippe und zuckte dann wieder
mit den Schultern. Er würde nicht fragen. Das könnte zu persönlich
sein.
„Tja... also dann... wir sind friedlich, ja?“ Er bewegte sich
wieder auf das Badezimmer zu. Kei gab ein zustimmendes Geräusch von
sich. Das hier überforderte ihn mehr als nur ein wenig.
Im Laufe der folgenden Woche suchte und fand Kei seine dringend
benötigte Ablenkung in Form von Gitarrespielen, Gewalttrainings mit
Delilah und privaten Sitzungen mit Dennis. Sein Halbbruder brachte
für ihn eine Menge Licht in das Dunkel seiner Verständnislosigkeit,
was diese rätselhafte Telepathie anging. Er zeigte ihm Übungen und
beantwortete geduldig jede seiner Fragen. Scheinbar ging diese
Fähigkeit auch mit einem kleinen Hypnosetalent einher, was ihm viel
Erlebtes im Nachhinein plausibler machte. Endlich verstand er, was an
der chilenischen Grenze passiert war, warum die Beamten sie einfach
durchgelassen hatten, als er danach verlangt hatte. Nun ergab jedes
Mal Sinn, an dem ihm seine Mahlzeiten willig und blauäugig geradezu
in die Arme gelaufen waren.
Dass er einige von Colins Gedanken wahrnahm, als wären sie
ausgesprochen worden, erklärte Dennis sich mit ihrer engen
Verbindung, und er bat Kei darum, darauf zu achten, ob dieses
Phänomen nun immer noch auftrat.
Doch das tat er nicht.
Colin ging ihm aus dem Weg, und das war ihm auch ganz recht. Sagte er
sich selbst.
Delilah half ihm dabei, nicht an ihn zu denken, indem sie ihn
mehrmals täglich fachgerecht verprügelte. Er gab ihr den Gefallen
zurück. Sie war zwar spürbar erfahrener und geschickter als er,
auch stärker und schneller, doch sie hatte keinen Yukio als
Lehrmeister gehabt. Kei und seine Schwester hatten sich viel
beizubringen. Das beste an ihr war jedoch, dass sie nicht mit ihm zu
reden versuchte. Sie schaffte es, ihm nicht auf den Sack zu gehen.
Nach einer dieser fachgerechten und äußerst brutal anmutenden
Prügeleien mit Delilah und dem neuerlichen Beinahezerlegen des
Irrgartens machte Kei sich blutend auf den Weg in sein Zimmer um zu
duschen. Er trug nicht mehr als eine kurze Hose, da er sonst ständig
neue Kleider bräuchte. Kei sah übel zugerichtet aus, lief aber
herum als käme er gerade von einer Runde Joggen. Dennoch fiel ihm
auf, dass seine Blessuren der letzten paar Tage nicht in gewohnter
Geschwindigkeit verheilten. Das gab ihm gegenüber Delilah keinen
unfairen Vorteil und im Grunde machte es ihm auch nicht sonderlich
viel aus, doch es gab ihm schon zu denken. Dennis hatte dafür auch
keine Erklärung gehabt.
Als er sich schließlich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und es
schon lange dunkel und still geworden war, öffnete sich vorsichtig
seine Badezimmertür.
Auf dem Bett sitzend und die noch immer blutenden größeren Wunden
mit Pflastern beklebend - das war ungewohnt - schaute er in Richtung
der sich öffnenden Tür. Durch sie reckte sich Colins bemützter
Kopf. Als er sah, dass Kei anwesend und wach war, schlüpfte er
hinein und schloss vorsichtig und leise hinter sich die Tür. Er trug
Mantel, Schal und Schuhe.
„Wo willst du denn noch hin?“ fragte Kei und legte das
Verbandszeug beiseite. Eilig huschte Colin zum Bett und hielt sich
dabei einen Finger auf die Lippen.
„In die Stadt, du musst mich decken,“ flüsterte er.
„Muss ich? Warum?“
„Vielleicht nicht, aber wenn jemand nachfragen sollte - ich muss
außerdem kurz dein Handy sehen. Du hast doch eins?“
„Wenn du mir sagst, weshalb.“
Colin war noch näher gekommen und starrte Kei nun in der Dunkelheit
an, als ob er dadurch irgendetwas wichtiges herausfinden wollte,
bevor er noch etwas sagte. Schließlich flüsterte er: „Ich will
nur kurz draufgucken.“
Kei erwiderte den Blick bis Colin fast bei ihm war und stand
schließlich auf um dem Kleineren das Handy zu holen. Er suchte es
aus seiner Jackentasche und hielt es ihm hin.
„Du willst nicht wissen wie spät es ist, oder?“
Doch, wollte er. Genau das wollte er wissen. Und was das Display ihm
strahlend mitteilte, ließ ihn versteinert draufstarren. Kei musterte
ihn.
Weiß er etwa nicht, welches Jahr wir haben?... Dann fiel ihm
ein, dass der Kleinere glaubte, immer noch vierzehn zu sein.
Colins Schultern bewegten sich. Scheinbar atmete er schwerer. Sein
Gesichtsausdruck war nachdenklich und schwer, als er Kei langsam sein
Telefon zurückreichte. Kei nahm das Gerät an sich und legte es weg,
Colin weiter musternd. Irgendwann musste das ja passieren.
Colin sah dem Handy nach, dann blickte er ratlos auf dem Fußboden
herum.
„... Wir sind von Irren entführt worden, oder?“ flüsterte er.
„... und dich foltern sie sogar,“ fügte er mit Blick auf Kei und
seinen Zustand hinzu.
Von welchem Mal sprichst du? Kei wusste nichts darauf zu
antworten. Dass Colin sein Gedächtnis ‚verloren‘ hatte war schon
scheiße genug, aber dass er, verständlicherweise, anfing Fragen zu
stellen, die Kei nicht wahrheitsgemäß beantworten sollte -
schließlich war das Verrückte Colin offiziell nicht passiert - war
fast noch schlimmer.
„Du müsstest besser wissen als ich, ob Rupert ein Irrer ist. ...
Ich bin nicht gefoltert worden.“
Colins Blick war typisch skeptisch, als er Kei stirnrunzelnd weiter
musterte.
„... Zweitausendvierzehn,“ sagte er schließlich. Kei schaute ihn
fragend an. „Das ist das Jahr,“ erklärte Colin und zeigte auf
das Telefon auf dem Nachttisch. „Das sagt sechzehn. Die Zeitung
auch. Und das Fernsehen. Und Ruperts Kalender. Warum werde ich hier
festgehalten und belogen?“
„Wir haben 2016,“ sagte Kei ruhig und verbarg seine Überforderung
gekonnt. Du hast seine Erinnerungen nicht VERVOLLSTÄNDIGT? Du
bist tot.
„Ja. Was ist mit den letzten zwei Jahren? Wo sind die?“ fragte
Colin ruhig und streckte die Arme aus.
Das willst du nicht wissen... „Warte hier, okay?“
„Was, wo willst du – halt, warte!“ Er gab sich nun keine Mühe
mehr, leise zu sprechen und beeilte sich, Kei den Weg zur Tür zu
versperren. Kei hätte einen Satz über Colin gemacht, wenn das nötig
gewesen wäre, aber stattdessen blieb er kurz stehen.
„Ich bringe kurz meinen werten Halbbruder um und komme dann mit
Antworten zurück.“
„Deinen Halb- warte, bleib hier.“ Colin stellte sich vor die
Türklinke und lehnte sich dagegen. „Was war die letzten zwei
Jahre, was weißt du?!“
Fuck! „Es ist viel passiert, kann ich jetzt Dennis
umbringen?“
Colin wusste nicht, was er von diesem Gedanken halten und wie ernst
er diesen Ausspruch nehmen sollte, doch Keis augenblicklicher Zustand
schien ihn realistisch wirken zu lassen.
„Er gehört doch dazu,“ flüsterte er eindringlich. „Wenn du
irgendwas weißt, sag‘s mir! Bitte!“
Ich weiß mehr als ich wissen will und du mir jemals glauben
wirst. „Ich muss trotzdem mit ihm reden.“
„Rede zuerst mit mir, bitte!“ flehte Colin und so sah er auch
aus, verzweifelt und hilfesuchend. Er stemmte sich weiter gegen die
Tür.
Ich will dir nicht wehtun, zwing mich nicht. Kei nahm Colin
einfach hoch und setzte ihn neben die Tür, wobei er Blut auf Colins
Jacke hinterließ. „Gleich.“ Er sprach ruhig und öffnete die
Tür.
„Nein, bitte!“ Colin hatte keine Zeit, sich über Keis Kraft zu
wundern und langte nur zwischen ihn und die Tür um zu versuchen, sie
wieder zuzudrücken. „Ich weiß nicht, was er vorhat, bitte sag mir
was du weißt!“ Er weinte fast. „Ich weiß dass wir keine Freunde
sind und du mich nicht mal leiden kannst, aber du bist der einzige,
der mit dem Laden hier vielleicht nichts zu tun hat.“
„Dennis will dir nichts, wenn du ihm nicht glaubst, glaub
wenigstens mir.“ Ich hätte das auch gerne anders... „Ich
komm wieder, nachdem ich ihn einen Kopf kürzer gemacht habe.“ Ich
kann dich sogar sehr gut leiden. Das weißt du nur nicht...
Colin versuchte ihn beim Arm festzuhalten und wäre dabei noch nicht
einmal sehr erfolglos gewesen, doch als er damit beinahe ein Pflaster
abriss, zuckte seine Hand zurück und er vertat seine letzte winzige
Chance, Kei zurückzuhalten.
Kei juckte es nicht, wenn Colin ihm die Pflaster abreißen würde.
Sein Körper wurde etwas wärmer, während Colin bei ihm stand.
Darauf vertrauend, dass der Kleinere gleich noch auffindbar sein
würde, ging Kei zu Dennis.
„Wach auf. Es gibt ein Problem.“
Dennis hatte im Schneidersitz im geöffneten Fenster gesessen und
begab sich nun von dort herunter. Außer seiner schwarzen Armeehose
trug er keine Kleider.
„Ich hab‘s mitgekriegt,“ sagte er ruhig und ernst.
„Gut. Was mach ich jetzt? Ich kann ihm schlecht erzählen, was
passiert ist und erwähnen, dass er so hart auf den Kopf gefallen
ist, dass er Amnesie hat. Das glaubt er mir niemals.“
Dennis winkte ab, während er sich sein schwarzes Knöpfhemd von der
Stuhllehne nahm. „Ich mach das schon. Du musst nur dabeisein und
mir glaubwürdig beipflichten.“ In aller Ruhe zog er sich das Hemd
über, während er zu Kei auf den Flur schlenderte. „Er muss nur
zuhören, und dazu musst du ihn bringen. Er steigt übrigens gerade
aus dem Fenster.“
Kei war schneller bei Colin als dem lieb sein konnte und hielt ihn
fest. „Ich hab deine Antworten. Hör zu.“
Colin hing gerade unbequem mit den Armen auf dem Fensterbrett und dem
Körper herunterbaumelnd aus dem Fenster und guckte Kei betrogen an.
„Musstest du erstmal nachfragen, was du mir auftischen sollst, ja?“
fragte er patzig und etwas atemlos. Kei zog ihn mühelos an einem Arm
wieder in den Raum.
„Gegenteil,“ sagte er. „Ich wollte wissen, welche Details ich
dir ersparen sollte, weil es besser ist, dass du dich nicht dran
erinnerst.“ Kei klang so, als würde ihn das alles nicht weiter
interessieren. Er wusste, dass Colin das einfach durchschauen konnte,
wenn er denn wollte. Er vermutete, dass das aber gerade nicht der
Fall war.
In dem Moment schloss sich die Tür hinter Dennis, der ihnen am
Fenster Gesellschaft leistete, um sich auf die Fensterbank zu setzen.
Colin musterte ihn misstrauisch. Die Tatsache, dass der Mann kaum
angezogen war, ließ ihn irgendwie kaum harmlos wirken, denn sein
Körperbau war dem von Sakai ziemlich ähnlich und seine Augen
leuchteten in diesem Halbdunkel genauso seltsam wie Keisukes. Colin
kam sich gerade vage so vor, als werde er von zwei Panthern in die
Zange genommen. Mit einem Ruck nahm er seinen Arm zurück.
„Was war in den letzten zwei Jahren, warum soll ich mich nicht
erinnern?“ forderte er. „Und warum kann ich mich nicht
erinnern?“
„Weil ich einen Teil deiner Erinnerung gelöscht habe,“ sagte
Dennis simpel mit einem dezenten wegschiebenden Fingerzeig.
„Du wärst sonst gestorben,“ sagte Kei ruhig. Ich hätte dich
sonst umbringen müssen. Kei stand neben dem Fenster, ließ Colin
los und passte auf, dass der Kleinere nicht wieder versuchte, aus dem
Fenster zu springen. Er sah kurz zwischen Dennis und Colin hin und
her. Colin tat das gleiche mit den beiden Brüdern vor sich und
musterte sie abwechselnd misstrauisch.
„Wir beantworten alle deine Fragen, also schieß los,“ bot Dennis
mit entwaffnend ausgebreiteten Händen an.
„... Wie löscht man Erinnerungen?“ Colin legte den Kopf schief.
Sein Ton verriet deutlich, dass er nicht glaubte, dass das möglich
war. Dennis schmunzelte leicht.
Nach ein paar stillen Überlegesekunden zog er einen seiner
aufgeknöpften Hemdsärmel hoch und hielt Kei seinen nackten Unterarm
hin.
„Schau gut hin.“ ‚Ich brauche einen gut sichtbaren Schnitt,‘
ertönte seine Stimme gleichzeitig in Keis Kopf.
‚Kannst du haben.‘ Kei nahm ein auf dem Nachttisch
herumliegendes, eindeutig illegal großes Messer und schnitt damit
Dennis‘ Unterarm auf. Nicht allzu tief und lang, aber gut sichtbar.
Colin glotzte entgeistert, wie sich Dennis‘ weiße Haut und der
Muskel darunter mit einem leisen Glitschen öffneten und daraufhin
ein dunkler Blutschwall daraus hervorquoll, an ihm herunterlief und
auf den edlen Teppich tropfte. Dennis sah bloß ruhig zu, machte kein
Geräusch und zuckte nicht einmal. Er hob nur gelassen den Arm an
seinen Mund und leckte der Länge nach langsam darüber. Dann
streckte er seinen Arm wieder aus. Die Wunde verschwand.
„Wir sind Vampire,“ sagte er.
Kei beobachtete Colins Reaktion, während er das Messer wieder
weglegte. Der starrte weiter auf Dennis‘ nun wieder heilen Arm.
„Ein paar von uns haben telepathische Kräfte. Damit habe ich deine
Erinnerungen gelöscht.“ Colins Blick schnappte zu Kei, dann wieder
zu Dennis. „Kei und ich, Delilah und ein paar andere. Rupert
nicht.“ Dennis schien auf ungeäußerte Fragen zu antworten.
„Und Delilah hat mich nicht gefoltert. Wir haben trainiert,“
erklärte Kei die amüsante Foltervermutung, die Colin zuvor geäußert
hatte.
„... Okay...“ Noch immer konnte Colin sich nicht bewegen. „Warum
hätte ich sterben müssen? Wusste ich etwas, das ich nicht wissen
sollte?“ probierte er vorsichtig.
„Nein. Ich weiß nicht genau weshalb und, wenn du mir nicht
glaubst, ist das auch okay, aber du warst dabei dich in einen Ghul
oder sowas zu verwandeln,“ erklärte Kei ruhig. Er erwartete nicht,
dass ihm geglaubt wurde. Er zog eines der blutigen Pflaster von
seinem Arm. Das ist ja immer noch nicht ganz weg, was soll das?
Es heilte zwar weitaus schneller als bei einem Menschen, aber die
Wunde war schon einige Stunden da und immer noch gut sichtbar. Dennis
blickte kurz zur Seite auf Keis freigelegte Wunde und wandte sich
dann wieder Colin zu.
„Du hast in den zwei Jahren Erfahrungen gemacht, die kein Mensch
geistig überstehen würde. Du hast dich selbst und andere verletzt.
Du hast die Kontrolle über dich verloren und mehrmals versucht, dich
umzubringen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du hattest sogar
mehrere alternative Persönlichkeiten. Darüber weiß Kei mehr als
ich, er war die ganze Zeit mit dir zusammen. Es wurde so schlimm,
dass wir dich hätten wegsperren müssen, mit Maulkorb und
Zwangsjacke... oder wir hätten dich umbringen müssen. Ich habe Kei
die Entscheidung überlassen.“ Er nickte seitwärts zu ihm. Coins
Blick folgte ihm.
„Warum ihm?“ fragte er. Er war leise und vorsichtig.
„Weil er eine enge Beziehung zu dir hat.“
„Hat er nicht.“
Dennis zuckte wieder mit den Schultern. „Er war die zwei Jahre lang
mit dir zusammen, aber dazu kann er dir mehr sagen. Er wollte
jedenfalls nicht, dass du stirbst.“
Kei stand relativ unbeteiligt daneben. Colin wegzusperren wäre auch
keine Option gewesen. Das hätte zwar auch bedeutet, dass er
weitergelebt hätte, für Colin hätte es aber eine Art Tod bedeutet.
‚Erzähl ihm ruhig alles. Lass nur die Einzelheiten aus, die ihn
wahnsinnig gemacht haben,‘ forderte
Dennis ihn auf.
‚Das wären viele und sehr viel wird er verneinen.‘ Da war
sich Kei sicher. Colin würde ihm den ganzen Beziehungskram nicht
glauben, nicht bei dem, was er momentan von ihm wusste.
„Bin ich auch ein Vampir?“ fragte Colin plötzlich.
Dennis legte den Kopf schief. „Nein. Wie kommst du darauf?“
Kei schmunzelte ganz leicht. Wie kam Colin denn auf sowas?
Colin hielt eine Hand hoch. „Ich habe mich gestern geschnitten.
Hier.“ Er zeigte auf eine makellose Stelle über seinem Handballen.
„Das ist sofort wieder zugewachsen.“
„Nein. Du bist irgendwie untot.“
„Ich bin untot?“ quietschte Colin hilflos. Er glaubte zwar immer
noch nichts, aber diese Behauptung traf ihn doch irgendwie.
„Vielleicht auch halb lebendig. Ich weiß es nicht genau.“
Dennis winkte irritiert ab, um Kei zu bedeuten, still zu sein.
„Das kann er ruhig wissen,“ protestierte Kei. „Immerhin erklärt
das zum Beispiel sowas.“
„Sei still, ich glaube, ich hab‘s jetzt verstanden,“ unterbrach
Dennis ihn stirnrunzelnd. Kei hielt die Klappe und musterte Dennis
und Colin. „Diese Lebenslinie zwischen euch hängt von euch ab. Von
Colins Seite aus ist die Verbindung unterbrochen, darum regeneriert
sich dein Körper nicht mehr so schnell. Aber du hast immer noch
dieselbe Bindung zu ihm, die ihn heilt und am Leben erhält,“
erklärte Dennis mit konzentriertem Blick zwischen Colins Hand und
Keis Pflaster. Colin schaute nur weiter verwirrt drein.
„Was für eine Bindung bitte?“ fragte er.
Das glaubst du mir nicht... Na super. Er wusste, dass es
irgendwie an ihm lag, ihre Beziehung wieder aufzubauen.
„Dann hasst er mich wenigstens nicht,“ kommentierte Kei seinen
eigenen Zustand. Sonst würde er immer noch stark bluten.
„Wer? Was für eine Bindung soll das sein? Den eingebildeten Penner
kenne ich doch kaum,“ protestierte Colin. Endlich nahm er seine
Hand wieder herunter. Dennis senkte etwas den Kopf.
„Das tut mir Leid, Kei,“ sagte er.
„Was tut dir Leid?“ verlangte Colin.
„Das ist dein Job,“ sagte Dennis und erhob sich vom Fensterbrett.
Kei seufzte stumm. Ich weiß.
„Bis letzte Woche kanntest du mich. Sehr gut sogar. Wir waren über
zwei Jahre zusammen unterwegs.“
„Okay, und warum? Warte doch - Bleib gefälligst sitzen!“ befahl
Colin Dennis, der ihm aus purer Überraschung über seinen Ton sogar
brav Folge leistete und sich wieder an das Fensterbrett lehnte. „Ich
bin also zu einem wilden Irren geworden, wegen ‚Erfaaahrungen‘,
und was soll das bitte gewesen sein? Als ich mit dem da unterwegs
war?!“ Hierbei deutete Colin mit den Fingern Anführungszeichen an
und zeigte salopp auf Kei, ohne ihn anzusehen, sondern starrte nur
Dennis fordernd an. Der nickte.
„Naja, du bist mehrmals entführt worden...“
„Entführt?!“
„Ja.“
„Ist das alles, davon wird man doch nicht wahnsinnig.“
„Naja... Wofür werden hübsche Kinder und Jugendliche wohl
entführt?“ Dennis verschränkte die Arme und sah Colin
ausdruckslos an.
„Ich werde die Zusammenfassung nicht wiederholen. Das erste Mal
warst du sauer,“ sagte Kei. Colins Blick schnappte zu ihm.
„Ich bin jetzt sauer,“ sagte er leise. Das klang wirklich
eisig.
„Da wäre ich nie drauf gekommen,“ entgegnete Kei patzig.
„Drogenkartell. Entführung. Spinn das weiter.“
„Drog- was?!“
„Du hast mich schon verstanden.“
Nun schien Colin wirklich nachzudenken.
„Das ist auch nicht alles,“ bot Dennis an. „Aber das allein
hätte schon gereicht. Es hat bei dir jedenfalls viel Schaden
angerichtet. Der Tod deiner Eltern, alles was mit dir gemacht
wurde... Kei ist jedenfalls nicht dein Feind, es bringt also nichts,
sich gegen ihn aufzulehnen. Seinetwegen hast du überhaupt so lange
durchgehalten.“
„Irgendwann, nach noch mehr Scheiße, sind wir hier gelandet. Ich
werde dir jetzt nicht alles erzählen, was passiert ist,“ sagte
Kei.
„Warum nicht? Er will‘s doch wissen,“ sagte Dennis mit einem
Kopfnicken in Colins Richtung. Der Junge zog sich gerade
stirnrunzelnd den Schal ab. ‚Solange du ihm nicht haarklein
beschreibst, wie und wie oft er vergewaltigt wurde und wie viele
Menschen er gefressen hat. Lass den Kannibalismus am besten ganz
weg.‘
„Weil‘s lange dauert. Ich muss ihm nicht in fünf Minuten
erzählen, wie oft er von wem entführt wurde.“
„Vielleicht könntest du mit ihm das Spielzimmer besuchen,“
schlug Dennis schließlich vor und stieß sich wieder vom
Fensterbrett ab, um zu gehen.
Das Spielzimmer war eine gute Idee. „Willst du Darts spielen?“
fragte Kei. Colins Gesicht verzog sich zu einer verwirrten Grimasse.
„... Was?“
„Du fragst doch. Dann musst du mit den Antworten leben,“ sagte
Kei.
„Was hat das mit Darts zu tun?“ Doch er ließ nur den Mantel, den
er sich gerade gedankenverloren ausgezogen hatte, mit dem Schal auf
Keis Bett fallen.
„Nicht mit Darts. Nur mit Musik,“ sagte Dennis und schlenderte
zur Tür.
„Ich kann dir auch da deine Fragen beantworten. Das ist besser als
hier herumzustehen. Und da gibt‘s Musik. Kommst du mit?“
Verwirrt blinzelnd zuckte Colin mit den Schultern. Warum nicht. Diese
Nacht war schon seltsam genug, warum also nicht Darts spielen? Er
nickte und zuckte schon wieder mit den Schultern, während Dennis
verschwand. Kei ging ebenfalls hinaus und zeigte Colin den ihm nun
unbekannten Weg zum Spielzimmer.