HAVANNA
Kei fuhr nicht gerade verkehrsregelgerecht durch die Straßen, aber
das schien auf Kuba nicht wirklich erforderlich zu sein. Die
Hauptstadt war größer als er erwartet hätte, voller Menschen und
noch mehr Touristen.
„Ich denke nicht, dass man uns hier so schnell finden wird.“
Um uns ständig zu finden müssten die uns seit Japan gefolgt sein
und das glaube ich nicht...
„Nicht, solange so viele Touristen hier sind,“ stimmte Akira
hinter ihm zu. Er hatte in den letzten Tagen, in denen sie hier
heraufgefahren waren, kontinuierlich bessere Laune bekommen. Sein
einst durchgeblutetes T-shirt war ausgewaschen, der Tequila
ausgetrunken und die Zigarillos aus Santiago aufgeraucht, und sie
waren weder verfolgt noch abgefangen worden. Seine Erklärung für
das Häuten des Yakuza hatte Kei nicht nur gereicht, sie hatte ihn
scheinbar auch amüsiert.
Er hatte den Mann nämlich unkenntlicher machen wollen. Sein
Oberkörper war voller bunter Tattoos gewesen, schön einzigartig und
schön offensichtlich Yakuza, also hatte Akira Kei und sich einen
Gefallen tun wollen, indem er die Hautfetzen, die er dem Japaner
abgerissen hatte, in irgendeinen Mülleimer in einer anderen Straße
gestopft hatte. Dass Kei dann einfach offen zugab, den Mann zu kennen
und ihn gleich ohne Aufforderung mit der Yakuza in Verbindung
brachte, machte all die Arbeit zunichte, aber wenigstens hatte Kei
ihnen mit seinem mysteriösen Hypnosetalent doch noch den Arsch
gerettet.
Es war dennoch idiotisch von Kei gewesen.
„Wir haben Sommer, die werden noch lange hier sein,“ versicherte
der Vampir und sah sich um. Er kam sich vor wie auf einer Zeitreise.
„Wir sind in der Vergangenheit gelandet.“
Auf Kuba schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Die lange Reise
durch Südamerika hatte den Japaner daran gewöhnt, dass nicht alles
so sehr nach dem 21. Jahrhundert aussehen konnte wie Tokyo, aber Kuba
war wirklich eine Art Zeitblase. Sämtliche Fahrzeuge sahen alt, aber
sehr gut instandgehalten aus, und standen und fuhren wie
selbstverständlich durch die Straßen. Das Straßenbild in Santiago
war ähnlich gewesen, doch hier gab es mehr davon, mehr Menschen auf
den Straßen und mehr alte Gebäude. Es waren keine verglasten
Hochhäuser aus Stahlbeton oder glattglänzende Designerhallen zu
sehen, doch all diese altmodischen Häuser wirkten fast wie neu. Auch
die Menschen wirkten wie aus einer anderen Zeit. Männer trugen Hüte
und weite Hosen mit Hosenträgern und viele Frauen bunte Kleider mit
ausgestellten Röcken. Allein die jüngeren Menschen, die Touristen
und die Produkte in Schaufenstern und Ladenfronten ließen vermuten,
dass das 20. Jahrhundert vorbei war.
Als sie in einer weniger belebten Straße gerade an einem Kaffeehaus
oder etwas ähnlichem vorbeigefahren waren, auf dessen Veranda ein
paar alte Männer Zigarren rauchten und mit Dominosteinen spielten,
patschte Akira Kei auf die lederbekleidete Schulter, um ihm zu
bedeuten, anzuhalten. Das tat er auch.
„Hm?“ Er fuhr an den Straßenrand und hielt das Motorrad an, das
das einzige an ihnen war, das in diese Welt hineinzupassen schien.
„Hörst du das?“ Mit dem Daumen zeigte Akira zurück zu den
Männern. Hinter ihnen drangen Gitarrenmusik und Gesang aus dem mit
bunten Glühbirnen behängten Gebäude. „Da gibt‘s freie Zimmer,
steht im Fenster.“
Das war Kei im Vorbeifahren entgangen. „Dann lass uns ein paar Tage
hier bleiben. Ich will mir die Stadt ansehen.“
Begeistert lächelnd stieg Akira kurzerhand ab. Er selbst wollte auch
mehr von Havanna sehen und mindestens die John-Lennon-Skulptur
besuchen. Wo auch immer die war.
Er zog die Schlaufen seiner Taschen zurecht und ging über die Straße
zu der Taverne. Die Männer lächelten und nickten ihm freundlich zu,
als er vorbeiging und auf Spanisch grüßte.
Kei ging ihm hinterher und beließ es bei einem Nicken als Gruß als
er an den Männern vorbeikam. Hinter Akira betrat er die Taverne.
„Wir können uns ganz touristisch einen Plan mit Sehenswürdigkeiten
besorgen. Da stehen bestimmt einige interessante Orte drauf.“ Keis
in Bolivien erstandenes Handy nutzte er hauptsächlich zum Fotos
schießen, wenn sich sich das mal anbot – immerhin kamen Akira und
er häufiger an Sehenswürdigkeiten vorbei. Kaum jemand hatte die
Nummer, weil der Vampir nicht viel Wert darauf legte, gefunden zu
werden.
Akira reagierte darauf, indem er an der schmalen Empfangstheke auf
ein paar Plastikfächer zeigte, die neben ihnen an der Wand hingen.
Darin standen Stapel von Postkarten, Stadtplänen und
Veranstaltungsankündi-gungen.
Mit dem Geld des gehäuteten Yakuza bezahlte Akira 3000 Pesos für
das Zimmer für vier Tage und 100 Pesos für einen Stadtplan. Die
freundlich grinsende Dame im Blumenkleidchen erklärte ihnen auf
Englisch, dass in dem Preis auch eine Mahlzeit pro Tag inbegriffen
sei und dass alle drei Tage eine Reinemachfrau käme, wenn man wolle.
Akira nickte sein Einverständnis und nahm den Schlüssel an sich,
nachdem er Angels Unterschrift in das große Buch gesetzt hatte.
Kei ging mit ihm auf das leicht zu findende Zimmer und legte seinen
Rucksack mitsamt Schwert aufs Bett. Wie schon in Santiago war der
Raum nicht groß, und ein Bad beziehungsweise eine Dusche gab es
diesmal nicht. Sie würden sich mit den anderen Gästen ein Bad
teilen müssen, aber das war besser als gar kein Bad zu haben.
„Es wird bald dunkel. Wo gehen wir zuerst hin?“ fragte Kei beim
Ausziehen der Lederjacke.
„Egal, einfach raus. Zigarren holen,“ bestimmte Akira, indem er
seinen Rucksack auch aufs Bett warf. Er nahm seine Strickmütze ab,
um sie auszuklopfen. Nach ein paar Stunden Motorradfahrt war sie
immer voller Staub. „Und ich will mich in der Gegend umsehen.“
Kei zog sich ein sauberes Tanktop an und stopfte das dreckige Shirt
in seinen Rucksack. Eine Pistole steckte er in seine Hose und
schnürte seine Stiefel vernünftig. Beim Rausgehen nahm er seine
Jacke wieder mit. „Hier ist sicher viel los.“
Beim Hinausgehen grüßte Akira wieder die dominospielenden Alten auf
der Terrasse. Sie wiesen ihnen den Weg zu einem nahen Geschäft, das
Lebensmittel, Tabakwaren und Getränke verkaufte.
Auf dem Weg in die ihnen bedeutete Richtung kamen sie in eine
breitere, belebtere Straße. Kei sah sich beim Gehen um und merkte
sich einige Eckpunkte zum Orientieren – nur für den Fall, dass er
mal schnell abhauen musste. Vor der schmalen Wand zwischen zwei bunt
beleuchteten Cafés saß ein dünner alter Mann mit hellgrauem Bart
und kleinem Hut und spielte mit seinen knochigen braunen Fingern sehr
versiert und schnell Gitarre.
„Das mache ich morgen auch,“ kündigte Akira mit einem Kopfnicken
in seine Richtung an.
„Mach das, die Leute scheinen was für gute Musiker übrig zu
haben,“ sagte Kei mit einem Lächeln in Richtung des gut gefüllten
Hutes und der handvoll Menschen, die dem Gitarristen zuhörten. Der
Vampir hielt nach dem Laden Ausschau, von dem die älteren Männer
ihnen erzählt hatten.
Der stellte sich als rummelige Kammer voller Obstkisten heraus,
zwischen denen eine Theke und ein hohes Regal aus Glas und dunklem
Holz standen, in denen Zigarren, Tabak, Feuerzeuge, Pfeifen und
Zubehör ausgestellt waren. In einer Ecke stand auch noch ein
Kühlschrank mit Glastür, hinter der man Bier- und Brauseflaschen
sehen konnte.
Im Vorbeischlendern, während er sich umsah, nahm sich Akira eine
Limette aus einer Kiste. Er grüßte die junge Frau, die auf einem
Barhocker hinter der Theke saß, und fragte sie etwas auf Spanisch.
„Si, claro! Tenemos todo,“ antwortete sie mit einem
selbstzufriedenen Schmunzeln. In der Zeit, in der Akira durch die
Regale gegangen war, hatte Kei sich drei Schachteln Zigaretten und
eine Flasche Whisky gekauft. Am Ende hatten sie dazu noch Limetten,
Eis, Cola und Rum, die Akira in seinem umgehängten Strickbeutel
unterbrachte. Das Geld des Gehäuteten ging allmählich zur Neige. Er
hatte viel Bargeld bei sich gehabt, doch nun war nur noch eine
handvoll kleiner Scheine übrig.
Keis Geldbörse war etwas besser gefüllt als die seines Freundes,
aber auch er besaß nicht mehr so viele Scheine wie am Anfang des
Ausflugs nach Havanna. „Irgendeinen Wunsch, wohin wir als nächstes
gehen?“ fragte er Akira beim Verlassen des kleinen Geschäfts.
„Ich will zu John Lennon. Er sitzt hier irgendwo auf einer Bank
herum.“
„Ja?“ Kei stutzte ein wenig. „Weißt du, wo genau?“ Er
steckte sich eine Zigarette an und das Päckchen wieder in die
Hosentasche. Akira sah ihm zu und griff dann in genau diese Tasche.
Dabei hielt er mit der anderen Hand Keis Hosenbund fest. Die
Hosentasche war ziemlich eng.
„Keine Ahnung, ich muss jemanden fragen.“
Kei blieb stehen um Akira das Herummachen an seiner Hosentasche zu
erleichtern. „Schaffst du‘s?“ kommentierte er grinsend. Akira
schmunzelte ein bisschen und nahm zwei Zigaretten heraus, ohne die
Schachtel aus der Tasche zu ziehen. Er klappte sie zu und schob sie
wieder hinein. Eine Zigarette wanderte zu seinen Locken hinter das
rechte Ohr und die andere zwischen seine Lippen, während er dichter
an Kei herantrat. Der küsste Akira kurz und widmete sich der eigenen
Kippe zwischen den Fingern seiner rechten Hand. Mit der anderen
bugsierte er die Whiskyflasche in Akiras Stoffbeutel. Akira wartete,
bis Kei an seiner Kippe zog, bevor er sich zielsicher dorthinbeugte,
um seine an der Glut anzuzünden.
„Lass uns da lang gehen,“ schlug Kei in eine belebte Straße
deutend vor. Akira folgte seinem Blick und nickte.
Als sie die Bank mit der Skulptur gefunden hatten, stand Akira
minutenlang stumm davor und betrachtete sie mit einem milden Lächeln.
Kei tat es ihm gleich – nur, dass er sich auch die Menschen und
Gebäude ansah, die um die Skulptur herum zu sehen waren. Neben
seinem Freund stehend steckte er sich eine Zigarette an. Gedanklich
schweifte er ab. Nach Japan, Brasilien... überall mal hin, wo sie
bereits gewesen waren.
Ob die immer noch hinter uns her sind?
Kei wusste es nicht sicher, aber er war davon überzeugt, dass
irgendwer, der mit seiner Familie oder deren ominösen
Bekanntschaften und Geschäftspartnern zu tun hatte, hinter ihnen
herrannte und versuchte, sie wieder einzusammeln. Kein vernünftiger
Entführer, der seine Opfer braucht, lässt sie wieder gehen, nur
weil sie sich als tödlicher entpuppen als erwartet.
Die Nacht war jung, die Luft mild und die Menschen um sie herum
zahlreich. Es waren viele Touristen, oder Menschen die wie Touristen
aussahen, unterwegs, und Akira war bei weitem nicht der einzige, der
dem John Lennon auf der Bank Aufmerksamkeit schenkte. Viele
Smartphones und auch richtige Kameras waren auf ihn gerichtet. Akira
schien das egal zu sein, auch fielen ihm die vielen Asiaten nicht
besonders auf.
Als zwei junge Chinesen oder Taiwaner nach ihrem Foto wieder von der
Bank aufstanden, nahm Akira die Gelegenheit wahr und setzte sich
neben die Musikerfigur.
„Wenn man sich seine Familie selbst aussuchen könnte, wäre der
hier mein Vater,“ erzählte er Kei.
„Warum?“ entgegnete er und sah Akira fragend an, während er ein
Bild von der Statue und ihm machte. Akira blieb sitzen.
„Weil für ihn Liebe und Freiheit das wichtigste waren. Und
Gerechtigkeit. Er war für seine Familie da.“ Und weil er ein
Musiker und Genie gewesen war, aber das verstand sich für Akira von
selbst und bedurfte deshalb keiner gesonderten Erwähnung, fand er.
„Um ein guter Vater zu sein, müsste er diese Werte aber auch an
seine Kinder weitergeben,“ gab Kei als Kommentar ab und sah sich
die Statue genauer an.
„Das hätte er bestimmt gemacht, wenn er nicht ermordet worden
wäre.“ Nun stand Akira auf und entfernte sich etwas von der Bank.
„Das wird mir jetzt zu deprimierend.“
„Willst du weiter?“ fragte Kei.
Akira nickte und schlenderte langsam von der Bank weg.
Der Vampir ging ihm langsam nach, die Hände in den Jackentaschen.
Aus einiger Entfernung war eine lautstarke Auseinandersetzung zu
hören. Offenbar hatte jemand seine Rechnung nicht zahlen wollen.
Akira ignorierte das lärmende Gespräch und drehte sich nur kurz zu
Kei um. Er bot ihm eine Hand an, die Kei gern annahm.
„Lass uns da lang gehen, ich hab keine Lust auf Schlägereien.“
Und die damit verbundene Aufmerksamkeit... Er deutete in die
von dem Gespräch aus entgegengesetzte Richtung. Akira nickte und
ging mit.
Nur wenige Meter entfernt, hinter einer Straßenecke in einer nicht
weniger belebten Straße, war der Streit nicht mehr zu hören. Dafür
drangen aus den offenen Türen und Fenstern Musik und Gesang und die
Menschen um sie herum versorgten sie ihrerseits mit einer
Geräuschkulisse aus Gelächter und Gesprächsfetzen. Akira wandte
sich plötzlich zu Kei und blieb stehen. Etwas verdutzt blieb der
Vampir ebenfalls stehen und musterte Akira fragend. Der lächelte
leise und küsste ihn. Kei erwiderte den Kuss ebenfalls lächelnd.
Überall waren fröhliche Menschen unterwegs. Einige von ihnen
pfiffen, als sie an Akira und Kei vorbeikamen.
Ein paar der Worte, die Akira und die Halbstarken vor ihnen
wechselten, hatte Kei schon ein paarmal gehört. Die genaue
Übersetzung spielte keine Rolle, weil ihre Bedeutung sehr
offensichtlich war.
Auf ihrem Weg zurück zu ihrer Herberge waren ihnen vier oder mehr
junge Männer gefolgt. Auch das war offensichtlich gewesen. Ohne
darüber ein Wort zu verlieren, hatten sie einen kleinen Umweg in
eine enge, unbeleuchtete Straße gemacht, in der keine Tür
offenstand und es kaum Fenster zu geben schien. Außerdem endete sie
in einem hohen Maschendrahtzaun. Akira hatte längst sein Klappmesser
in der Hand, behielt es aber noch immer in der Hosentasche. Die vier,
nein, fünf jungen Männer standen nebeneinander wenige Meter vor
ihnen und versperrten ihnen effektiv den Weg hinaus aus dieser
Sackgasse. Nun sah Akira Kei an und schmunzelte etwas.
„Sie finden uns eklig,“ informierte er ihn. „Und der Hässliche
mit dem Kopftuch da ist traurig, dass sein Schwanz zu klein ist.“
Er zeigte auf besagten Bandanaträger und vollführte eine
unmissverständliche Geste mit dem kleinen Finger. Kei begann zu
lachen.
„Es kann doch nicht jeder Glück mit seinen Genen haben. Aber warum
ist das unser Problem?“ fragte er Akira. Seine rechte Hand hatte er
um das Messer in seiner Hosentasche geschlossen. Er verfolgte jede
Bewegung der jungen Männer mit den Augen.
Akira zuckte mit den Schultern. Zu mehr kam er auch nicht, denn die
Männer waren nun nah genug herangeschlendert. Einer mit
kurzen Dreadlocks griff nach seiner Schulter und bekam sie zu fassen,
während der Bandanaträger seinen anderen Oberarm zu packen
versuchte. Das misslang nur deshalb, weil Akira bereits im Begriff
war, sein Messer aus der Tasche zu ziehen und es ausklappte. Die drei
übrigen stürzten sich auf Kei.
Der verpasste dem ersten einen saftigen Tritt in die Magengrube,
sodass er wenige Meter weiter weg hart auf dem Boden aufkam. Dem
zweiten rammte er das Messer in die rechte Schulter und verdrehte ihm
dabei den Arm, während ihm Nummer drei auf den Rücken sprang.
Akiras Verteidigung verlief weniger flüssig. Er verfügte nicht über
Keis Kraft und Geschwindigkeit, und so schaffte es Bandana mit
Leichtigkeit, ihm das Messer zu entwenden, indem er und Dreadlock ihn
gemeinsam gegen die Hausmauer stießen und dort bei den Schultern
festnagelten. Bandana rammte auch noch sein Handgelenk gegen die
Ziegel, sodass sich seine Hand von selbst öffnete und das Messer
fallenließ, bevor es zu Einsatz gekommen war. Wenige Sekunden später
landete Dreadlocks Faust in seinem Gesicht. Akira hörte das
Knirschen unter seiner Haut und am Hinterkopf, bevor er den Schlag
und den Aufprall spürte, und lange bevor sich der Schmerz wie eine
kleine Sturzflut in seinem Kopf ausbreitete. Er grunzte sachte.
Kei bekam aus dem Augenwinkel mit, was die zwei Penner mit seinem
Freund machten. Er drehte sich mit seinem blinden Passagier, ließ
sich fallen und rammte ihn beim Landen in den Boden. Danach nahm er
sich der beiden an, die Akira in der Mangel hatten. Dreadlock bekam
ein Messer in den Rücken und Bandanas Gesicht wurde von Keis Schlag
mit dem Handballen beinahe zertrümmert.
„Do not do this again.“ Er hielt Akira fest, sodass der nicht
zusammensackte. „Lebst du noch?“
„Hng... so weit... kann ich... nicht behaupten...“ Akiras Kopf
rollte nach vorn und zuckte sofort wieder zurück, als seine
gebrochene Nase Keis Schulter berührte. Dabei rutschte seine
Strickmütze herunter.
„Aber auch nur das...“ Kei hob ihn hoch und ging zurück in
Richtung Unterkunft. Die Mütze fing er auf, bevor sie auf dem Boden
landete. Dort lagen nur ihre fünf Angreifer und was auch immer
gerade von der Wand abbröckelte.
Akiras Beine bewegten sich unsicher, aber selbstständig genug, dass
er nicht richtig getragen werden musste. Nur sehen konnte er nicht
gut genug, um allein zu wanken. Mit der Hand, die nicht Kei
festhielt, fing er das Blut aus seiner Nase auf. Dass er am
Hinterkopf auch blutete, bemerkte er nicht.
In ihrem Zimmer sank er dankbar auf das bunt bezogene Bett und
schloss die Augen.
Kei verbrachte die meiste Zeit der Nacht damit, neben Akira zu sitzen
und aufzupassen, dass er nicht draufging. Er ließ ihn nur kurz
allein um sich einen Mitternachtssnack zu besorgen.
Kurz nach Sonnenaufgang wachte Akira ächzend auf. Die Schmerzen
waren weg und die Verletzungen verheilt, aber sein Kopf fühlte sich
wattig an. Langsam rieb er sich das Gesicht.
Kei saß auf dem Boden neben dem Bett.
„Geht‘s dir besser?“
Akira grunzte. Er lag zusammengerollt auf der Seite. Sein Blick, als
er die Augen öffnete und glücklicherweise wieder klar sehen konnte,
fiel auf Kei.
„Ja. Danke. Bleib mein Leibwächter,“ brummte Akira schmunzelnd
und setzte sich auf. Vorsichtiger als notwendig.
Der Vampir blieb sitzen. „Muss ich, wir scheinen prügelnde Wichser
magisch anzuziehen,“ erwiderte er schmunzelnd.
„Wie gesagt, ich bin das Hirn und du die Muskeln, hehe. Bah, ich
muss mich mal waschen.“ Er kratzte am getrockneten Blut auf seinem
Kinn.
„Ja,“ stimmte Kei zu. „Du siehst grausam aus.“
Nach einer etwas längeren Pause sagte er: „Ich will nach Europa.“
Der im Aufstehen begriffene Akira sah ihn leicht verblüfft an. Dann
zuckte er mit den Schultern.
„Gerne, ich auch. Aber wie? Hier können wir uns durch die Grenzen
schmuggeln, aber glaubst du, dass dein krasses Hypnosetalent an
internationalen Flughäfen funktioniert?“ Er sah sich um, ehe ihm
langsam wieder ins Bewusstsein sickerte, dass sie hier keine
Waschmöglichkeit hatten, sondern ein Gemeinschaftsbadezimmer
benutzen mussten. Immerhin lagen auf der Kommode frische Handtücher
bereit. Davon nahm er sich eins.
„Entweder versuchen wir‘s einfach, oder wir schlachten uns durch
den Flughafen, oder wir besorgen uns Visa. Wir müssen nur in den
Flieger kommen und dann irgendwie an den Kontrollen vorbei. Das muss
machbar sein... und wenn sie uns einbuchten, brechen wir halt aus...“
Kei wusste, dass er selbst sehr schwer einzubuchten war, was Akira
für interessante Fähigkeiten bekommen hatte – außer sich aus
Versehen umbringen zu wollen – und ob er überhaupt welche
dazugewonnen hatte, wusste er nicht.
Im Augenblick schmunzelte der Junge bloß und ging zur Tür hinaus,
um das Badezimmer zu suchen.
Mit Keis Einfall war er einverstanden. Wenn das Schmuggeln nicht
funktionieren und Gewalt oder Ausbruch notwendig werden sollten,
würde Kei sich schon darum kümmern. Er hatte Erfahrung, die
körperlichen Fähigkeiten und besaß die nötige Respektlosigkeit,
um sie beide ohne Rücksicht auf Kollateralschäden überall
freizukämpfen.
Das Foto von Kei als blutverschmiertem Kind, das er vor ein paar
Tagen in Santiago verbrannt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Er
schauderte. Und das lag nicht an dem kühlen Duschwasser.
Dieses Badezimmer war geräumig und bot neben Seifen und
verschiedenen Shampoos freie Regalplätze für die Gäste. Davon
abgesehen sah es genau wie ein Privatbadezimmer aus.
Nach höchstens einer Viertelstunde war Akira mit Abtrocknen fertig
und zog sich wieder an. Er spülte die Dusche ein bisschen aus und
hängte sich das feuchte Handtuch über die Schulter, bevor er zum
Zimmer zurückging.
In der Zeit in der Akira Duschen gewesen war, hatte Kei den Inhalt
seines Rucksacks und die meisten der Kleider, die er getragen hatte,
auf dem Bett ausgebreitet. Vier T-shirts und zwei schwarze
Löcherjeans lagen zusammen mit einigen Boxershorts und Socken auf
einem Haufen. Das Schwert, zwei Pistolen und sieben Messer
verschiedener Größe lagen zusammen mit Keis Lederjacke, seinen
Armbändern und Halsketten, Kippen und Geldbeutel auf einem anderen.
Er trug ein frisches Tanktop und Jeans als Akira wieder in das Zimmer
kam.
„Inventur?“ Akira hängte das Handtuch an einen Haken, der an der
Tür klebte. Er selbst besaß ungefähr genauso viele Kleider, eine
Geige und als einzige Waffe ein Klappmesser, das er fast immer in
einer Hosentasche bei sich trug. Er nahm sich seine bunte Strickmütze
von der Kommode und klopfte sie aus Gewohnheit aus, während er sich
zum Zusehen auf eine freie Ecke des Bettes setzte. Der Anblick der
Waffen war ihm ungewohnt unheimlich.
„Nein, aber die Sachen müssen mal gewaschen werden,“ entgegnete
der Vampir. „Das können wir gut machen, bevor wir aufbrechen.“
Akira nickte. „Meine auch. Ich frage gleich nach einem Waschsalon.
Dafür reicht unsere Kohle bestimmt noch. Wie spät ist es
überhaupt?“ Er blinzelte aus dem Fenster in den Morgenhimmel.
Irgendetwas war merkwürdig. Sein abwesender Blick blieb auf dem
Blumenmuster der Gardine hängen.
„Es ist noch früh. Sechs Uhr vielleicht.“ Kei packte Waffen und
Zigaretten wieder zusammen und stopfte die Dreckwäsche in einen
Stoffbeutel, den er irgendwo gefunden hatte, nachdem er Akira
zurückgebracht und selbst geduscht hatte.
Gedankenverloren sah Akira ihm dabei zu. Er legte sich neben den
Waffenhaufen und befingerte fasziniert eine der Pistolen.
„Lass uns losgehen,“ sagte Kei, der die Waffen wieder
zusammenpackte und nacheinander in den Rucksack steckte. Die silberne
Pistole ließ er Akira zum Befummeln. Er schulterte die Wäschetasche.
In der Tat gab es in nicht allzu großer Entfernung einen Waschsalon.
Akira hatte unterwegs noch seine eigene Wäsche in Keis Tasche
gestopft und seine Geige mitgenommen. Vor dem Salon wurden gerade,
als sie ankamen, Klappstühle aufgestellt und eine alte Frau mit
Blumenkittel saß bereits neben der Tür. Sie lächelte und nickte,
als Akira sie auf Spanisch fragte, ob er ein bisschen spielen dürfe.
Währenddessen verfrachtete Kei die Wäsche in zwei Maschinen, ein
bisschen Trennen musste sein, dafür reichte das Geld allemal und der
Vampir mochte seine Kleidung sauber. Als er damit fertig war, kam er
zu Akira zurück.
„Bleiben wir hier, bis das fertig ist?“
Akira saß auf einem der Klappstühle und war mit Stimmen
beschäftigt. Er sah zu Kei auf und nickte.
„Ich bleibe hier.“ Er musste unbedingt spielen. Er hatte das
Gefühl, dass er die Orientierung in der Realität verlieren würde,
wenn er sich jetzt nicht auf die eine Sache konzentrierte, die von
seiner Identität übriggeblieben war. Aber warum ihm das erst jetzt,
zwei Jahre nachdem dieser ganze Wahnsinn in Japan seinen Anfang
genommen hatte, passierte, konnte er sich nicht vorstellen. Er riss
ein loses Haar aus dem Bogen und stimmte dann weiter.
„Gut. Ich komme in einer Stunde wieder hierhin.“ Kei schloss
seine Jacke ganz und wandte sich zum Gehen. Akira blickte wieder auf.
Plötzlich tat ihm irgendetwas Leid. Er wusste nicht, was.
„Ich l- bis gleich,“ sagte er leise und widmete sich wieder
seinem Instrument.
„Bis gleich.“ Der Vampir zog sich die Kapuze über und verschwand
in einer kleinen Seitengasse, durch die er schlenderte. Es war eine
Sackgasse. Mit etwas Anlauf sprang er an das obere Ende der Mauer,
die das Straßenende markierte, und schwang sich darüber. Auf der
anderen Seite waren kaum Leute unterwegs, weshalb der Japaner trotz
der sportlichen Einlage unbemerkt blieb.
Eine Frau Mitte Zwanzig schaute sich auf der Straße nach Leuten um.
Sie hatte kaum etwas an und schien nach jemandem zu suchen.
„Who are you looking for?“ fragte Kei ruhig.
Lange würde sie nicht mehr suchen. Da konnte er auch mal so tun, als
wäre er hilfsbereit.
Vor dem Waschsalon unterhielt Akira unterdessen die Betreiberin, die
Passanten und die wenigen Kunden, die so früh schon unterwegs waren,
mit ein paar leichten Melodien. Für sich selbst wollte er nur
hirnlos dahinimprovisieren, und so achtete er nicht auf seine
Umgebung und gab Versatzstücke aus Volks- und Kinderliedern mit
einigen improvisierten Takten zum Besten.
Währenddessen erleichterte Kei die Frau um Blut und Geld. Sie hatte
erstaunlich viel Bares dabei.
Hat wohl die ganze Nacht gearbeitet... Er schlenderte den Weg
langsam wieder zurück, nachdem er die Leiche in eine Gasse gelegt
hatte – vorsichtig natürlich, ohne Spuren zu hinterlassen.
Abgesehen von der Leiche selbst.
Akira hatte ein kleines Publikum angezogen. Vier Menschen, die
scheinbar keine Kunden des Waschsalons waren, hatten sich zu ihm und
der lächelnden Betreiberin gesellt. Drei hielten Kaffeetassen in den
Händen und unterhielten sich ruhig.
Kei hatte die Hände in den Taschen der offenen Jacke. Da er nur ein
Tanktop trug, konnte man erahnen, dass sein großes Tattoo noch ein
wenig größer und bunter geworden war. Vom Geishabild ausgehend
erstreckte sich seit Brasilien ein dekorativ verzerrter
grau-schwarzer Fratzenschädel über seinen rechten Oberarm.
„Hey,“ grüßte er.
Die Herumsitzenden grüßten teilweise zurück. Die lächelnde Dame
nickte freundlich. Akira hatte ihn wahrgenommen, beendete aber noch
seine Melodie in aller Ruhe, ehe er die Violine sinken ließ.
„Ich glaube, irgendein Zuhälter bekommt heute kein Geld,“
informierte er Akira. Er ließ sich neben dem Kleineren auf einen
freien Stuhl fallen. Akira bedachte Kei von oben bis unten mit einem
prüfenden Blick.
„Kein großer Unterschied,“ sagte er schmunzeld.
„Wie meinen?“ entgegnete Kei mit fragendem Blick.
„Wärst du etwas älter und bulliger, könnte man dich auch sofort
für einen Zuhälter halten,“ erläuterte Akira gelassen. Er kam
sich vor, als bewege er sich gerade auf extrem dünnes Eis, mit jedem
geäußerten Wort.
Aber das machte ihm nichts aus. Wenn Kei sich angegriffen fühlen
sollte, würde er das schon zuverlässig an Akira auslassen. Ihm
wurde nun bewusst, dass er sich wieder ein bisschen vor Kei
fürchtete.
„Ich komm‘ leichter an Geld. Ich muss mich nicht mit Drecksarbeit
rumschlagen,“ entgegnete der gelassen.
„Genau das machen Pimps. Die Nutten machen die Drecksarbeit und die
Zuhälter kommen leicht an das Geld.“ Akira klang gutgelaunt.
„Ich zwinge sie nicht, die Drecksarbeit zu machen. Ich nehme nur
das Geld. Das ist moralisch vertretbarer.“ Kei hatte ein Problem
mit Sexarbeit. Den Arbeitern ihr Geld zu stehlen oder sie umzubringen
– oder beides – war seiner Meinung nach anständiger.
Akiras Lächeln wurde noch dünner. Ohne sich bewusst dazu zu
entschließen, stand er halb auf und beugte sich zu Kei, um ihn zu
küssen. Der erwiderte den Kuss, hielt ihn aber nicht allzu lange
aufrecht.
„Hast du ein Wunschziel, wo es in Europa als erstes hingehen soll?“
Nach Hause. „Großbritannien
wäre nett,“ schlug Akira zaghaft vor. Er versuchte, die Blicke und
Kommentare der Umsitzenden zu ignorieren.
Das konnte ein Problem werden. Der Flughafen in London war sicher
riesig. Und schwer bewacht.
„Ist gut. Ist sicher schön da.“
Akira nickte. Er hatte Heimweh. Ganz klassisch, genau wie vor sechs,
sieben Jahren, als er noch neu in Japan gewesen war.
„Da werden wir auch bestimmt nicht ständig von Japanern verfolgt,“
sage Colin leise.
„Vielleicht verfolgen uns da Engländer,“ mutmaßte Kei. Er war
sicher, dass wer auch immer hinter ihnen her war, international
organisiert sein musste. Vampire gab es nicht allzu viele. Dass man
sich da über Grenzen hinaus zusammenschloss, erschien ihm sehr
logisch.
„Wir gehen in die weitesten Weiten der einsamsten Gegend von
Schottland. Dahin wagt sich kein Engländer,“ beschloss Colin. Er
wartete nicht auf eine Entgegnung, sondern setzte sich nur ernst die
Geige auf die Schulter und stand auf, um weiterzuspielen.
Kei erwiderte nichts darauf. Er war kein besonders großer Freund von
einsamen, weiten Gegenden, aber er hatte ein sehr, sehr langes Leben.
Es konnte ihm egal sein, wo er Teile davon verbrachte.
Colin, auf der anderen Seite, hatte sein Wankelmut wieder einmal in
einen Zustand versetzt, in dem er nur Ruhe und Frieden wollte,
möglichst allein und unbehelligt von den Bildern aus Japan und
Bolivien. Von seiner Erinnerung.
Er spielte nun etwas klassisches, leicht aber ernst und langsam, und
schien minutenlang für nichts anderes Aufmerksamkeit übrig zu
haben.
Kei war das sehr recht. Er saß auf dem Boden und ging in Gedanken
all die Stationen ihrer Reise noch einmal durch. Jahrelang waren sie
unterwegs gewesen. Dafür an erstaunlich wenigen Orten. Erlebt hatten
sie umso mehr. Außer in Brasilien waren sie nie wirklich zur Ruhe
gekommen, seit sie Japan verlassen hatten. Der Vampir mochte keine
Ruhe. Für ihn war es in Ordnung, kein geregeltes Leben zu haben. Er
kannte es nicht anders.
Nach etwa fünf Minuten, in denen Colin sich kaum bewegt hatte,
endete sein barockes Stück mit einer langen, sanften Note und er
öffnete endlich wieder die Augen. Sein Blick zu Kei wurde plötzlich
von einer jungen, weiblichen Stimme abgelenkt.
„You‘re Angel!“ sagte sie erstaunt und atemlos. Es war eine der
Umsitzenden, derer es nun noch ein paar mehr gab. Sie hielt eine
Getränkedose und einen Kaffeebecher aus Porzellan in den Händen.
Ihre Begleiterin, ebenfalls so zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt,
tat es ihr gleich und staunte groß.
„Yeees, you are...!“ Sie besaß sogar die geistesabwesende Stirn,
mit einem Finger auf Colin zu zeigen. Der blickte sie nur stumpf an
und dann auf den Finger. Seit sie Bolivien verlassen hatten, war er
nicht mehr erkannt worden, jedenfalls nicht so. Das war nun etwa ein
Jahr her. Er hatte nicht mehr damit gerechnet.
Kei blickte gelangweilt auf, den beiden Frauen ins Gesicht, dann zu
Colin. „Du hast Fans.“
Ja, hast du'n Problem damit? Entschlossen
sah Colin die Frauen an und nickte.
„Are you from Bolivia?“ Sie
waren beide ein wenig gebräunt und hatten dicke, schwarze Haare,
also hätten sie Colins Einschätzung nach überallher aus Südamerika
kommen können. Tatsächlich nickte eine.
„I am, but we live in California now. Tia here is from Puerto Rico.
I introduced her to you and now she‘s a fan.“
„Can I take a picture with you?“ fragte Tia und hielt bereits ihr
Smartphone hoch.
„Please don‘t,“ sagte Colin hastig. Wahrscheinlich wirkte er
gerade sehr schreckhaft. „I‘m trying to... lay low. Really low.“
Und er hatte geglaubt, dass ihm das bisher gelungen war. Von seiner
Angelpersona hatte er sich mit seinem Weißer-Kiffer-Auftreten
jedenfalls stark entfernt, sowohl mental als auch äußerlich.
Kei verfolgte die Szene nicht. Seine Aufmerksamkeit war zu einem
Straßenmusiker gewechselt, der sich in einiger Entfernung
niedergelassen hatte und nun anfing Gitarre zu spielen.
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