In ihrem Zimmer angekommen kramte Kei nach frischen Kleidungs-stücken.
Er fand eine nicht gelöcherte, leicht enge schwarze Jeans und ein
dunkelgraues T-shirt. Zusammen mit frischen Boxershorts zog er beides
an. Um den Hals trug er seine Plektrumkette und die alte Yenmünze.
Beides nahm er nur sehr selten ab.
Colin fand im Schrank auch Socken, eine schwarze Jeans, ein
schwarz-weißes Sex Pistols-T-shirt und Boxershorts für sich. Als er
seine Haare aus dem Kragen des T-shirts zog, fühlte er darüber und
wollte gleich in einen Spiegel sehen.
"Ich brauche einen Kamm. Oder stehen mir Dreadlocks?" Er
schmunzelte dünn.
"Nimm den Kamm." Kei schmunzelte und suchte sich noch ein
Paar Socken. Seine Haare ließ er nass und wirr von seinem Kopf
hängen. Erst nach dem Anziehen fiel ihm auf, dass das T-shirt, das
er trug, mit dem Logo der japanischen Band 'X' bedruckt war.
"Schau mal, Heimat zum Anziehen."
Colin lächelte matt. "Wem gehören die Kleider?"
"Keine Ahnung. Jetzt uns schätze ich." Kei zuckte mit den
Schultern.
Nach einem zufriedenen Blick auf die beiden Anhänger, die vor Kei
baumelten, öffnete Colin die Tür.
"Na endlich," rief Dennis vom Küchentisch aus. Vor ihm lag
eine ausgebreitete Zeitung. Frau Quan saß auch am Tisch und hielt
eine dampfende Tasse fest, während sie auf eine Zeitungsseite
guckte. An der Küchenzeile neben dem Herd lehnte Delilah.
"Man wird ja wohl noch duschen dürfen," kommentierte Kei
Dennis' Ausruf und setzte sich an den Tisch. Colin musterte alle
Anwesenden vorsichtig und setzte sich zögerlich dazu, neben Kei.
Dennis musterte ihn mit seinem gütigen, offenen Blick, Frau Quan
lächelte fürsorglich und stand auf, und Delilah starrte Colin
unverhohlen an. Sie hörte auch nicht damit auf, als sie ihren
Kaffeebecher hob und daraus trank. Kei wendete sich dem Frühstück
zu und ließ seine Verwandten unbeachtet. Er verhalf sich zu einer
Tasse Kaffee. Irgendwann ging ein fragender Blick von ihm zu Delilah.
Frau Quan quakte ein bisschen in ihrer fremden Sprache, aber viel
sanfter und netter als Kei sie bisher gehört hatte, und schien Colin
damit sein Frühstück anzubieten. Der riss seinen Blick von Delilah
los, um zu nicken und den Kopf zu schütteln, sodass nach dieser
ziemlich einseitig scheinenden Verständigung schließlich eine Tasse
Tee, Milch, Toast, Butter und Orangenmarmelade vor Colin standen.
"Thanks," murmelte er leise, fast unhörbar, aber Frau Quan
schien das wahrgenommen zu haben, als sie sich lieb lächelnd wieder
setzte.
Delilah traf Keis Blick mit ihrem ausdruckslosen, dann sagte sie
etwas mit einer Hand. Kei schaute zu Dennis.
"Übersetzung bitte." Der Vampir war leicht genervt davon,
dass Delilah nicht sprechen konnte, aber das konnte er nicht ändern.
Dennis sah zu Delilah, mit skeptisch hochgezogener Augenbraue, und
sie hob ihre eigenen und nickte streng.
"... War es das wert..." grummelte Dennis verlegen und
kratzte sich am Kopf. Es war ihm offenbar unwohl bei der Äußerung.
Colin sah vom Milch- und Zuckereinrühren in seinen Tee zu Dennis
auf, dann zu Delilah, die Kei weiter ungerührt ansah.
"War was was wert?" Kei mochte keine Rätsel. Er wollte
ganze Aussagen, keine nicht mal halben.
Dennis atmete angespannt ein und kniff die Lippen zusammen, als er zu
Delilah blickte, die ihre Tasse hinter sich gestellt hatte, um mit
beiden Händen zu sprechen. Nun war ihr Gesicht nicht mehr so
ausdruckslos, sondern sah beinahe vorwurfsvoll aus.
"Er dort, ihn im Badezim- nein, das übersetze ich nicht."
Delilah sah Dennis streng an und schlug neben sich auf die
Arbeitsfläche.
"... dafür haben wir unser Leben aufs Spiel gesetzt und unsere
Anonymität aufgegeben - Ist der da ein so guter - Das übersetze ich
nicht!" Dennis wandte sich wieder seiner Zeitung zu,
während Delilah ihn wütend anstarrte.
"Red weiter. Ich will's wissen," sagte Kei völlig
unaufgeregt. Delilah nahm einen scheinbar wütenden Schluck Kaffee.
Dennis sah vorsichtig zu Frau Quan, als ob er damit sichergehen
wollte, dass sie wirklich kein Japanisch konnte, ehe er antwortete.
"... Ist er ein so guter Fick..." Er räusperte sich
verlegen und guckte dann furchtbar beschäftigt in seine Zeitung.
Delilah blickte herausfordernd zu Kei.
Colin spuckte seinen Tee zurück in die Tasse.
Kei fing an zu lachen. Er guckte Delilah mit hochgezogenen
Augenbrauen an.
"Das müsstest du wissen, wenn du zugehört hast,"
entgegnete er. Dennis musste auch lachen. Colin sah amüsiert
lächelnd zu Kei und dann zu Delilah. Die schaute verdutzt und musste
dann ebenfalls schmunzeln.
Sie sagte etwas.
"Das war abgrundtief dämlich," übersetzte Dennis lachend.
"Was war abgrundtief dämlich?" fragte Kei, seinen Kaffee
trinkend.
"Die Rettungsaktion. Zu gefährlich. Zu riskant," sagte
Dennis.
"Ist dabei jemand..." meldete Colin sich leise zu Wort, und
Dennis verstummte, um ihn anzusehen. "... ist dabei jemand
gestorben? Oder verletzt worden?" Colin saß verkrampft da und
sah Delilah vorsichtig an. Sie verneinte mit einem langsamen
Kopfschütteln.
"Also... ich bin froh, dass ihr's gemacht habt," sagte
Colin seinem Marmeladentoast.
Betretene Stille.
"Danke."
"Wäre sie ungefährlich gewesen, wäre ich nicht daran
beteiligt gewesen," meldete Kei gelassen. Ich auch. Allein
hätte ich das niemals geschafft.
Colin sah ihn an. Ernsthaft? Musst du jetzt einen auf Macho
machen?
Dennis schmunzelte belustigt.
"Gern geschehen," sagte er.
Delilah stellte ihre Tasse wieder ab und ging forsch auf Colin zu.
Kei schmunzelte leicht und widmete sich seinem Essen. Colin sah zu
Delilah auf, vorsichtig überrascht. Sie streckte eine Hand aus.
Zögerlich ergriff Colin sie. Sie nickte.
In ihrem Gesicht war noch der Ansatz eines freundlichen Lächelns zu
erkennen. Colin konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, genau so
etwas schon einmal gesehen zu haben.
Kei leerte seine Tasse.
Als sie seine Hand losließ, blickte Colin von Delilah zu Dennis, und
dann zu Kei. Die drei weiter reihum musternd, begann er damit, sein
Marmeladenbrot zu essen. Kei betrachtete die Szene essend. Er hatte
ganz vergessen, dass Blut, Zigaretten, Colin und Alkohol nicht das
einzige auf der Welt waren, das schmeckte. Auf Colins Blick hin
zuckte er mit den Schultern. Delilah war ihm ein Rätsel.
"Ihr seht alle gleich aus," sagte Colin plötzlich.
Dennis blickte auf. Colin erschrak.
"Äh. Ich meine-"
"Wir sind alle verwandt," merkte Kei an.
Colin nickte.
"Die zwei haben den gleichen Vater wie ich," erläuterte
Kei, um letzte Verwirrung aus dem Weg zu räumen.
Colin nickte wieder. Und musste grinsen.
"Was?" Kei blickte ihn fragend an.
Dennis sah ihn an und grinste auch, sah dann aber schnell wieder auf
die Zeitung. Delilah stellte ihre Tasse in die Spüle und ging
einfach aus der Küche. Frau Quan blätterte gemütlich um und schien
sich um nichts um sie herum zu scheren. Colin schüttelte den Kopf,
musste sich aber zurückhalten, um nicht noch ein Geräusch zu machen
und womöglich gar zu kichern.
Kei beschloss, dass es sinnlos war, weiter zu fragen und aß seinen
Teller leer. Colins Gedanken waren sicher interessant.
Sie waren ein paar Jahre zurückgeschweift, als Kei ihm erzählt
hatte, dass er keine Familie hatte, oder jedenfalls keine von der er
wusste. Seitdem waren sie seinem Vater, seiner Tante und ihren zwei
Kindern, und jetzt noch zwei Geschwistern begegnet.
Für Kei war diese ganze familiäre Situation, wenn man es denn so
nennen konnte, sehr ungewohnt. Er hatte wirklich geglaubt, keine
Geschwister oder Verwandten mehr zu haben - die Tatsache, dass er
allein lebte, obwohl er minderjährig war, hatte seine Theorie
unterstützt. Sein Leben kannte keine Ordnung, also blieb einfach
fast nichts, wie es mal war.
"Wem gehören die Kleider?" fragte Colin schließlich, als
die vorzügliche Toastscheibe verschmaust war.
"Wie viele Geschwister habe ich eigentlich? Ich bezweifle, dass
es nur euch und die Plagen von meinem lieblichen Tantchen gibt."
Dennis rieb sich nachdenklich das Kinn.
"Hm. Weiß ich auch nicht. Deine Mutter hatte keine anderen
Kinder, das weiß ich. Aber was Kira so getrieben hat... ich kenne
auch nur dich, Delilah und Misato. Das heißt aber nicht viel."
Kei vermutete, dass nicht alle seine vielleicht existierenden
Verwandten ihm so freundlich gesonnen waren, wie diese beiden. Er war
so frei, sich weiterhin als Einzelkind zu betrachten.
"Er wird jedenfalls nicht noch mehr zeugen."
"Danke nochmal dafür. Applaus," sagte Dennis leichtherzig.
"Das sind übrigens meine Kleider. Gewesen." Er nickte zu
Colin, der daraufhin an sich hinuntersah. Kei musterte seinen Freund,
dann Dennis.
"Du hattest einen guten Musikgeschmack."
"Hatte?" Dennis hob die Augenbrauen. Kei lachte darauf
einfach nur. Colin grinste.
"Später kommt noch die richtige Nahrung," sagte Dennis
ruhig. Kei nickte knapp.
"Wie geht's jetzt eigentlich weiter?" wollte er wissen.
Ewig konnten sie schließlich nicht hierbleiben.
"Wir müssen hier noch ein bisschen ausharren, bis wir sicher
sein können, dass wir unentdeckt geblieben sind. Dann können wir
ins Schloss zurück."
Frau Quan faltete ihre Zeitung zusammen und stand auf. Nach einer
weiteren stummen Konversation mit Colin gab sie ihm mütterlich
lächelnd noch zwei Scheiben Toast, die er gleich großzügig
einzubuttern begann.
"Gut, soweit war ich auch, aber was machen wir dann?"
"Dann geht der Kampf weiter. Hoffentlich mit dir."
"Hm." Kei fragte sich, wie lange das wohl so gehen würde,
aber gegen Straßenschlachten mit Vampiren hatte er nichts
einzuwenden. Der Körper des Vampirs wollte Blut statt Toast. Den
Hunger befriedigte Kei sonst mit Zigaretten, das half ein wenig.
Dennis musterte ihn gespannt. Keis Reaktion schien ihn zu freuen.
Dann wandte er sich Colin zu.
"Gleich kommt ein Arzt für dich," sagte er mit einer Hand
am Kinn, Colin vorsichtig musternd. Colin hielt mit dem
Marmeladentoast im Gesicht inne, biss dann ab und nickte.
Frau Quan räumte klappernd um den Herd herum auf.
Kei drückte den Stummel seiner Kippe aus und wandte sich Colin zu.
Musterte ihn und dann Dennis. Ich find nicht, dass er einen Arzt
braucht, aber gut... Er nahm sich noch ein Brot und beschmierte
es mit Mett. Essen brachte nichts, schmeckte aber.
Dennis las gemächlich weiter seine Zeitung, während Frau Quan
aufräumte und saubermachte und Colin und Kei aßen.
Nach etwas über zehn Minuten klingelte es an der Tür. Dennis stand
auf und ging aus der Küche. Colin hatte den Rest seines Tees
ausgetrunken und sah angespannt zur Küchentür. Frau Quan schien
sich nicht darum zu kümmern.
Aus dem Flur kamen Männerstimmen. Kei drehte sich in Richtung der
Stimmen. Eine Gefahr konnten die Männer nicht sein, da keiner sich
groß zu kümmern schien.
"Kei, Frühstück," meldete Dennis von nebenan, aus dem
Wohnzimmer, wo allgemeines Rascheln andeutete, dass sich mehrere
Personen versammelten und niederließen. Der Japaner stand auf und
ging nach kurzer nonverbaler Verabschiedung von Colin in den Raum,
aus dem Dennis' Stimme kam. Das wurde auch langsam Zeit, seine letzte
richtige Mahlzeit lag bestimmt drei Tage zurück.
Im gutbürgerlich eingerichteten Wohnzimmer saßen zwei Männer in
grauen Overalls auf den Sesseln und ein dritter, ebenfalls in
Handwerkermontur, stand vor dem Kamin. Sie sahen zu Kei und grüßten
ihn.
"These are Jimmy, Tom and Dave," stellte Dennis vor, indem
er nacheinander auf jeden zeigte. Jimmy, der Stehende, schien der
älteste von ihnen zu sein, um die vierzig vielleicht, und die
anderen beiden schienen etwa zehn Jahre jünger zu sein. "This
is Kei, my brother."
Die Männer nickten, aber nur Dave sagte knapp: "Hello."
Er und Tom krempelten ihre Ärmel hoch und legten ihre Arme auf die
Armlehnen ihrer Sessel.
"They're allies, and they've agreed to this," erklärte
Dennis.
"It seems that we have a lot of allies," kommentierte Kei,
der sich ein umbringbares Frühstück erhofft hatte. Das behielt er
jedoch lieber für sich. Hauptsache Blut. Töten war zweitrangig,
zumindest heute. Dafür schrien seine Eingeweide einfach zu laut nach
Nahrung.
Während Dennis sich vor den rothaarigen Tom kniete und dessen
Unterarm nahm, erschien Colin in der Tür. Stumm ging er langsam zum
Klavier in der Ecke, setzte sich dort auf den Hocker und sah zu. Kei
bediente sich an Daves Unterarm. Er bekam Colins Eintreten zwar mit,
war aber völlig mit seinem Tun beschäftigt. Frisches Blut. Er
musste nur darauf achten, den Mann nicht umzubringen. Sich zu
benehmen war so anstrengend!
Dennis trank von Tom, gemächlich und genüsslich, während der
seinen Kopf auf die Lehne zurücklegte und die Augen schloss. Dave
tat das gleiche. Kei trank etwa einen halben Liter Blut von ihm bevor
er mit zufriedenem Blick von dem Mann abließ. Colins Blut war
besser, aber dem konnte er nicht ständig welches abnehmen.
Als Dennis fertig war, leckte er sorgfältig über die Wunde in Toms
Arm und sah zu, wie sie sofort zu bluten aufhörte. Tom und Dave
atmeten beide auf. Kei war so freundlich, Daves Wunde ebenfalls zu
schließen. Erst dann sah er in Richtung Colin. Mit leichtem Lächeln
auf dem Gesicht. Colin lächelte ein bisschen zurück.
Dennis erhob sich und bedankte sich. Jimmy brummte und ging in die
Küche, aus der er beinahe sofort wieder heraustrat, mit einem
Tablett voller Essen und Getränke für Tom und Dave.
Kei stand auf und schlenderte zu Colin, küsste ihn. Etwas schüchtern
erwiderte Colin den Kuss.
Die anderen, außer Dennis, sahen ihnen kurz zu, bis das Essen
zwischen ihnen auf dem kleinen Beistelltisch stand. Kei ließ sich
von ihnen nicht stören, doch Colin zog bald den Kopf zurück und
drückte gegen Keis Schulter. Es schien ihm nicht richtig, diesen
fremden Männern hier jetzt diese Vorstellung zu geben. Grinsend ließ
Kei von ihm ab.
Verlegen schob Colin sich die verfilzten Strähnen hinter die Ohren
und stand auf.
"Nice to meet you," sagte er leise zu den Männern und
schob sich peinlich berührt an Kei vorbei. Die Männer sahen ihn nur
an und nickten, teils lächelnd. Dennis schmunzelte etwas.
Kei lehnte sich an das Klavier. "Habt ihr noch mehr
Instrumente?" Er richtete das Wort an Dennis.
"Nicht hier," antwortete der.
Colin schlich in die Küche zurück, wo er Frau Quan beim Aufräumen
half.
Schade... "Hm..." Kei brauchte Ablenkung. "Kann
man hier rausgehen?" Er wollte das wissen, bevor es wieder eine
Prügelei gab. Er wollte sich bewegen und irgendetwas zu tun haben.
Abwarten bekam ihm nicht.
Dennis legte wieder einmal seine Hand aufs Kinn und betrachtete Kei
zum gefühlten hundertsten Mal nachdenklich, bevor er den Mund
aufmachte.
"Verkleidet... ja. Aber nicht mit Colin," sagte er
schließlich.
Kei fragte sich, was verkleidet heißen sollte. Nur ohne Colin nach
draußen zu dürfen war auch beschissen. Es war fast egal, was er
anzog. Die Leute, die sie suchten würden doch bei jedem männlichen,
schlanken Japaner misstrauisch werden und ihn verfolgen. Vermeiden
unter Leute zu gehen war die einzige Option, die er hatte.
Als Dave und Tom mit dem Essen fertig waren und auch ihre Gläser
geleert hatten, standen sie allmählich auf.
Dennis bedankte sich noch einmal und verabschiedete die drei mit
einem Händedruck, während sie sich ihre Jacken anzogen und wieder
gingen. Sie nahmen dabei zwei Werkzeugkoffer mit, die sie anscheinend
mitgebracht und in die Tür gestellt hatten.
Kei verließ ebenfalls den Raum und ging in das Zimmer, das er sich
mit Colin teilte, setzte sich auf das Fensterbrett und schaute nach
draußen.
Die Straße unter dem Fenster blieb relativ unbelebt. Ab und zu fuhr
ein Auto vorbei und einzelne Personen gingen mit angeleinten Hunden
oder allein, meist auf ihre Smartphones glotzend, auf dem Bürgersteig
entlang.
Colin kam nicht herauf.
Kei fragte sich, ob es auffiele, wenn er aus dem Fenster springen und
sich eine Weile die Beine vertreten würde. Vermutlich nicht. Ob
diese Typen die Gegend absuchten?
Irgendwann drang von unten Musik gedämpft in das Zimmer herauf.
Kei lauschte der Musik.
Es klang nach wirklich altem Rock'n'Roll.
Der Vampir öffnete das Fenster und schloß die Augen. Eine Gitarre
wäre auch gut, aber die gab es hier auch nicht.
Nach einer ganzen Weile klingelte es wieder an der Tür.
Kei schaute auf, bewegte sich aber nicht. Zum Türöffnen waren noch
genug andere Leute da.
Kurz darauf näherten sich Schritte der Tür, und Colin öffnete sie.
Hinter ihm stand Rupert mit zwei Taschen in den Händen.
"Hello there," sagte er zu Kei.
"Ohayo," erwiderte Kei und musterte die beiden.
"I'm glad this worked out well," sagte Rupert und stellte
seine Taschen auf dem Bett ab, während Colin die Tür schloss. Er
wirkte so ruhig und verschlossen wie den ganzen Morgen schon, als er
sich stumm auf die Bettkante setzte.
"Was is los?" Kei schaute Colin fragend an.
"Das ist der Arzt," sagte Colin. "Er heißt Rupert
Ingram." Er sah zurück zu Rupert, der sich den einen Stuhl im
Raum heranzog und milde lächelte.
"Ah. Heilen deine Verletzungen nicht eh schnell von allein?"
"Ja. Er will sehen, ob sie etwas hinterlassen haben."
Rupert öffnete seine Taschen und zog ein Stethoskop aus einer, das
er sich gleich um den Hals hängte.
"Please take your shirt off."
Kei gab ein 'Aha'-Geräusch von sich und sah dem Prozedere gelassen
zu.
Schließlich saß Colin nur noch in Boxershorts da und wurde
minutenlang am ganzen Körper von Rupert abgehört und befühlt, zum
Schluss auch im Stehen, während Rupert die ganze Zeit sehr ernst und
konzentriert dreinblickte.
Kei betrachtete seinen Freund.
Colin sah blass und unverletzt aus wie immer. Er wirkte sehr gelassen
und ruhig, hob bereitwillig Arme und Beine, sah dabei zu, wie Rupert
nach irgendetwas zu tasten schien, und senkte auch brav den Kopf, als
er seinen Nacken befühlen wollte. An seinem Hinterkopf brauchte
Rupert etwas länger und tastete sorgfältig und langsam zwischen
Colins verknoteten Haaren herum.
Kei sah ihm dabei zu.
"I have to look in here," sagte Rupert, "Turn around."
Er kramte einen Rasierer aus seiner Tasche und suchte nach einer
Steckdose.
Colin sah ihm zu, mit etwas geweiteterem Blick, und setzte sich im
Schneidersitz mit dem Rücken zu ihm hin.
Kei sah weiterhin skeptisch zu.
Ohne sich um eine Unterlage für die Haare zu kümmern, setzte Rupert
ein paar große Klingen auf den Apparat, den er dann neben dem Bett
statt der Nachttischlampe in die Wand einstöpstelte, und legte eine
Hand auf Colins Hinterkopf.
"Down. And don't move."
Colin warf Kei noch einen unsicheren Blick zu, ehe er den Kopf senkte
und Rupert ihm den Kopf zu scheren begann.
Kei sah verwirrt drein. "Why do you cut his hair off?"
"There's something in the back of his head," sagte Rupert
laut, um die Maschine zu übertönen.
Als die verfilzten Locken alle heruntergefallen waren, pustete er
über die Klingen und wechselte den Aufsatz.
"What? You mean under the skin?" Kei musterte das
Geschehen.
"Yes." Rupert fuhr damit fort, Colin eine waschechte Glatze
zu verpassen. Der hatte die Schultern hochgezogen und die Hände auf
seine Füße gestützt, die er die ganze Zeit stumm anstarrte.
Die nächste böse Überraschung... Kei seufzte.
Mit Colins T-shirt wischte Rupert ihm schließlich all die kleinen
Haare vom Kopf und den Schultern. Nachdem er den Rasierer zur Seite
gelegt hatte, nahm er eine Mappe aus einer der Taschen und entfaltete
sie auf dem Nachttisch.
"Do I need to anesthetize you?" fragte er.
"No," sagte Colin leise, aber selbstsicher, nach dem Blick
auf Ruperts geöffnete Instrumententasche mit glänzenden Skalpellen,
Haken, Scheren, Fläschchen und Nadeln.
Rupert nahm sich ein paar weiße Nitrilhandschuhe aus einer
Plastiktüte in der Tasche und zog sie sich über. Colin sah ihm
dabei zu, wie er daraufhin ein Skalpell herauszog und mit einer
langen Pinzette aus einer weiteren Tüte einen dichten weißen
Stoffknubbel nahm.
Kei sah weiterhin zu und fragte sich, was wohl nächstes passieren
würde, nicht an Colins Kopf, das wusste er, aber mit Colin. Was
Gutes konnte das einfach nicht sein.
Auf Ruperts Signal hin sah Colin wieder nach vorn und senkte den
Kopf. Rupert rutschte noch etwas näher heran auf seinem Stuhl und
fand die verdächtige Stelle wieder, die ihm beim ersten Betasten
aufgefallen war.
"I'm cutting now," sagte er ruhig und schnitt ein paar
Zentimeter über der Wirbelsäule die Haut über Colins Schädel auf.
Kei sah zu.
Colin blickte wieder stumm auf seine Hände und Füße, während
Rupert ihn weiter untersuchte. Der zog mit den Fingern die Haut
auseinander und hebelte mit dem Skalpell ein bisschen unter die Haut,
um darunterzusehen, und tupfte dabei mit dem Bausch an der Pinzette
das herauslaufende Blut ab.
"It's gone," sagte er nach einer Weile irritiert.
"What was there?" fragte Kei.
"I don't know," sagte Rupert ein wenig abwesend. Und
verärgert. "An emitter, a transmitter, receiver, a capsule, a
blood clot, a tick... But it's gone now."
Kei schaute skeptisch. "I guess it had a certain purpose..."
"If it wasn't just a giant tick or a blood clot, then
yes. But it's gone." Rupert wirkte ein wenig genervt. Er legte
die kleinen Hautlappen wieder zusammen, wischte noch einmal mit dem
Stoffballen darum herum und legte seine Utensilien dann weg.
Kei beruhigte das nicht. Er sagte aber nichts mehr dazu. Was auch
immer das gewesen war, er hoffte, es würde sich bald herausstellen.
Colin befühlte den Einschnitt, der schon wieder zuwuchs, und sah
Rupert dabei zu, wie er seine Sachen wieder aufräumte und wegpackte.
"You're clean, as far as I can tell," sagte er freundlich.
Kei schaute Colin an. "Alles okay?"
Colin erwiderte den Blick. Natürlich nicht. Aber das weißt du.
"Ja, klar."
Kei musterte ihn kurz, nickte leicht und sah dann wieder aus dem
Fenster. Was für einen Scheiß habt ihr euch noch ausgedacht,
he?Das einzige, was den Japaner erleichterte, war die Tatsache,
dass das kleine Ding bei Entfernung nicht den sofortigen Tod
herbeiführte – wer wusste schon, wie unsterblich Colin und er
wirklich waren? Kei jedenfalls wusste es nicht. Und er wusste auch
nicht, wie viele Veränderungen diese Typen an seinem und an Colins
Körper vorgenommen hatten, während sie beide tot gewesen waren.
"If it's gone now, how come the wound was still there? I heal
really fast," fragte Colin Rupert und sah ihn an. Rupert packte
seine Taschen wieder zusammen.
"It was healed. There was no wound, just a little indentation in
your skull. It wasn't injured."
"An indent- But how come that didn't heal?"
Rupert atmete aus und sah Colin an. "It wasn't injured. Your
skull molded – it grew around it. So it's been there for a long
time," erklärte er ruhig.
Kei hörte dem Gespräch zu, sagte aber nichts dazu. Er sah aus dem
Fenster. Viel war da nicht zu sehen.
Als Rupert seine beiden Taschen geschlossen und auf dem Boden
abgestellt hatte, setzte er sich wieder hin. Colin hatte sich zu ihm
umgedreht.
"Do you have any idea when it might have come out? Did you have
a head injury at some point?" fragte Rupert ernst. Colin zuckte
mit den Schultern. Er dachte nach. Er hatte viele Verletzungen
gehabt. Auch am Kopf. Aber dahinten...
"I only recall one in Havana. When we were still in Cuba, just
before we came here." Er sah zu Kei. Er hatte keine Ahnung wie
lang das her war. Denn er wusste nicht, wie lange er in der Grube
festgehalten worden war. Rupert folgte seinem Blick zu Kei. Er schien
auf eine Antwort zu warten.
"There were a few guys who wanted a beating – and Colin got
smashed in a wall," erklärte Kei, ohne sich umzudrehen.
"Did you notice any changes after that?" fragte Rupert. Er
sah zwischen Kei und Colin hin und her. Colin schien von seinen
Haaren abgelenkt zu sein, die auf seinen nackten Beinen herumlagen
und spielte an seinen verfilzten Locken herum.
"He turned into himself again." Kei war das nicht sofort
aufgefallen, aber lange hatte es nicht gedauert bis er gemerkt hatte,
dass Colin wieder Colin, und menschlich - obwohl anscheinend immer
noch untot - war. Colin sah zu ihm auf. Rupert legte ebenfalls
interessiert den Kopf schief.
"What do you mean?" fragte er.
Kei drehte sich zu ihnen um. "Well... After he died – back in
Japan – he was not the Colin I knew. He was eating human flesh and
enjoyed it. After that day in Havana he was behaving like a human
again. He was disgusted by the dead man's arm he ate. Oh, but he is
still trying to kill himself every now and then."
Mit fragend hochgezogener Augenbraue und gerunzelter Stirn sah Rupert
Colin an, der ebenfalls ernst und ratlos dreinblickte.
"Sometimes, when I sleep... I wake up... and can't control my
body. It just goes and tries to die. I dunno why. At first I could
hold it back a little. But not anymore." Colin kaute sich auf
der Unterlippe herum und verzog den Mund und blinzelte etwas, so als
ob er sich unter Kontrolle zu bringen versuchte. Tatsächlich war ihm
gerade sehr nach Heulen zumute.
Rupert sah ihn etwas schockiert an. Langsam stand er auf.
"You should talk to Dennis. He knows a lot about these
experiments, maybe he can explain this, too." Mit einem etwas
mitfühlenden Blick auf den nun glatzköpfigen blassen Jungen, der da
fast nackt mit den Resten seiner strähnigen Kopfbehaarung auf dem
Bett saß, nahm er seine Taschen und wandte sich zur Tür.
Kei stand auf, ging zu Colin und ließ sich neben ihm auf den Boden
fallen.
"Falls es dich beruhigt, ich pass auf, dass du dich nicht ein
zweites Mal selbst ganz umbringst," sagte er ruhig.
Colins Blick wandte sich von der geschlossenen Tür, hinter der sich
Ruperts Schritte entfernten, zu Kei. Er stieß einen Laut aus, der
wie ein halbes Lachen klang aber keines war, und wischte sich sofort
über die nassen Augen.
"Wie kaputt bin ich eigentlich?!" Er stützte die
Ellenbogen auf seine Beine und drückte die Handballen auf seine
Augen. Dabei griffen seine Fingerspitzen über der Stirn ins Leere,
nur auf nackte - vielleicht etwas stoppelige – Haut, wo gerade noch
seine Haare gewesen waren.
"Du bist viermal entführt worden, einmal gestorben, hast
diverse Male versucht, dich umzubringen, du warst 'ne
Untergrundkäfig-kampfattraktion, sie wollten dich zu 'ner Crackhure
machen, du hast deine abgeschlachtete Familie an Heiligabend
gefunden, du bist seit zwei Jahren mit mir unterwegs, die Erpressung
in Japan – Du bist also ziem-" Colins Faust landete zielgenau
und hart in ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit in Keis Gesicht, so
ungefähr auf seiner Nase, Wange und dem linken Auge. Und Colin
selbst hockte nun vor ihm und drückte ihn bei der Kehle nach hinten.
Kei machte keine Anstalten, sich irgendwie zu wehren, mit dem rechten
Auge musterte er Colin. Ein leichter Schmerz durchzog sein Gesicht,
aber der störte ihn nicht weiter.
"Weiter mittig, wenn du mir die Nase brechen willst," sagte
er ruhig. Nach hinten drücken ließ er sich nur leicht. Colin kniete
auf seinen Schenkeln und krallte sich nun in seine Kehle, während
seine rechte Faust wieder weit ausholte und nochmal zuschlug, wieder
halb auf die Nase. Sein Gesicht war nass und sah wütend und gequält
aus.
"Das findest du witzig, ja?! Zum TOTlachen, was?! So! Witzig!"
Er schlug noch ein paarmal hart zu. Seine Kraft hatte während seiner
Gefangenschaft scheinbar etwas zugenommen, doch Kei fing den letzten
Schlag mühelos mit einer Hand ab.
"Du musst schneller sein, wenn du mir wirklich wehtun willst."
Colin ließ die Arme fallen und schluchzte. Das war ihm sofort
peinlich, und er wischte sich mit dem Unterarm über die Augen. Er
wollte Kei wirklich wehtun. Kei hatte ihm wirklich wehgetan.
Irgendwie. Colin verstand nicht, wie genau. Aber das war egal. Er
konnte Kei nie heimzahlen, was er ihm antat, wenn er nur so unbedacht
den Mund aufmachte wie Kei das nunmal tat. Lustlos gab er ihm noch
eine Ohrfeige, dann ließ er den Kopf sinken.
Kei setzte sich wieder aufrecht hin und verknotete die Beine zu einem
Schneidersitz. Er nahm den Kleineren einfach in den Arm.
Im ersten Moment legte Colin die Stirn auf Keis Schulter, doch nach
nur ein paar Sekunden stemmte er sich gegen ihn und machte Anstalten,
aufzustehen. Das Gesicht wandte er zur Seite ab. Kei ließ ihn los
und Colin stand auf und zog eilig die von Dennis geliehenen Kleider,
Jeans, T-shirt und Socken, wieder an, ohne Kei anzusehen.
Kei stand auch auf. Wenn Colin beleidigt sein wollte, dann würde er
dem kein Hindernis sein.
Colins Blick wanderte von selbst zu seiner Eisenklaue, die auf dem
Holzschreibtisch lag, der unweit des Bettes an der Wand stand. Er
hatte ein unbestimmtes Bedürfnis, sie wieder anzuziehen. Doch dann
wurde ihm bei dem Gedanken etwas übel und er öffnete forsch die
Tür. Kei wartete, bis Colin gegangen war. Er würde sich draußen
etwas umsehen.