TEIL IV
ENGLAND
Drei Tage später waren Kei und Colin in London Heathrow angekommen,
wo der Vampir seinem Freund seine Hypnosefähigkeiten an den
Flughafenbeamten demonstrierte und sie so ohne gültiges Visum
problemlos einreisen konnten. Kei fragte sich, ob das bei allen
Menschen funktionierte oder ob es bestimmte Bedingungen gab, die dazu
führten, dass Menschen sich manipulieren ließen.
Vor dem Flughafen sah er sich prüfend um. „Was machen wir jetzt?“
Colin gähnte. Er war müde und hatte dunkle Augenringe in seinem
blassen Gesicht. In Havanna war er zuletzt mit dem Gesicht über der
eingeschalteten Grillplatte in der Küche ihrer Unterkunft
aufgewacht. Seine schlafwandlerischen Selbstmordversuche waren
manchmal richtig kreativ.
Kei hatte davon scheinbar nichts mitbekommen, aber Colin hatte
seitdem auf Schlaf verzichtet. Seit dem Yakuza, den er gehäutet
hatte – daran zu denken, jagte ihm nun einen übelkeiterregenden
Schauer über den Rücken – hatte er kein frisches Fleisch mehr
gegessen. Er wusste, dass er es brauchte, sein Körper gierte danach
und keine andere Nahrung brachte ihm eine ähnliche Befriedigung,
aber irgendwie wollte er nicht mehr. Er hatte Hunger. Jedes sichtbare
Stück Haut hypnotisierte ihn geradezu und ließ ihm das Wasser im
Mund zusammenlaufen, aber gleichzeitig bescherte ihm der bloße
Gedanke daran, sich an dem weichen Fleisch darunter gütlich zu tun,
deutliches Unbehagen. Als hätte er noch moralisches Empfinden übrig,
oder es wiederentdeckt.
„Ist mir egal,“ murmelte er. „Schlafen wär gut.“
Mittlerweile war ihm auch fast egal, ob er sich währenddessen
umbrachte. Vielleicht wäre das einfach eine Erlösung. Er zog den
Riemen der Umhängetasche auf seiner Schulter hoch.
Schlafen hielt Kei in der Tat für eine sehr gute Idee. Kei brauchte
fast keinen Schlaf, aber es war gut, einfach mal abzuschalten und
einfach nichts zu tun.
„Das hast du dringend nötig. Und du solltest essen,“ sagte der
Vampir ruhig und steckte seine Hände in die Jackentaschen. Erst
einmal mussten sie einen Schlafplatz finden, aber das sollte sich in
einer Stadt wie London als sehr einfach erweisen und nicht allzu
lange dauern.
„Lass uns da lang gehen,“ schlug Kei vor, indem er in irgendeine
Richtung zeigte und marschierte los. Hier am Flughafen herumzustehen
war sicherlich die schlechteste Idee.
Colin ging ihm wie ein Gespenst hinterher. Ihm war zwar vage bewusst,
dass er sich hier um Längen besser auskannte als der Japaner, aber
darum konnte er sich in diesem Moment überhaupt nicht scheren. Er
hatte genug damit zu tun, nicht im Gehen einzuschlafen und dann
besinnungslos eine irreparable Dummheit anzustellen.
Als sie zu den Shuttlebussen kamen, traf ihn ein rauschender Windzug
ins Gesicht. Er wankte etwas und blieb blinzelnd stehen. Nur für
eine Sekunde. Jemand, der hinter ihm gegangen war, streifte seinen
Oberarm und zog seinen kleinen Rollkoffer ratternd an ihm vorbei. Es
war der braungebrannte Arm eines Urlaubsheimkehrers, der nackt und
nur spärlich behaart aus einem weißen T-shirtärmel schaute. Mehr
brauchte es nicht.
Mit einem leisen Ausruf, der fast wie ein verzweifeltes Ächzen
klang, packte er den jungen Mann beim Arm und zog ihn mit einem Ruck
zu sich. Vor Überraschung wehrte der sich auch gar nicht.
„Wha- oi!“
Kei drehte sich zu der sich ihm auf offener Straße darbietenden
Szene um. „Mach das da wo dich keiner sieht, oder willst du gleich
am ersten Tag gesucht werden?!“ sagte er und versetzte Colins
zukünftiger Mahlzeit einen Schlag, der ihr das Bewusstsein nahm,
damit sie nicht herumschrie. Colin beachtete ihn kaum und kniete sich
nur eilig hin während der junge Mann zu Boden sank, um seine Zähne
gierig in dessen Arm zu versenken, den er immer noch festhielt.
Irgendjemand rief etwas auf Arabisch, jemand anders auf Englisch, ein
Funkgerät knackte und ein paar Autotüren knallten und Menschen
kamen teils neugierig, teils alarmiert, herangelaufen.
Colin bemerkte sie nicht. Mit geschlossenen Augen grub er angestrengt
seufzend sein dafür recht ungeeignetes Gebiss tief und hart in die
warme Armbeuge. Allmählich fühlte er die Haut und das Fleisch
darunter etwas nachgeben. Es machte ein liebliches, weiches Geräusch.
Er spürte auch den Puls darin und roch ein kleines bisschen sauberen
Schweiß.
„Shit! Nimm den mit, wir sollten sehr schnell verschwinden!“ Kei
packte Colin und dessen Mahlzeit und warf sich beide über die
Schulter. War er schon immer so leicht? Er machte einen Satz
über die Menschen, die allmählich zu einer Traube wurden und lief
mit seinem Rucksack, Colin, dessen Gepäck und dessen Mahlzeit über
den Schultern zum nächsten Zaun.
Vor lauter Ungläubigkeit und schierer Verblüffung darüber, wie
schnell und mit welcher Leichtigkeit dieser scheinbar schmächtige
junge Mann sich zwei Menschen packte und mit ihnen auf dem Rücken
über ihre Köpfe sprang, glotzten die Umstehenden nur und machten
ihm teilweise sogar Platz. Der einzige, der unbeeindruckt blieb, war
Colin selbst, der halbherzig strampelte, als Kei an seinem Oberarm
zerrte, und in seinem Griff, selbst als er längst rannte, eine Hand
und Schulter des Bewusstlosen griff und irgendwo dazwischen wild in
ihn hineinnagte.
Kei ließ auch den Zaun hinter sich und rannte noch ein gutes Stück
weiter. Als er sich in sicherer Entfernung zum Flughafen wähnte,
ließ er Colin und dessen Mahlzeit unter einer Brücke wieder
hinunter. Colin, der dem jungen Mann jetzt bereits mehrere tiefe,
dunkle Bissspuren vom Bizeps bis zum Handgelenk zugefügt hatte,
kroch eilig über ihn, bis er rittlings auf ihm hockte, und schaffte
es nun, dessen Haut mit den Zähnen zu durchtrennen. Ein dickes Stück
Haut mit etwas Muskel löste sich unter einem schmalen Blutschwall
und einem nassen Reißgeräusch langsam aus dem Unterarm.
Kei ließ sich neben Colin auf den Boden fallen und nahm sich den
anderen Arm des Mannes. Ein bisschen Blut konnte nicht schaden. Er
trank eine große Portion davon und wischte sich danach den Mund an
der Jacke des mittlerweile Toten ab. Colin kaute derweil mit leerem
Blick auf einem weiteren Fetzen aus dem Arm herum. Weniger gierig,
aber scheinbar mit großem Genuss. Seine Kapuzenjacke, das T-shirt
und seine Hose waren genau wie seine Hände und Unterarme, und
besonders sein Gesicht, blutgetränkt.
Kei betrachtete ihn äußerst fasziniert und dachte nicht daran, dass
das ganze Blut auf Colin nur Aufmerksamkeit auf sie ziehen würde,
wenn man sie entdeckte. Nach kurzer Zeit schluckte Colin
geräuschvoll. Als der unzerkaubare Batzen weg war, hob er den
aufgerissenen Arm etwas und vergrub sein Gesicht von der Nase bis zum
Kinn in der tiefen Wunde. Es gurgelte gedämpft, während er nagte
und saugte, aber es war nicht festzustellen, ob das Geräusch von dem
glitschenden Blut in der Wunde herrührte oder aus Colins Kehle kam.
Nachdem Kei sich nach einigen Minuten vom Anblick seines Freundes
gelöst hatte, begann er damit, sich umzusehen. Keine Menschenseele
war zu sehen, aber das konnte sich bald ändern. Immerhin befanden
sie sich in einer Millionenstadt. Unter der Brücke und aus nächster
Entfernung schienen sie jedoch unbeobachtet. Nach seinem Sprung über
den Zaun war ihnen niemand nachgelaufen. Wer wusste, wie lange die
Leute brauchten, um Sicherheitskräfte auf zwei junge Männer und
einen Toten aufmerksam zu machen. „Wir sollten bald verschwinden.“
Colin ignorierte ihn und aß unter leisem Grollen gemächlich weiter.
Zwischendurch schloss er wie in höchster Konzentration die Augen und
atmete tief durch.
„Beeil dich einfach,“ fügte Kei hinzu und sah sich weiter um. Er
wollte Colin nicht sein Essen wegnehmen müssen. Wahrscheinlich würde
das aber notwendig werden, denn der Junge zeigte kein Anzeichen
dafür, dass er Kei überhaupt gehört hatte, geschweige denn seinen
Rat befolgen würde, sondern blieb genüsslich darin vertieft, den
Arm des Mannes, auf dem er saß, stückchenweise zu verzehren.
Der Vampir hörte entfernte Schritte auf sie zukommen, was ihn noch
ein wenig ungeduldiger werden ließ. Er nahm den anderen Arm des
Mannes und riss ihn aus der Leiche.
„Beweg dich! Bullen!“ rief er dem Kleineren zu und deutete in
Richtung des Flughafengeländes. Beide Taschen schulternd nahm er
Colins Handgelenk und zog ihn von der Leiche weg, deren noch
fleischigen Arm er in der anderen Hand hielt. „Iss unterwegs
weiter.“
Mit einem erbosten Knurren riss Colin seine Hand zurück, wurde aber
dennoch auf die Beine gezogen und musste den Arm gehen lassen. Als er
nicht von Keis Hand loskam, fixierte sein hohler Blick den noch
intakten Arm in dessen anderer Hand und er griff danach. Er machte
keine Anstalten, mit Kei mitzugehen.
„Reiß dich zusammen!“ Der Vampir trat Colin die Füße wieder
weg und hob ihn hoch.
„Hrrmf!“ ließ Colin grimmig verlauten, während er fiel und
wieder gepackt wurde.
Wenn er nicht laufen wollte, wurde er halt getragen. Kei hatte keine
Lust auf Polizei oder andere unerwünschte Aufmerksamkeit, davon
hatten sie dank Colins Fressattacke schon genug gehabt.
Halbherzig wehrte Colin sich, doch als er den Arm wieder zu fassen
bekam, war es ihm egal, dass er halb in der Luft baumelte und vergrub
nur die Zähne in der zerrissenen Bruchstelle der Schulter. Als Kei
zu Laufen begann und er dabei ein bisschen wippte, musste er kurz
lachen, wie ein Kind, das herumgeworfen wird.
Kei rannte durch kleine Seitenstraßen um nicht gesehen zu werden und
ließ Colin nach einer guten Stunde wieder herunter. In einer
offensichtlich nicht mehr genutzen Lagerhalle. Er war in ein
Industriegebiet gelaufen, welches sich unweit des Flughafengeländes
vor ihm aufgetan hatte. Der ideale Ort, um mit Leichenteilen und
einem menschenfressenden Halbtoten für kurze Zeit unentdeckt zu
bleiben.
Der Menschenfresser saß auf dem staubigen Betonboden. Er ließ nun
seinen halb abgegessenen Arm fallen und leckte dafür das trocknende
Blut von seinen Händen. Er sah zufrieden aus, wenn auch weiterhin in
das vertieft, was er da gerade tat. Während er sich mit den
Unterarmen das Blut von Wangen und Kinn wischte und dann wieder
ableckte, legte er sich langsam auf die Seite.
Kei blieb wach und aufmerksam neben ihm sitzen und lauschte auf
eventuelle Verfolger, die ihnen bis hierhin hinterhergelaufen sein
mochten. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Sich seine Jacke
ausziehend und selbige in den Rucksack stopfend sah Kei zu Colin.
Wenigstens ist er satt...
Das war er tatsächlich, und innerhalb von Sekunden, nachdem er sich
hingelegt hatte, war Colin auch schon fest eingeschlafen. Das ging so
schnell, dass ihm noch ein blutiger Zeigefingerknöchel zwischen den
Lippen hing.
Dieses Bild war seltsam – skurril und idyllisch zugleich. Kei
schaute kurz leicht verwirrt und wendete sich dann wieder dem
Wachesitzen zu. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete
rauchend darauf, dass sein Freund wieder aufwachen würde.
Die folgenden Stunden waren ruhig. Die Menschen schienen sie mit
ihrer Gesellschaft zu verschonen. Draußen fuhr zwischendurch
brummend ein Lastwagen vorbei und aus der Ferne konnte man ab und zu
das Rauschen der Eisenbahn vernehmen. In der unbeleuchteten Halle
blieb es still. Während der Nachmittag fortschritt, wurde das Licht,
das durch die dreckigen Scheiben hoch in den Wänden drang,
zwielichtig. Colin atmete ruhig und langsam, wenn er atmete.
Nach über zwei Stunden regte er sich. Schwerfällig zuckend setzte
er sich etwas auf.
Kei saß gegen eine Wand gelehnt auf dem Boden und sah zu Colin.
„Ausgeschlafen?“ fragte er ruhig.
Colin entgegnete nichts, doch seine Augen öffneten sich. Ohne Kei zu
beachten, wandte er sich steif einer Wand zu, an der hoch oben ein
Catwalk entlangführte. Ungelenkig stand er auf und stolperte langsam
in diese Richtung. Kei sah ihm nach.
Wie ein rostiger Roboterzombie näherte Colin sich wankend der
Aluminiumtreppe. Als er sie erreichte, konnte er nicht mehr sehen,
was vor ihm lag. Seine Augen tränten zu stark. Aber das war auch
egal, denn sein Körper machte sowieso wieder alles allein.
Kei ging ihm nach, als er sah, dass Colin den ganzen Weg wie ein
betrunkener Untoter zurückgelegt hatte und stellte sich ihm in den
Weg.
„Nicht schon wieder... Du sollst dich doch nicht umbringen.“
Will ich auch gar nicht.
Colins Körper hielt nicht an. Er
hatte überhaupt keine Kontrolle mehr über ihn. In Südamerika hatte
er ihn wenigstens mit großer Anstrengung ein bisschen bremsen
können, aber das funktionierte nun nicht mehr. Er konnte nur weinen,
aber dazu entschied er sich ja auch nicht mit Absicht. Ohne sein
Zutun griffen seine Hände nach dem Geländer und zogen ihn daran
hoch. Seine Füße stellten sich von selbst darauf. Was,
gerade vorwärts gehen ist nicht, aber Balancieren soll okay sein?!
Kei zog ihn von dort wieder herunter, zerrte ihn von der Treppe und
drückte ihn auf den Boden, wo er ihn festhielt. Schnaufend versuchte
Colins Körper, wieder aufzustehen, aber der Vampir war viel zu stark
für ihn. Doch Colin war verblüfft darüber, wie hartnäckig er war.
Minutenlang stemmten sich seine Arme und Knie gegen den Betonboden,
selbst als alles schmerzte und sich wie formloser Pudding anfühlte.
Der hellgraue Boden unter seinem Gesicht wurde allmählich feucht.
Keis Knie und Arme blieben einfach wie tonnenschwere Ambosse
unbeweglich auf ihm liegen.
Schließlich ließ seine Kraft doch nach und Colins sich windende
Muskeln beruhigten sich nach und nach.
Endlich. Au. Jetzt muss ich nur noch aufwachen.
Kaum ließ die unerwartet heftige Gegenwehr nach, ließ Kei den
Kleineren los und erhob sich. „Dein komischer Suizidinstinkt ist
echt hartnäckig.“
Das sagst du mir? Scherzkeks. Er
blinzelte und kam sich nach einem blinden Gefühl des Fallens vage so
vor, als hätte er die Macht über seinen Körper zurück. Er konnte
sich trotzdem nicht bewegen. Keis Gewicht war weg, dafür fühlte er
sich zu schwer und verbogen an, um aufzustehen.
„Au...“ brachte er nur leise heraus.
Kei hob Colin hoch und stellte ihn auf die Beine, hielt ihn aber
fest, sodass er nicht umfiel.
„Dass dein Körper sich wehrt, ist neu.“
„Gegen dich... Er lernt dazu,“
ächzte Colin leise. Er schaffte es, die Arme zu heben und sich ein
bisschen an Keis Jacke festzuhalten. Dabei fiel ihm auf, wie
blutverkrustet seine Hände und Unterarme waren, und als er an sich
hinuntersah, wie dunkel durchtränkt sein ehemals graues T-shirt war.
„... Was ist los?“
„Erzähl mir nicht, dass du nicht mehr weißt, weshalb du so
aussiehst." Der Vampir sah ihn an. Colin sah zurück. Er
versuchte, sich zu erinnern. Bevor er hier aufgewacht war...
„... Der Mann von Heathrow?“ Nachdem er ihn gerochen hatte... gab
es nichts mehr.
Er schnaubte verächtlich und ließ Keis Jacke los.
„Genau der. Die Reste seines Arms liegen dahinten noch. Du wolltest
dich nicht ohne Mittagessen bewegen lassen,“ erklärte Kei
gelassen. Colins Blick folgte seinem Kopfnicken dorthin, wo das
abgenagte Glied in einem Matschfleck auf dem Boden an der Stelle lag,
wo er aufgewacht war.
Er musste blinzeln, denn plötzlich schoss ihm wieder heißes Wasser
in die Augen.
Er hatte am Flughafen in aller Öffentlichkeit einen Passanten
angegriffen. Kei hatte ihn in besinnungslosem Zustand mit einem Arm
des Mannes in diese unbenutzte Halle gebracht. Er fragte sich, wo der
Rest sein mochte. Und er versuchte, ihn sich bildlich vorzustellen,
mit starrem, fasziniertem und angeekeltem Blick auf den zerfetzten
Arm geheftet.
„Seine Leiche müsste heute Abend in allen Nachrichten zu sehen
sein. Die Sicherheitskräfte waren sicher kurz nach uns da.“ Kei
dachte laut. Er ließ sich nichts davon anmerken, dass er es nicht
gut fand, dass er Colins Babysitter spielen musste, während der
besinnungslos gefressen hatte. Ein solcher Zustand war ihm nicht ganz
fremd – nur konnte er sich an seine eigenen Ausfälle erinnern und
er vermied es, sie herbeizuführen.
„Ist-“ Colin wurde etwas übel. Er wollte gar nicht wissen, wo
der Mann lag und wie seine Leiche aussah. Trotzdem schlichen sich
Bilder vor sein inneres Auge, aber sie hatten nichts mit Flugplätzen
zu tun, sondern spielten sich in einem Wohnzimmer in Tokyo ab, und es
gab da nicht nur eine Leiche... Hastig wischte Colin sich über die
Augen und wandte sich ab.
Kei musterte ihn kurz und sagte dann
anstatt ‚Ja, ist er, und ihm fehlen beide Arme, weil du verfressen
warst‘ lieber gar nichts. Das Verhalten seines Freundes
überforderte ihn ein wenig. Dass Colin wirklich menschliche
Gefühlsregungen gezeigt hatte, war so lange her, dass es ihm fast
fremd vorkam. Er musste sich daran erinnern, dass Colin ein Mensch
war – untoter Menschenfresser hin oder her – ursprünglich war er
ein Mensch gewesen. Vielleicht kam Menschlichkeit nach einigen Jahren
des Totseins zurück. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Etwas hilflos enthedderte der Junge gerade seine Arme und die
blutigen Kleidungsstücke, was sich am Ende auf alles bis auf
Boxershorts, Socken und Schuhe belief. Letztere zog er dennoch eilig
auf dem Boden sitzend aus, um mit spitzen, zitternden Fingern die
Jeans loszuwerden. Dann wischte er sich wieder mit dem Unterarm über
das Gesicht, um etwas besser sehen zu können, bevor er mit einem
sauberen Teil eines Hosenbeins über seine Hände rubbelte. Kei
betrachtete die Szene schweigend und leise schmunzelnd bis er sich
irgendwann zu den Taschen bewegte.
„Hast du saubere Kleidung dabei?“
Du musst duschen, um das Blut loszuwerden. Kei
hatte in den Stunden, in denen er sich in der Halle umgesehen hatte,
keine Wasserquelle oder irgendetwas anderes nützliches gesehen. Sie
mussten hier weg.
In Colins Seesack befanden sich an Kleidungsstücken ein paar Teile
Unterwäsche, vier T-shirts und die Cargoshorts, die er schon seit
Brasilien besaß. Seine Bastsandalen und die Strickmütze waren ihm
irgendwo abhanden gekommen.
Er antwortete jedoch nicht, obwohl er die Frage verstanden hatte. Er
konnte bloß nicht den Mund bewegen, um Laute herauskommen zu lassen.
Er erinnerte sich an das Gefühl von warmer Haut auf den Lippen und
weichem Fleisch, das unter seinen Fingern und Zähnen nachgab. Und
das Bild dazu war seine Mutter, wie sie mit Schnitten und
Blutergüssen auf dem weißen Rücken unter ihrem zerrissenen
Abendkleid mit aufgerissenen Augen und Mund vor ihm lag.
Er schniefte und blinzelte noch einen Schwall Tränen weg. Das Reiben
brachte nicht viel, nur gerötete Haut. Er hörte auf.
Kei steckte die Zigarettenschachtel, die neben seinem Rucksack auf
dem Boden gelegen hatte, wieder in seine Hosentasche und setzte sich.
Schweigend sah er zu Colin und fragte sich, was gerade in dessen Kopf
vor sich ging.
Er sah zu Kei auf, aber nur aus Reflex. Dass ihm plötzlich Skrupel
gewachsen waren, würde der Vampir nicht verstehen. Also wandte Colin
seinen Blick wieder hinunter auf seine Hände. Anstatt sie
abzureiben, zog er das Hosenbein nun zu seinem Gesicht, um den Mund
abzuwischen. Er wusste nicht, wie es aussah, aber wenn er diesen
ganzen Arm gegessen hatte und seine Unterarme schon so
blutverschmiert waren, konnte sein Gesicht nicht sauber sein. Es
schien ein bisschen besser zu funktionieren, denn seine Wangen waren
deutlich nasser als seine Hände, und der Jeansstoff bekam ein paar
dunkle Flecken.
„Ich gehe dir Wasser zum Waschen organisieren,“ kommentierte Kei
Colins Reinigungsversuch schließlich.
Danke, dachte Colin, ohne Kei
anzusehen, und hielt wieder inne. Und es tut mir Leid, dass
du dich immer um mich kümmern musst.
Kei ging nach draußen, ohne seine Jacke anzuziehen. Wasser. Wo
kriege ich hier welches her? Er ging einfach los. Lief bald
darauf durch unbekannte Straßen, bis er einen Supermarkt gefunden
hatte. Dort kaufte er einige Flaschen Wasser und in einem
angrenzenden Geschäft saubere Kleidung für Colin. In seinen
blutigen Sachen konnte er nicht raus.
Nach etwas über einer Stunde kam Kei wieder zurück in die
Lagerhalle geschlendert. „Wasser und saubere Kleider!“ verkündete
er, als er die Tüten neben seinem Rucksack abstellte. Der Arm in
seinem Matschfleck und ihre Taschen lagen alle noch da, wo sie vor
einer Stunde gelegen hatten. Colins Kleider auch. Nur Colin nicht
mehr. Der saß nun an eine Wand gelehnt und hob den Kopf von seinen
Knien, als Kei hereinkam. Sein Gesicht war fast sauber, aber seine
Augen und der Mund gerötet, und er blickte noch äußerst verloren
drein. Kei stellte die Wasserflaschen vor ihn und ließ ein leichtes
Lächeln vermuten.
„Hier.“ Er gab ihm noch ein Tuch - ein Handtuch hatte er nicht
bekommen - das als Waschlappen dienen konnte.
„... Danke,“ sagte Colin leise und rührte sich nicht weiter,
nachdem er das neue Halstuch auf seinem Knie abgelegt hatte.
„Was is?“ Kei sah ihn fragend an.
„Keine Ahnung.“ Ich fühl mich beschissen. I want to go home.
I want my mum.
Er wischte sich kurz über das Gesicht und sah hilflos zu Kei auf.
Kei setzte sich neben Colin und lehnte sich einfach gegen ihn. Er war
mit Hilflosigkeit und Gefühlen überfordert. Vor allem, wenn er
nicht wusste, was los war. Colin drehte sich etwas, legte die Arme um
Kei und vergrub sein Gesicht in dessen T-shirt. Umständlich legte
Kei einen Arm um ihn und drehte sich ein kleines bisschen. Leise
weinte Colin in sein Hemd, knapp unterhalb der Schulter.
I've eaten PEOPLE. I killed them and ATE them. Not even eighteen
and I've had at least seven cocks up my arse. Sein Griff in Keis
Shirt zog sich auf seinem Rücken etwas fester zusammen. And why
the fuck does it bother me NOW?
Kei hielt ihn fest und atmete ruhig. Er verstand nicht, weshalb Colin
jetzt plötzlich davon entsetzt war, was er getan hatte. Immerhin war
es nicht das erste Mal gewesen, dass er einen Menschen zerfetzt
hatte.
Nach ein paar Minuten atmete Colin auf und ließ Kei los. Seinen Kopf
behielt er aber, wo er war, an Kei gelehnt.
„Ich liebe dich,“ murmelte er.
Kei murmelte eine Erwiderung und steckte seine Hand locker in Colins
Hosenbund.
„Es tut mir Leid,“ flüsterte Colin.
„Was meinst du?“ fragte der Vampir leise.
„Mich. Dass ich so bin.“ Colin hob den Kopf und sah Kei besorgt
an.
Warum jetzt? „Ich kann damit leben.“ Dem
Menschenfressen. Nicht den Nervenzusammenbrüchen... Mach das nicht.
„Gut, dass du auch wahnsinnig bist.“ Colin setzte sich etwas auf,
aber blieb dicht bei Kei, damit dessen Hand nicht aus seinen
Boxershorts rutschen musste, und legte einen Arm wieder um ihn.
Draußen fuhren weiter Lastwagen und Vans vorbei. Ein paar Fahrzeuge
schienen in der Nähe anzuhalten.
„Wir könnten Gesellschaft bekommen,“ informierte Kei seinen
Freund, bewegte sich aber nicht. „Hier sind Menschen in der Nähe.“
Colin ließ ihn los und horchte. Es waren keine Schritte oder Stimmen
zu hören, auch keine zuklappenden Autotüren.
„Autos haben in der Nähe gehalten. Ich weiß nicht, ob die
herwollen. Sie sind noch weit weg.“
„Nicht weit genug. Steht auf, wir müssen hier weg,“ sagte ein
junger Asiate auf Japanisch von über ihren Köpfen. Er hockte auf
dem Catwalkgitter entlang der hohen Wand unter einer rechteckigen
Öffnung im Dach. Er trug enge, gepolsterte Lederkleidung und eine
schwarze Kapuze.
Kei sah ihn an. „Wer bist du?“ Er mochte diesen Typen auf Anhieb
nicht. Colin stand auf.
„Jemand, der euch nicht ans Leder will. Könnte mir
vorstellen, dass ihr sowas nicht häufig trefft. Ihr habt jetzt die
Wahl zwischen mir und den dutzend Vampiren, die euch einfangen und
umbringen wollen. Eure Entscheidung, aber wenn die Tür da aufgeht,
bin ich hier weg, mit oder ohne euch.“