| Ramin Djawadi - Light of the Seven (Game of Thrones) (Youtube) |
FREITAG
Ungefähr die zweite Nachthälfte verbrachte Colin damit, sich erst
ausgiebig zu waschen und wieder anzuziehen, dann neben Kei zu sitzen
und zu liegen und ihn stumm anzuschauen und dabei zwischendurch durch
seine Haare und über seinen Rücken zu streichen. Als es der Uhr
nach zu urteilen schon Morgen aber draußen noch nachtdunkel war,
verließ er den Raum und trug seine neue alte Geige leise durch das
stille Schloss, um einen Raum oder eine Nische zu finden, wo er
spielen konnte, ohne ein Störenfried zu sein. Als sicherste
Alternative fiel ihm die künstliche Höhle im Park ein, also machte
er sich bald auf den Weg dorthin, gerade als der Himmel im Osten
etwas blasser wurde. Kei schlief tief und friedlich wie tot.
Im Laufe des Morgens klopfte es an Keis Zimmertür. Kei gab darauf
nur ein leises Grummeln von sich als Zeichen, dass er das Geräusch
wahrgenommen hatte. Nach einigen Minuten wiederholte sich das
Klopfen.
"Hello? Anybody alive in there?" erklang Ruperts Stimme aus
dem Flur.
"Yeah... Come in..." gab Kei zurück. Inzwischen trug er
Boxershorts, lag aber immernoch auf der Decke.
Zögerlich und mit einem vorsichtigen Rundumblick öffnete Rupert die
Tür und betrat den Raum. Sein Blick blieb auf dem halbnackten Kei
auf der misshandelten Bettdecke liegen.
"Good morning. Where's Colin? He isn't answering." Er
zeigte mit einem Daumen in Richtung des gemeinsamen Badezimmers.
"Don't know exactly... Listen for his music, maybe he's taking a
walk." Kei sah Rupert verschlafen an. Colin war nicht schwer zu
finden, wenn Kei sich konzentrierte, konnte er ihn spielen hören.
"So you didn't kill him last night, that's a relief."
Rupert nickte, scheinbar zufrieden mit der Antwort. "Tomorrow
night there's going to be a gala - a ball of sorts, here in the
castle. It's a local thing. You can attend if you like, but if not,
then I'd appreciate it if you didn't wander around the castle for its
duration."
Kei schmunzelte. "I wouldn't kill him... I couldn't do this
again if he was dead... Would I scare your guests if I wandered
around?" Kei war nicht der Typ für solche Feierlichkeiten - was
am ehesten daran lag, dass er nie zugegen war, wenn sie stattfanden.
Rupert schmunzelte dreckig. Er schob die Hände lässig in die
Hosentaschen.
"No, but you live here. So when there are guests around this is
a public place, and it would be inappropriate. As I said, you can
come down as a guest if you like, or stay up here in the... living
quarters." Er sah kurz aus dem Fenster. "Or you could help
Dennis. He and his people are providing additional security. Of the
invisible kind." Hierbei wedelte Rupert geheimnisvoll mit einer
Hand und wackelte konspirativ mit den Augenbrauen.
"So they are basically not to be seen. Sounds like a funny day.
I'll find me a guitar if that's appropriate." Das wollte er eh
schon eine Weile machen. Vielleicht war es ausnahmsweise mal kein
Problem, wenn er in die nächste Stadt fuhr.
Rupert nickte. "I'll drive into town today anyway. I'll take
you." Er sah auf seine Armbanduhr. "At two."
"Thanks. I'll be ready then. If you are still going to look for
Colin, he's outside in the garden - this direction." Er deutete
in die Richtung, aus der Colins Musik zu leise hören war. Rupert
winkte nur friedlich ab, verabschiedete sich mit einem freundlichen
Nicken und verließ den Raum. Kei stand bald darauf auf und ging
duschen.
Die leicht verwilderte Wiese mit den Birken und Weiden, die die
kleine künstliche Grotte umgaben, bot den perfekten Hintergrund für
Colins Stimmung. Bis die Sonne vollständig aufgegangen war,
improvisierte er irgendwas zusammen, das zu dieser Landschaft zu
passen schien, und danach noch eine Weile. Er hätte noch den halben
Tag da stehen können, wenn ihn nicht die Gedanken an Kei und an
Essen zurücktrieben. Also ging er gemächlich zurück, diesmal
zwischen den Beeten entlang.
Wie am Tag zuvor gab es Frühstück in diesem Salon. Der Tisch war
nicht wieder so festlich gedeckt, aber dennoch ein Füllhorn an
Appetitlichkeiten, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Nach ausgiebiger Dusche zog Kei sich an und trocknete seine Haare.
Seine Stiefel waren von der langen Reise ziemlich malträtiert und
seine Hose war zwar sauber, aber an den Knien völlig zerrissen. Kei
störte das nicht. Das silberne Plektrum, das Colin ihm vor Jahren in
Tokyo gegeben hatte und die Yenmünze nahm er eigentlich nie ab. Ein
schwarzes Tanktop und seine - ebenfalls schon lange mitgereiste -
Lederjacke vervollständigten sein Outfit - kurzum, er sah eigentlich
aus wie immer.
Langsam schlenderte er nach unten, nicht des Frühstücks wegen, er
wollte eigentlich nur rauchen. Er passierte die offene Tür, während
Colin gerade auf dem reich gedeckten Tisch herumschaute und sich
hinsetzte. In einer abgedeckten Schüssel hatte er rohes Fleisch und
Innereien entdeckt. Diese nassglänzenden Batzen hatten ihn etwas
schockiert, aber er war sich sicher, dass das nur daran liegen
konnte, dass er nicht damit gerechnet hatte, auf diese Weise
berücksichtigt zu werden. Oder dass hier überhaupt jemand so genau
über seine Essgewohnheiten bescheid wusste.
Von der Schüssel, die er dreist auf den Teller vor sich gestellt
hatte, blickte er zur Tür auf, als Kei vorbeispazierte. Kei blickte
kurz durch die Tür, sah zu Colin und lächelte leicht. Mit der
Zigarettenschachtel in seiner Hand machte er deutlich, dass er nach
draußen wollte. Colin nickte ihm zu und krempelte sich die Ärmel
hoch. Das hier würde eine blutige, schleimige Angelegenheit werden.
Kei ging weiter. nach draußen vor die Tür. Ganz zivilisiert. Er
zündete sich eine Zigarette an und sah sich auf dem Grundstück um,
soweit er es zusehen bekam.
Nach wenigen Minuten folgte Colin ihm. Als die große Tür zur
Eingangshalle zufiel und er draußen die Treppe hinunterwanderte, war
er noch damit beschäftigt, sich die blutigen Finger abzulecken. Sein
Sweatshirt war sauber, doch seine Hände waren bis zu den Unterarmen
und sein Mund über die Wangen bis zum Kinn voller Blutflecken. Kei
stand ein wenig abseits der Treppe als er Colins Schritte hörte. Der
Geruch von Blut war schon oben wahrnehmbar gewesen, bevor er sein
Zimmer überhaupt verlassen hatte. Kei wandte seinen Blick Richtung
Tür. Colin betrachtete seine Hände, während er auf ihn zuging und
sich neben ihn stellte. Kei hielt ihm die Schachtel hin und
begutachtete die Sauerei auf Colins Gesicht. Leicht amüsiert. Colin
zog sich eine Zigarette heraus. Kaum dass er sie im Mund hatte, war
sie auch schon rotbeschmiert. Kei grinste leicht und musterte Colins
Gesicht weiter.
"Du kannst doch nicht das ganze Blut verschwenden und dir das
Gesicht beschmieren," merkte er an.
"Das meiste habe ich getrunken." Mit erhobenen Händen
deutete er an, dass er es direkt aus der Schüssel getrunken hatte.
"Zünd ma an hier." Er winkte mit der Zigarette. Kei
grinste weiter, während er Colins Zigarette anzündete. Dann fing er
an zu lachen. Colin blinzelte schmunzelnd durch den Rauch, der ihm in
die Augen kroch. "Du siehst so echt gut aus, weißt du?"
Kei schaute ihn fragend an. Nicht wissend, ob Colin das Lachen oder
die merkwürdige Normalität dieses Morgens meinte. Dass Kei als
dastehendes gutaussehendes Wesen gemeint sein könnte, kam ihm nicht
in den Sinn, da er nicht anders aussah als sonst.
Colin deutete vage auf ihn. "So... fröhlich."
Kei wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal so drauf gewesen war.
Musste eine Weile her sein. Ihm fiel auf, dass er zum ersten Mal seit
Langem nichts an einem Tag auszusetzen hatte. Das war gut. Lange
würde das sowieso nicht anhalten.
"Ich geh mich wieder waschen," kündigte Colin an und
hockte sich hin, um den Stummel an der Treppenstufe auszukratzen. Kei
stimmte ihm bei dieser Idee zu kopfnickend zu. Er kniete sich relativ
elegant neben seinen Freund und küsste ihn. Colins Überraschung und
das darauffolgende Grinsen dauerten ungefähr anderthalb Sekunden,
bis er den Kuss erwiderte. "Nicht zu nah," murmelte er.
"Warum?" Wirklich viel Gelegenheit zum Antworten ließ er
dem Kleineren nicht.
"Hmblut..." Dessen Rausch setzte nun auch richtig ein. Oder
es war Kei. Egal.
Kei grinste daraufhin nur. Das war der Grund Colin eben nicht nicht
zu nahe zu kommen. Er biss dem Kleineren auf die Lippe, nicht allzu
fest, aber so, dass es blutete. Mit einem kleinen Brummen beschwerte
Colin sich und wedelte etwas mit den Armen. "Du misshandelst
mich," murmelte er schmunzelnd.
"Niemals," kam von Kei zurück, dem man das Schmunzeln
anhören konnte.
"Wenn du deinen Freund auffressen möchtest, kannst du das bitte
drinnen tun? Ihr seht gerade sehr nach Gewaltverbrechen aus."
Dennis war scheinbar aus dem Nichts neben ihnen vor der Tür
erschienen. Er trug einen schwarzen Anzug, einen Mantel und eine
Sonnenbrille. Kei präsentierte ihm seinen Mittelfinger. Er war nicht
wirklich daran interessiert, Colin in Ruhe zu lassen. Ihn
aufzufressen war allerdings auch keine ganz optimale Lösung.
Irgendetwas dazwischen war gut. Trotzdem ließ er kurz von seinem
Freund ab und musterte Dennis. Zuhälter, war das erste, das
ihm einfiel.
Diese Gelegenheit nahm Colin wahr, um hastig aufzustehen. Verlegen
und ohne ihn anzusehen, ging er auf Dennis zu, der gerade die Tür
aufstieß und Keis Finger mit einem kleinen Kuss in die Luft
beantwortete. Kei erhob sich ebenfalls und drückte den Rest seiner
Zigarette aus, die nicht mehr als solche bezeichnet werden konnte.
Hinter Dennis, der etwa zehn Sekunden brauchte, um die Treppe zu
erklimmen und von der Galerie zu verschwinden, schlüpfte Colin in
die Eingangshalle. Er brauchte für seinen ähnlichen Weg etwas
länger.
Kei ging, ein paar Minuten und noch eine Zigarette später, ebenfalls
wieder hinein. Bis zwei Uhr hatte er noch einiges an Zeit.
Ganz leicht verlegen begab Colin sich still in sein Zimmer und von
dort aus in das gemeinsame Badezimmer, wo er sich mit
hochgekrempelten Ärmeln das Gesicht und die Hände mit einem
Waschlappen gründlich sauberrubbelte. Seine Mütze lag derweil auf
dem Bett herum.
Der Vampir ging auch langsam in sein Zimmer zurück. Das tat er
jedoch nur, weil er Zeit totschlagen und ein neues Feuerzeug holen
wollte – das alte war ziemlich leer, wie er festgestellt hatte.
Danach ging er wieder nach draußen. Er setzte sich auf das Vordach
des Haupteingangs und beobachtete die Leute, die kamen und gingen,
wenn sie das denn taten. Derer gab es wenige. Um genau zu sein, nur
zwei. Die erste Person war Jane, die einmal die Stufen hinaufjoggte
und schon nach sehr kurzem Aufenthalt in der Eingangshalle wieder
hinunterging, nur etwas langsamer. Sie bog zügig zu dem Gebäudeteil
ab, in dem sich die Garagen und der Seiteneingang befanden.
Die zweite Person war Colin. Er trug nun zu seiner Mütze noch eine
Jacke. Nachdem er zuerst oben auf der Treppe angehalten hatte um sich
umzusehen, tat er nun noch das gleiche auf dem Platz vor ihr. Er
schien nach etwas Ausschau zu halten. Und schien es nicht zu finden.
Mit den Händen in den Jackentaschen wandte er sich wie Jane nach
links und ging gemächlich los. Er schien es eilig zu haben, sich
aber zu etwas ruhigerem Schritt zu zwingen.
„Wohin des Weges?“ rief Kei vom Dach seinem Freund hinterher. Der
hielt plötzlich an und blickte sich ruckartig um, bis er Kei auf dem
Vordach erspähte. Anstatt verbal zu antworten, zog er nur mit einem
Lächeln eine Hand aus der Jackentasche und zeigte mit einem Finger
auf Kei.
„Dann komm hier hoch,“ entgegnete Kei grinsend und beugte sich
vornüber, Richtung Colin. Der legte nur mit trockenem Blick den Kopf
etwas schief und zog eine Augenbraue hoch.
„Klar, ich nehm nur schnell noch Flugstunden,“ sagte er in
moderater Redelautstärke, zuversichtlich dass der Vampir ihn gut
genug hören konnte. Noch immer grinsend sprang Kei, sich mit einem
Handstand vom Vordach rollend, hinunter und landete vor Colins Füßen.
„Die brauchst du nicht für die drei Meter.“
„Meinst du, das kann ich springen?“ fragte Colin mit zweifelndem
Blick nach oben. „Leichtathletik ist nicht so mein Ding. Oder
überhaupt Athletik.“ Er war innerhalb der letzten Wochen durch
seine Flucht- und Grubenkampfsituation etwas wehrhafter, etwas
stärker und beweglicher geworden, aber Fassadenklettern und
Hochsprünge von mehreren Metern waren natürlich ausgesprochene
Fantasterei.
„Springen nicht, okay, aber du kommst da hoch. Die Wand ist alt und
bietet viele Haltemöglichkeiten.“ Für Kei war das einfach, er
hatte keine Probleme mit Klettern, Springen, oder dem Erreichen von
Festhaltemöglichkeiten. Die Wand wenige Meter hochzulaufen ginge
auch noch. Nur Fliegen konnte er nicht.
Colin trat neben der Treppe an die Wand heran und blickte an ihr
hoch. Kei folgte ihm dahin und blieb etwa einen Meter entfernt
stehen. Colin hatte durchaus Lust, einen ernsthaften Kletterversuch
zu starten. Die Fassade war alt und hatte viele kleine Vorsprünge
und Haltemöglichkeiten in Form von Fensterbänken, Abflussrohren,
verschiedene Nischen und Kanten im alten Mauerwerk und sogar Efeu.
Doch sie waren hier Gäste, wenn er das richtig verstanden hatte, und
wurden von Rupert aus reinem guten Willen ausgehalten. Er bot ihnen
nicht nur diese Zuflucht, sondern fütterte sie auch durch und
kleidete sie ein. Es wäre sehr respektlos, an seinem Haus
herumzuklettern, besonders, wenn man es noch gar nicht konnte. Nach
etwa einer Minute der Nachdenklichkeit sah Colin ihn mit neutralem
Blick an.
„Du siehst aus, als wäre dir gerade ein sinnvoller Grund
eingefallen, nicht an diesem Haus hochzuklettern,“ merkte Kei an,
nachdem er Colins nicht viel sagendes Gesicht studiert hatte und
steckte die Hände in die Hosentaschen. „Es gibt hier sicher noch
andere Möglichkeiten, wo du üben kannst.“
„Viele Bäume.“ Colin zuckte mit den Schultern. „Du kennst dich
doch hier aus, oder? Was hat es mit dieser Höhle auf sich? Ist das
ein Schrein oder sowas?“
„Weiß ich nicht, ich bin vielleicht einmal dort gewesen.“
„Sie ist interessant.“ Er hätte beinahe ‚schön‘ gesagt,
wollte aber nicht sentimental wirken.
„Ich weiß nur, dass niemand oft dort hingeht. Du bist der Einzige,
der sich öfters dahin verirrt.“
Colin legte den Kopf etwas schief. Er war zweimal bei der künstlichen
Grotte gewesen, und nie war Kei dabeigewesen. Er hatte sie auch nie
erwähnt. „Stalkst du mich wieder?“
„Nein, warum?“ Kei wunderte sich, wie Colin auf diese Idee kam.
Er wusste einfach, dass sein Freund schon mehr als einmal dort
gewesen war.
„Verarschst du mich jetzt? Woher weißt du, dass ich ‚öfter‘
da war?“ Colin sah skeptisch aus, aber ruhig.
Gute Frage. Kei dachte nach. Tatsächlich hatte ihm niemand erzählt,
dass Colin dortgewesen war. Er war ihm auch nicht nachgelaufen oder
zufällig dort vorbeigekommen.
„Keine Ahnung.“
Colins sardonischer Blick machte deutlich, dass er Kei nicht glaubte.
Er wandte sich um und ging los.
„Wohin gehst du?“ erkundigte sich Kei ruhig. Er wusste es
wirklich nicht. Wenn Colin ihm nicht glaubte, war das nicht sein
Problem, auch wenn das, was er erzählte nicht wirklich glaubwürdig
war. Das wusste er ja selbst, aber eine Beweispflicht hatte er nicht.
„Stalker!“ rief Colin in die Luft vor sich und marschierte weiter
auf die Wiese zu, die die Blumenbeete säumte, hinter denen zwischen
Gesträuch und Nadelbäumen die Birken und Weiden um die kleine Höhle
herumstanden. Kei seufzte. Jetzt zu schreien: ‚Nein!‘ hätte
keinen Zweck, also ließ er es, ging dem Kleineren aber nach.
Gemächlich, und Keis Anwesenheit bewusst, wanderte Colin zwischen
den Beeten hindurch. Er fragte sich, ob er zu ihm aufholen oder ihn
einfach nur verfolgen würde. Kei ging einen Schritt schneller,
sodass er nach einer Weile zu ihm aufgeholt hatte. Wohl wissend, dass
Colin ihn sowieso bemerkt hatte. Allerdings wollte er auch gar nicht
unbemerkt sein. Stumm gingen sie langsam durch die wuchernden
Pflanzen. Colin sah nachdenklich aus. Kei betrachtete ihn von der
Seite.
Trotz des aufgeschlagenen Kragens und der Strickmütze, die Colin
tief in der Stirn und über den Ohren saß, konnte man sehen, dass
seine Haare immer noch kurze Stoppeln waren. Er behielt die Hände in
den Jackentaschen und sah hauptsächlich vor seine Füße. Nur, wenn
er nachschauen wollte, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg
befanden, schien er aus seinen Gedanken aufzuwachen und blickte kurz
auf. Kei ging stumm neben ihm her und achtete nicht groß darauf, wo
sie überhaupt hingingen. Nach nicht mehr als einer Viertelstunde
traten sie zwischen die ersten Birken.
„Hier sind Blumen und Grabkerzen,“ sagte Colin leise.
Wahrscheinlich wusste Kei das längst.
„Ob hier jemand beerdigt wurde?“ Kei kannte sich auf dem Gelände
gut aus, sprach aber eigentlich nie über das, was er zu sehen bekam.
Das Grab – wenn es denn eins war – kannte er tatsächlich schon,
wem es gedacht war, wusste er nicht. Er war nicht besonders scharf
darauf, in den Angelegenheiten von Toten herumzuwühlen, die Lebenden
interessierten ihn mehr.
„Ich habe keine Gräber gesehen,“ sagte Colin. Die vertrockneten
Blumen und die Lichter lagen, standen und hingen allesamt im Inneren
der Grotte mit den als natürliche Felsform getarnten Reliefs. Er
setzte sich auf die leere Steinbank in der Mitte. Neben dem Eingang
stand ein Wasserschälchen, in dem ein paar frische weiße Blüten
lagen.
„Irgendwer kümmert sich jedenfalls um diesen Ort, warum auch
immer,“ sagte Kei, während er sich genauer umsah. Das war ein
schöner Platz, kein Wunder, dass Colin ihn mochte. Der drehte sich
gerade so auf der Bank herum, dass er sich bequem auf ihr auf den
Rücken legen konnte. Die Hände faltete er auf dem Bauch und seine
Füße standen auf beiden Seiten auf dem Boden. Kei trat an ihn heran
und musterte ihn, ehe er sich auf das Stück Bank setzte, das Colins
Beine zum Sitzen freigaben. Colins Blick schweifte von der Decke auf
Keis Gesicht. Er lächelte ein bisschen. Auf Keis Gesicht war der
Anflug eines Ausdrucks, der mal ein Lächeln werden wollte, zu sehen,
wenn man genau hinsah. Kei saß etwas schräg auf der Bank um
einigermaßen vernünftig sitzen zu können, weshalb Colin nur ein
halbes Gesicht zu sehen bekam.
„Wohnen wir jetzt hier?“ fragte Colin nach einer Weile und
ohrfeigte sich innerlich dafür, dass er eigentlich etwas ganz
anderes hätte sagen sollen. Wollen. Oder vielleicht auch besser
nicht. Er wollte nicht sentimental wirken. Er begnügte sich damit,
Kei weiter zu mustern und seine Gedanken und Gefühle dabei hinter
einer Maske aus neutralem Interesse und freundlicher Aufmerksamkeit
zu verstecken.
„Dann müssen wir zum Duschen aber immer rein gehen,“ erwiderte
Kei leise lachend. Sein Blick wanderte von Colin durch die ganze
Grotte, soweit er sie einsehen konnte. Colin grinste.
„Ich meine das Schloss, du Genie.“
„Ach so. Ich denke schon. Ich finde zwar, es hat mehr von Hotel als
von Zuhause, aber vielleicht ändert sich das ja noch.“ Kei kannte
nur ein richtiges Zuhause, aber das hatte er ewig nicht gesehen und
es existierte auch nicht mehr.
„Du
willst also mitmachen? Mit Dennis gegen die Instanz kämpfen?“
Colin stützte sich auf die Ellbogen, um Kei genauer anzusehen. Ich
will darüber gar nicht reden. Vielleicht ist das hier das beste, das
uns passieren konnte. Doch
Colin wollte immer noch weglaufen und mit Kei irgendwo seine Ruhe
haben. Wie in Brasilien. Die Highlands waren sehr einsam, und Kei
wollte sowieso mal nach Schottland... Colin runzelte die Stirn und
zwang den Gedanken weg. Zumindest versuchte er es halbherzig, malte
sich aber immer noch aus, wie sie abgeschieden in einer Hütte auf
einem grünen Hügel lebten, Schafe hüteten und am Abend auf einer
Bank im Garten Pfeife rauchten und Whisky tranken. Wenn sie beide nun
wirklich unsterblich waren, konnten sie so die Instanz überleben und
vielleicht schon in ein paar Jahrzehnten als Fremde in die
Zivilisation zurückkehren. Dann würden sie beide mit Musik ihr Geld
verdienen, vielleicht mal wieder Freunde haben und Kei könnte
endlich Rockstar werden.
Colin blinzelte und fokussierte Kei wieder. Er hoffte, dass er seine
Antwort nicht vor lauter Träumen überhört hatte.
„Ich will nicht ständig wegrennen müssen und irgendwelchen Irren
begegnen, die versuchen uns umzubringen. Und auf Einsiedlerdasein hab
ich auch keine Lust.“ Kei sah an die Wand.
Colin
musterte ihn stirnrunzelnd. Er hatte doch nichts laut ausgesprochen?
Du Wichser
kannst hypnotisieren und Gedanken lesen?
versuchte er Kei auf einen idiotischen Impuls hin telepathisch
mitzuteilen.
Kei, der immer noch Richtung Wand sah, spürte Colins Blick auf sich.
Was auch immer der Kleinere jetzt für ein Problem hatte, Kei hatte
keine Ahnung. „Was ist?“ fragte er ruhig.
„Was soll ich machen? Bloß hier versteckt bleiben? Mich wollen sie
nicht dabeihaben.“
„Haben sie dir das gesagt?“ Kei würde nicht alleine dort bleiben
und Colin allein gehen lassen. Ihm hatte das in Südamerika gereicht.
„Ja. Sie verstecken uns beide, aber mithelfen sollst nur du. Als
ich Dennis gefragt habe, was ich tun kann, hat er nur gesagt, dass
Rupert meine Gesellschaft sehr freuen würde und ich ja einfach ganz
viel Geige spielen könnte.“ Colin richtete sich auf, bis er
rittlings auf der Bank saß.
„Sie
glauben, dass du ihnen entweder nicht nützlich bist, oder sie haben
einen Beschützerinstinkt entwickelt und wollen nicht, dass dir was
passiert.“ Das
will ich auch nicht. „Wenn
du helfen willst, dann musst du mit ihnen reden... Ich werde dich
nicht davon abhalten.“ Kei lehnte sich zurück, sodass er mit dem
Kopf auf Colins Schoß lag.
„Das habe ich doch versucht. Ich glaube, dass sie mir nicht
vertrauen wollen, nachdem... danach. Nach dem...“ Er winkte und
wackelte etwas mit der Hand, an der er in seinen Kämpfen die
Eisenklauen getragen hatte, dann ließ er sie sinken und streichelte
Kei damit sachte durch die Haare. „Und weil ich mich im Schlaf
selbst umbringen will... Ich bin nicht vertrauenswürdig. Das ist
wahrscheinlich das Problem. Um ehrlich zu sein, habe ich auch gar
keine Lust, an einem Krieg teilzunehmen. Aber wenn dus machst, lasse
ich dich nicht allein.“
Für Kei war Colin die einzige vertrauenswürdige Person, die er
kannte – und er kannte sehr viele Personen. Da war das suizidale
Schlafwandeln egal. „Ich will keinen Krieg. Ich will ein Leben,
aber das kriege ich nur, wenn die Wichser tot sind, denn vorher
lassen sie uns nicht in Ruhe.“ Colins Zeigefinger strich über
seine Lippen. Kei lächelte leicht.
„Wer
weiß, wie lange das dauern wird... Das überleben wir wahrscheinlich
nicht, weißt du? Wir können zwar nicht mehr konventionell sterben,
aber ich glaube nicht, dass wir unzerstörbar sind.“ Mit den
Fingerspitzen zeichnete Colin langsam und sachte Keis Augenbrauen und
die Konturen seiner Wangenknochen nach.
„Ich pass auf, dass du nicht draufgehst.“ Aufpassen, dass ihm
nichts passierte konnte er zwar versuchen, aber das funktionierte ja
nicht immer. Dass Colin starb, würde er schon verhindern – wenn
sein Freund sich nicht in seiner Abwesenheit selbst äußerst
effektiv umbrachte. „Wir können aber auch nicht weglaufen, nicht
ewig. Die finden uns doch überall.“
Colin blickte bedauernd zur Seite und auf den Boden. Er wollte das
nicht ganz glauben. In Südamerika waren sie der Instanz scheinbar
über ein Jahr lang aus dem Weg gegangen, ohne überhaupt von ihr zu
wissen. Vielleicht waren sie auch mit Absicht in Ruhe gelassen
worden, aber das kam ihm unwahrscheinlich vor. Kei wollte abrechnen
und Colin konnte ihm das nicht verübeln. Er hielt seine Knie und
starrte nachdenklich auf die Wand, wo ein Ritter und eine in ein
flatterndes Laken gehüllte Frau gegen einen verschnörkelten
Lindwurm kämpften.
Kei sah an die Decke, die sich auch als verziert entpuppte. Wer auch
immer diese Höhle geschaffen hatte, hatte sich sehr viel Mühe
gegeben.
„Wenn wir sie soweit haben, dass sie uns nicht mehr nachrennen und
uns suchen, gehen wir irgendwohin, wo wir Ruhe haben. Die Welt
anzusehen macht keinen Spaß mit einem Gewehr im Rücken,“ sagte er
leise. Lange an einem Ort bleiben konnte und wollte Kei nicht. Dafür
war die Welt zu groß.
Colin schwieg noch ein paar Minuten.
„Glaubst
du nicht, dass wir vielleicht nicht... echt
sind?“ fragte er schließlich leise. „Also... wir beide. Dass
das, was wir haben, künstlich ist?“ Er starrte immer noch die Frau
und den Lindwurm an.
„Wenn dem so wäre, würde ich dich nicht ständig vom
unfreiwilligen Selbstmord abhalten... Der scheint dir ja irgendwie
programmiert zu sein... Weißt du, wie spät es ist?“
„Keine Ahnung – was, wenn du das nur tust, weil du dazu
programmiert wurdest, auf mich aufzupassen? Vielleicht muss bei denen
nur einer mit den Fingern schnipsen oder ein Wort sagen und du
vergisst das hier sofort alles? Was wenn -“
„Das wissen wir, wenn‘s soweit ist. Ich kann nicht hellsehen und
ich hab keine Ahnung, was die mit mit uns gemacht haben – ich will
einiges auch gar nicht wissen.“
„Aber wenn – wenn wir nur so eine Spielerei sind und alles was
wir tun so vorgesehen war, dann ist das alles hier nur so eine Art
Simulation und ich liebe dich gar nicht wirklich, und du liebst mich
nicht -“
„Fresse, Colin! Du denkst zuviel.“
„Und du zuwenig!“ Colin rutschte auf der Bank zurück, sodass
Keis Kopf von seinem Schoß herunterrutschte. Kei setzte sich auf.
„Was bringt es dir, all das wissen zu wollen, als schlechte Laune?
Ich hab keine Antworten, niemand hier hat Antworten. Die kriegen wir
nur, wenn die Instanz tot ist, also hör auf, dich jetzt damit
verrückt zu machen.“
„Ich bin schon verrückt! Das alles hier ist wahrscheinlich
nur Einbildung und ich bin in Wirklichkeit immer noch in der Grube -“
Colins weit aufgerissene Augen waren nun nass und sein Blick
flackerte gehetzt durch die Höhle. „Ich habe jedesmal geglaubt,
ich hätte das schwarze Loch nur geträumt und der Traum wäre
Wirklichkeit -“ Kei drehte sich um und nahm Colin in den Arm.
„Du bist vielleicht verrückt, aber das hier ist die Realität.“
Er war kurz davor, seinem Freund eine zu scheuern, damit er wach
wurde. Colin vergrub sein Gesicht in Keis Halsbeuge.
„Ich weiß! Solange, bis ein kleines Detail... nicht stimmt... und
ich wieder aufwache. Wenn ich hier einschlafe, wache ich da auf, wenn
ich da die Augen zumache, wache ich hier auf,“ murmelte er in Keis
Kragen. Kei erwiderte nichts darauf. Sie wussten beide, dass Colin
beschissen schlief und Alpträume hatte, das mussten sie nicht
breittreten. „Eins davon ist real. Jetzt das hier, und du. Und
heute nacht die Zelle. Was passiert, wenn ihr die Instanz nicht
besiegt? Dann versaut ihr mir noch das hier und ich habe gar nichts
mehr.“ Er umklammerte Kei fest und krallte seine Finger auf dem
Rücken in dessen Jacke. „Dann ist diese Einbildung vielleicht für
immer weg,“ flüsterte er eindringlich.
„Das ist keine Einbildung, aber es wird nicht lange dauern, wenn
die Instanz uns nicht in Ruhe lässt,“ sagte Kei ruhig. „Ich will
das nicht kaputtmachen, aber es soll länger sein als ein paar Tage.“
Ein paar Tage waren für Kei nicht lang. Sie waren für ihn wie
längere Stunden und er hätte sehr gern länger Ruhe vor der Instanz
als einen gefühlten Tag.
Colin wich etwas zurück, um Kei anzusehen. „Das hier ist
Einbildung,“ erklärte er ihm mit nassen Augen. Dabei wirkte er so
ruhig, dass er es nur ernst meinen konnte. Nun lächelte er traurig.
„Bald wache ich wieder auf.“
„Nein. Es ist real, aber du wirst bald einschlafen und Alpträume
haben.“ Kei sprach ebenfalls ruhig. Colins Zustand war bedenklich,
aber ändern konnte er ihn auch nicht. Das musste Colin zu einem sehr
großen Teil selbst machen – wenn er konnte. Kei konnte nur da sein
und Colin erzählen, was echt war und was nicht. Glauben musste der
Kleinere es selbst.
Das schien just in diesem Moment nicht der Fall zu sein, denn er
lächelte Kei nur etwas mitleidig an, als er sagte: „Wir wohnen in
einem Schloss, komm schon. Wie realistisch ist das? Rupert
beschenkt mich mit Antiquitäten und Maßanzügen. Da drüben neben
dem Eingang steht ein Foto von meiner Mutter auf dem Boden. Und du
bist heute viel zu fürsorglich und gut gelaunt. Das kann
nicht die Realität sein.“ Colin sah ihn an, als wolle er seine
Reaktion beobachten.
„Ich kann auch gerne mies gelaunt sein, wenn dir das besser
gefällt,“ entgegnete Kei. Das Schloss und die Geschenke ließ er
unkommentiert. Reiche Leute gehörten in die Realität. Zugegeben,
das alles war merkwürdig. Es wunderte ihn, dass ihm ausgerechnet
seine bis vor Kurzem noch völlig unbekannten Halbgeschwister über
den Weg liefen und ihm erklärt hatten, sie kämpften gegen die
Typen, die für alles verantwortlich sind. Das war alles merkwürdig
und eher Stoff für Filme, aber es war real. Kei wunderte nichts
mehr. Er würde auch an die Existenz von Jedi oder Elfen glauben,
wenn man ihm das beweisen konnte. Ein Mann, der zwei umherstreunende
Jungs bei sich aufnahm, damit sie nicht getötet wurden, war wirklich
nicht unnormal.
„Rupert mag dich einfach und er hat viel Geld, ich glaube, er kann
es sich leisten, nett zu dir zu sein ohne böse Hintergedanken.“
„Ich unterstelle ihm keine Hintergedanken.“ Colin ließ Kei los.
„Ich unterstelle ihm, ein Hirngespinst zu sein. Und dir auch.“ Er
legte sich zurück und faltete wieder die Hände auf der Brust. Mit
den Knien wackelte er ein bisschen, sodass sie ein paarmal gegen die
Sitzflächenkante der Bank stießen. „Das ist aber okay. Ich
schätze, es kann mir auch egal sein, ob du echt bist. Ich kann
sowieso nichts ändern. Der echte Kei ist vielleicht längst tot oder
froh dass ich nicht mehr da bin.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und
wenn nicht, dann kommt er schon über mich hinweg, schätze ich. Und
ich habe dich, also komme ich wohl klar.“ Colin klang sanft und
betont gleichgültig.
Und er brauchte einen Psychologen. Kei wollte nicht, dass Colin
glaubte, die Realität, die ausnahmsweise mal nicht aus äußerster
Lebensgefahr bestand, sei unecht, weil sie eben nicht furchtbar
gruselig und tödlich war. Die Vorstellung, ein Hirngespinst zu sein
behagte ihm nicht – vor allem, weil er wusste, dass er keins war.
Kei stand auf. Er wollte immer noch wissen, wie spät es war und mit
Rupert in den Ort fahren um eine Gitarre zu kaufen. Ablenkung würde
ihm sehr gut tun. Ein Anflug von Normalität vielleicht auch. Kei
machte sich Sorgen um Colin, aber bei dem, was der durchgemacht
hatte, würde es noch eine ganze Weile dauern bis er wieder normal
denken konnte.
„Ich muss los.“
„Cheerio,“ ließ Colin mit einem lässigen Winken verlauten und
betrachtete weiter die graue Decke.
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