Kei zog sich vollständig an und ging nach draußen. Ihm war egal,
dass er das nicht sollte. Drinnen den ganzen Tag lang herumzusitzen
war nunmal scheiße. Zeitsparenderweise benutzte er dafür das
Fenster, was zusätzlich noch den netten Nebeneffekt hatte, dass sein
Verschwinden nicht sofort bemerkt werden würde. Eher ziellos
wanderte er durch diese Gegend, die er noch gar nicht kannte. Das
Wohngebiet, in dem sie waren, erschien ihm friedlich und ruhig,
obwohl hier wohl viele Menschen lebten.
Gute drei Stunden später kam er wieder zurück.
Als er die Tür des hohen, geschlossenen Lattenzauns im Garten hinter
sich schloss, fiel sein Blick auf Dennis und Colin, die auf der
kleinen Terrasse an einem runden Gartentisch saßen. Hinter ihnen auf
dem Sims des Küchenfensters stand ein kleines Taschenradio, aus dem
blechern und dünn Musik erklang.
Sie sahen zu ihm auf. Kei erwiderte den Blick und ging ins Haus. Als
er die beiden passierte, wurde ein freier Gartenstuhl kratzend zur
Seite getreten.
„Hat die letzte Aktion so großen Spaß gemacht, dass du sie
wiederholen willst?“ fragte Dennis fordernd und laut genug, dass
Kei ihn noch durch die Terrassentür deutlich hören musste.
„Ja, jederzeit wieder,“ entgegnete Kei sarkastisch und blieb
stehen.„Setz dich,“ sagte Dennis ebenso fordernd.
Kei kam zurück nach draußen und setzte sich. Eigentlich wollte er
nicht, aber besser er ließ sich das jetzt gefallen, als sich später
damit beschäftigen zu müssen. Colin lehnte auf seinen Armen auf dem
Tisch und sah von Kei wieder matt auf die Zigarette zwischen seinen
Fingern hinunter. Vor ihm stand eine Coladose.
Dennis lehnte sich zurück und sah beide an.
„Irgendwas spannendes passiert auf deinem Spaziergang?“ fragte
er.
„Nein. Niemand da. Nichts passiert. Nur Menschen, die hier wohnen,“
sagte Kei und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an.
„Immerhin,“ sagte Dennis. In etwas milderem Ton. Eine ganze Weile
sagte niemand mehr etwas. Colin drückte irgendwann seinen glimmenden
Stummel im Aschenbecher aus und nahm sich eine weitere Zigarette aus
Keis Schachtel und zündete sie sich an, obwohl er an der alten kaum
gezogen hatte.
Dennis leerte seine Bierflasche und stand damit auf.
Kei – im Gegensatz zu Colin – rauchte, was er sich angezündet
hatte, und blieb eine Weile auf dem Stuhl sitzen. Sollte er sich nur
hier hersetzen, damit man ihn fragte, ob irgendetwas passiert war?
Mit einer winkenden Geste gen Colin ging Dennis zur Tür.
„Redet,“ sagte er und ging hinein.
Sein Ernst?! Der Vampir wusste nicht, worüber, sollte er sich
jetzt entschuldigen, weil er was anscheinend unpassendes gesagt
hatte?
Colin sah ihn vorsichtig an, dann wieder auf seine Hand.
Kei sah in seine Richtung, zog ruhig an seiner Zigarette und wartete.
Er hasste Dennis' Pseudopaartherapeutenversuch jetzt schon.
„Er hat mir Zeug erzählt,“ sagte Colin, nachdem er sich
umständlich geräuspert hatte. „Und er will, dass wir bei ihm
mitmachen.“
„Was für Zeug?“ fragte Kei.
„Über die Instanz und uns.“ Colin schwenkte seine fast leere
Coladose und drehte sie um, um die letzten vier Tropfen auf die
Tischplatte platschen zu lassen.
„Erzähl.“
„... Unsere Väter sind sich sehr ähnlich.“ Mehr schaffte Colin
gerade nicht. Laut stellte er die Dose wieder hin und zog an der
Zigarette.
„Hm, war das die relevante Information?“ Kei bezweifelte das.
Colin sah ihn an.
„Bevor ich geboren wurde, hat mein Vater mich an die Vampire
verkauft, damit sie an mir herumexperimentieren können. Ich finde
das ziemlich relevant,“ sagte er trocken.
Kei nickte. Colin musste ihm schon sagen, was er meinte. Mit der
einfachen Info, dass sich ihre Väter ähnlich waren konnte Kei nicht
sehr viel anfangen, denn das konnte alles mögliche heißen –
immerhin war Kira ein Arschloch wie es im Buche stand. Colin zog noch
einmal an der Zigarette.
„Mein Vater hat meine Mutter sitzen lassen, als sie schwanger
wurde. Sie war noch im Studium und hätte mich abgetrieben, aber dann
kam er zurück und hat sie überredet... das hat er wegen der Instanz
gemacht. Reuel war hypnotisiert und hat seine Ehe kaputtgemacht, um
mich auf Männer zu prägen. Als ich dann weg war, in Japan, hat er
sich umgebracht. Meine Mutter hat ihre Stelle in Tokyo bekommen, weil
ihre Vorgängerin dort von der Instanz umgebracht wurde. Dann ist sie
mit Hiroki und Nobunaga und Humphrey... auch von der Instanz ermordet
worden. Ich existiere nur, damit jahrhundertealte Vampire
herausfinden können, wie sie den Tod austricksen können. Ich lasse
mich von dir ficken damit alte Säcke ewig leben können. Darum ist
deine Mutter ermordet worden. Darum sind unsere Familien tot und
Reuel und wir. Jeder Therapeut den ich in meinem Leben hatte war die
Instanz. Ich existiere nur um von dir gefickt zu werden.“ Colin
sprach ruhig und monoton, indem er auf die Tischplatte blickte, und
nun stand er auf. Kei blieb sitzen.
„Wir existieren nur, damit andere ewig leben. Experiment geglückt
würde ich sagen.“ Kei war das ganze Drumherum egal, ändern konnte
er das nicht, also dachte er darüber gar nicht erst nach. „Oh, du
existierst nicht, um von mir gefickt zu werden. Dass du ewig lebst,
reicht denen. Für den Rest bist du selbst verantwortlich, oder ich -
weil ich mich weigere, gefangengenommen zu werden.“
Colin hörte sich das an, ohne Kei anzusehen. Als er geendet hatte,
drückte er die Zigarette aus. Irgendwas fand Kei an ihm, aber mit
dieser neuen Information von Dennis hatte er auch endlich eine
plausible Antwort auf seine Frage, warum Kei an ihm interessiert
gewesen war und nun so an ihm hing. In Südamerika hatte es für eine
Weile aufgehört. Scheinbar grundlos. Sie waren beide hierfür
konditioniert worden.
„Wie kannst du so gelassen sein?“ fragte er leise.
„Ich kann nicht ändern, was unsere Eltern verkackt haben oder
wofür sie uns missbraucht haben, also wieso sollte ich mich darüber
aufregen? Außerdem ist der Grund, warum dieses oder jenes so ist wie
es ist doch fast egal. Ich hab andere Gründe diese Leute ausradieren
zu wollen,“ sagte der Vampir ruhig und zündete sich eine neue
Zigarette an, nachdem er die andere ausgedrückt hatte.
„Und welche?“
„Das weißt du.“ Kei stand auf.
„Du bist beleidigt und willst dich rächen, weil du genervt bist?“
Colin zuckte mit den Schultern.
„Sehr kreativ, aber nein.“ Kei wandte sich zum Reingehen, wie er
es vorhin schon vorgehabt hatte.
„Sondern?“ fragte Colin etwas lauter und folgte ihm.
„Frag Dennis, wenn du nicht drauf kommst. Der weiß doch sonst auch
alles,“ sagte Kei und winkte ab. Colin folgte ihm hinein und
stellte seine Getränkedose in der Küche irgendwo ab. Dennis stand
mit Delilah im Wohnzimmer, das man von hier aus einsehen konnte.
Kei ging nach oben. Colin sah ihm nach und gesellte sich dann zu
Dennis und Delilah vor den Kamin.
Nach wenigen Minuten betrat er ebenfalls das Zimmer, das er sich mit
Kei teilte.
„Dennis freut sich, dass du mitmachen willst. Aber er weiß nicht,
was du außer dem Scheiß, den sie mit uns gemacht haben, für einen
Grund haben könntest, die Instanz vernichten zu wollen,“ sagte er
schlicht, während er die Tür schloss.
„Oh, dann musst du selber nachdenken,“ entgegnete Kei auf dem
Bett liegend. Colins Haare waren nicht mehr darauf verteilt.
Anscheinend hatte Colin inzwischen saubergemacht.
Nun sah er Kei trocken an. Er musterte ihn mit seinem typischen
trotzigen, aber ansonsten neutralen Blick und lehnte sich an die Tür.
Kei hatte nur eine Hose und ein Tanktop an und wartete, ob noch etwas
von dem Kleineren kam. Tat es nicht. Er wandte nur irgendwann den
Blick von Kei ab, etwas beschämt, und blickte stumm im Raum herum.
Kei hing seinen Gedanken nach.
„Wir müssen noch ein paar Tage hierbleiben,“ bot Colin verlegen
an. Seine Hand wanderte hinauf zu seinem Ohr aber fand keine Haare,
die er sich dahinterstecken konnte, und mit leicht erschrecktem Blick
kratzte er sich nur an der Glatze.
„Ich weiß.“
Colin nickte. „Dir ist echt alles scheißegal, was?“ fragte er
gelassen, ohne Anklage oder Aggression in der Stimme.
„Nein. Nicht alles,“ entgegnete Kei.
„Ach ja, klar,“ sagte Colin lächelnd. „Ich vergaß...
Zigaretten, Alkohol, Blut, Töten, Motorräder und E-Gitarren.“
„Guck noch mal nach, du hast was vergessen.“
Colin sah auf seine Hände und zählte ab: „Zigaretten, Alkohol,
Blut, Töten, Motorrad, E-Gitarre... nein, ist alles – ach ja. Mein
Arsch. Das sind die sieben Dinge auf die du nicht verzichten willst.“
Kei ließ das Antworten bleiben und schaute aus dem Fenster.
Colin schmunzelte halb und stieß sich von der Tür ab um zum Bett zu
gehen. Kei beachtete das nicht weiter. Colin kletterte zu ihm und
über ihn, bis er rittlings auf ihm saß.
„Ich habe Recht, oder?“ Er lächelte.
„Nein, du hast immer noch was vergessen,“ entgegnete Kei
nüchtern. Colin beugte sich zu ihm hinunter, wobei er sich auf
seinem Rücken abstützte, und küsste seinen Nacken, nachdem er die
Haare etwas zur Seite gestrichen hatte.
„Nummer Acht: Blowjobs,“ sagte er leise.
„Fehlt noch was,“ sagte Kei und sah weiter aus dem Fenster, wobei
es mit Colin auf ihm nicht sehr bequem war, geradeaus zu gucken.
„Was?“ Colin biss sanft in ein Ohr.
„Rate weiter. Es fällt dir noch ein.“ Auf Keis Gesicht zeichnete
sich ein leichtes Grinsen ab – für Colin aufgrund von Keis
Position unsichtbar.
„Keine Lust,“ sagte Colin plötzlich ungerührt und stand auf.
„Dann nicht.“ Kei blieb liegen und sah weiter auf die Landschaft
draußen, welche man eigentlich nicht als solche bezeichnen konnte,
weil sie aus Dächern und Wänden bestand.
Die Zimmertür wurde unsanft von außen geschlossen.
Kei veränderte seine Position nicht und besah sich weiter die Häuser
draußen.
Bald drang wie am Morgen wieder Musik aus dem Wohnzimmer nach oben.
Wieder war es Rock'n'Roll, scheinbar von Schallplatten oder
Tonbändern. Kei hörte zu, dachte nach und legte irgendwann den Kopf
auf die Matratze. Nach einer Weile drehte er sich um, sodass sein
Blick in Richtung Zimmerdecke ging. Seine Augen fanden dort nur einen
Leuchter. Den betrachtete er eine ganze Weile lang.
Stundenlang ging die Musik noch weiter, und es kam niemand herauf,
bis es draußen allmählich dunkler wurde. Die Schritte gehörten
nicht Colin und sie bewegten sich nur schlurfend an der Zimmertür
vorbei und in das schräg gegenüberliegende Badezimmer. Kei schenkte
den Schritten keinerlei Beachtung, da sie weder Colins waren, noch
sein Zimmer zum Ziel hatten. Stattdessen lauschte er weiter auf die
Musik, als deren Urheber er Colin vermutete. Tatsächlich ertönte
sie mittlerweile nicht nur aus alten Lautsprechern, sondern war
gelegentlich von klareren Klavierpartien begleitet und von Gesang und
Gelächter in mehreren Stimmen durchsetzt. Der Vampir ließ es
bleiben, sich der unten herrschenden guten Stimmung anzuschließen,
er hörte dem Treiben lieber aus der Ferne zu.
Nach einigen Minuten stand er auf und machte – samt
Zigarettenschachtel – einen Satz aus dem Fenster. Er landete so in
der Abstellgasse zwischen den Häusern, dass man ihn von den Fenstern
und der Straße aus nicht sehen konnte.
Während er seine Zigarette anzündete, gingen auch die
Straßenlaternen nacheinander an. Noch war es nur grau und dämmerig,
aber nicht richtig dunkel. Hier draußen konnte man die Musik nur
noch sehr schwach vernehmen, wenn man genau horchte und ein sehr
gutes Gehör hatte. Kei hörte die leise Musik zwar, achtete aber
nicht mehr richtig darauf. Er widmete sich seiner Zigarette und sah
dem Himmel beim Dunkelwerden zu.
In den folgenden Tagen und Nächten sprach Colin kaum mit ihm, obwohl
er weiterhin bei ihm im Bett schlief. Einmal stand er in den frühen
Morgenstunden auf und schlug ein paarmal seinen Kopf laut gegen den
Holzschrank.
Kei öffnete müde die Augen und sah angesichts des nervenden Lärms
in Richtung Schrank und Colin. Der stand in sehr angespannter Haltung
da und trug nichts als seine Schlafboxershorts und die Eisenklaue,
die er aufgeklappt in beiden Händen hielt und deren Klingen sich
noch wenige Zentimeter von seiner Kehle entfernt befanden. Sein
Gesicht war verkrampft und seine weit aufgerissenen Augen starrten
auf den Metallhandschuh vor seinem Gesicht, während er den Kopf noch
einmal nach hinten riss und gegen die Tür des Kleiderschranks
schlug.
„Du sollst dich nicht umbringen...“ Kei stand etwas müde auf,
nahm Colin den Handschuh weg und stellte sich zwischen ihn und den
Schrank. Dabei stolperte Colin ungelenk dem Eisenhandschuh nach,
bekam ihn aber nicht zu fassen und drehte sich stattdessen
schwerfällig zu Kei um und sah ihn mit zusammengebissenen Zähnen
verzweifelt an. Kei erwiderte den Blick ruhig und blieb stehen, wo er
war. Den Eisenhandschuh warf er außer Reichweite seines Freundes auf
den Boden. Dem schweren Scheppern auf dem Boden wandte Colins Körper
sich mit einem Ruck zu. Dann zuckten seine Beine und rannten ohne
Mitarbeit des restlichen Körpers auf die freie Wand zwischen Tür
und Kleiderschrank zu. Kei war schneller und stand wieder vor Colin,
bevor der sich einen ganzen Meter bewegt hatte. Colins gesenkter Kopf
krachte mit der Stirn voran in Keis Brust. Er hielt den Kleineren an
den Schultern fest und hinderte ihn so daran, seinen Rammversuch zu
wiederholen.
Schlag mich doch einfach! Davon muss ich aufwachen!
Colin zog und und drückte noch eine Weile und versuchte, sich aus
Keis Griff zu winden, ohne dabei die Arme zu heben.
Kei stieß ihm tatsächlich die Faust in den Magen, um ihn
zurückzuholen. Das war die beste Methode, Colin schnell wieder zur
Besinnung kommen zu lassen. Angesichts der Selbstheilungskräfte des
Kleineren war das nicht einmal wirklich schädlich.
„Hng!“ Colins Körper wurde durch den Stoß etwas rückwärts
geworfen und krümmte sich leicht, als Kei ihn losließ und er
zurückstolperte. Er hielt sich ächzend den Bauch.
„Wieder da?“
Colin nickte nur eilig. Sprechen war noch nicht drin. Mühsam
richtete er sich auf und tastete nach dem Bett, auf das er sich
setzte.
„Danke... aber musste das so fest sein?“ beschwerte er sich
schließlich und rubbelte sich über das Gesicht, das er nun auch
endlich wieder bewegen konnte.
„Vom Streicheln wirst du nicht wach,“ kommentierte Kei und ließ
sich wieder aufs Bett fallen. Von der Tür entfernten sich langsame
Schritte. Colin sah kurz zur Tür.
„Man könnte meinen, du hättest Spaß dran, mich zu verprügeln,“
sagte er schlicht und legte sich auch wieder hin, neben Kei.
„Dann würde ich das nicht machen, wenn du versuchst dich
umzubringen,“ sagte Kei schlicht und schloss die Augen. Es war noch
tiefste Nacht, da war noch ein bisschen Schlaf zu holen.
Nachdenklich betrachtete Colin ihn noch ein paar Minuten lang, bevor
er sich wegdrehte und den Schrank anstarrte. Kei brauchte nicht lang,
um tief und fest einzuschlafen.
Als er aufwachte, war Colin schon aufgestanden, wie die Tage zuvor
auch. Was diesmal anders war, war die Versammlung im Wohnzimmer.
Neben Frau Quan und Dennis waren Delilah, Rupert, der Japaner aus
Brasilien und noch vier Unbekannte dort. Colin saß auf dem
Klavierhocker und aß langsam einen Muffin. Die anderen hielten alle
Becher und Tassen mit Kaffee oder Tee in den Händen und waren auf
dem Sofa, den Sesseln oder stehend um den Kamin herum verteilt.
Kei ging, nur mit einer schwarzen Jeans bekleidet, nach unten und
leise ins Wohnzimmer. „Was is'n hier los?“ fragte er schließlich.
„Wir können ins Schloss zurück,“ sagte Dennis. Die Anwesenden
musterten Kei teilweise neugierig und sahen Dennis interessiert an.
Außer Delilah, Colin und dem Japaner verstand wohl niemand, was
Dennis und Kei von sich gaben. „Hast du dich entschieden?“ fragte
er Kei mit seinem typischen gelassenen Lächeln. Colin sah Kei
gespannt an.
Der Instanz die Stirn zu bieten ist besser als vor ihnen
davonzulaufen und zu hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen. Aber das
bedeutet auch, nach ihren Regeln spielen zu müssen. Alleine schaffe
ich das niemals... Kei wollte sich nicht unterordnen müssen,
aber er hatte noch weniger Lust auf ein Leben auf der Flucht. Er
überlegte eine ganze Weile, bis er er schließlich eine Antwort
verlauten ließ: „Ich bleibe – zumindest vorerst.“
Colin lächelte und sah Delilah mit einem Blick an, der zumindest für
sie und Kei eindeutig Triumph ausdrückte. Sie bedachte ihn mit einem
schmunzelnden Seitenblick, während Dennis offen grinste.
„Then we'll be off. Rupert, you're taking Colin, Kei, du fährst
mit Delilah, and the others know where and how to go,“ verkündete
er.
Es folgte allgemeines Rascheln, als alle langsam aufstanden und ihre
teilweise nicht ganz geleerten Tassen auf einem Tablett abstellten,
das hinter Colin auf dem Klavier stand. Er stand auch auf, damit er
sich nicht für jeden Arm ducken musste, der hinter ihn langte. Kei
nickte und machte kehrt, Sachen packen. Das waren zwar nicht viele,
aber zurücklassen wollte er nichts.
Als er wieder unten ankam, zuppelte Frau Quan gerade an einer Mütze
herum, die sie Colin aufgesetzt hatte. Sie schien zu glauben, dass er
sich verkühlen konnte. Da es tatsächlich sinnvoll war, seine nun
recht auffällige, da beinahe haarlose, Erscheinung unauffälliger zu
machen, bemühte Colin sich nicht, dieser netten Frau, deren Gast er
nun tagelang gewesen war, zu erklären, dass ihm Kälte nichts
ausmachte. Er ließ sie machen und nahm es auch hin, dass sie ihn
noch in einen Schal einpackte, was Dennis, der schon in der Tür
stand, mit etwas mitleidigem Blick mitansah.
„Schön, dass meine alte Garderobe noch einen Nutzen hat,“ sagte
er. Außer ihm, Colin und Frau Quan schienen alle bereits das Haus
verlassen zu haben. „Delilah ist bei den Motorrädern neben dem
Haus,“ sagte er Kei, als er ihn sah.
Kei, dessen Habseligkeiten auf den Rucksack und die Taschen seiner
Jacke, die er seit der Flucht aus Japan besaß, verteilt waren,
nickte und schaute kurz leicht belustigt zu Colin hinüber. Dass sein
Freund, mit dem er schon so einiges erlebt hatte, in jemandem einen
Beschützerinstinkt wecken konnte, wie man ihn einem Kind gegenüber
hat, fand er sehr amüsant. Er wäre niemals auf die Idee gekommen
auch nur zu versuchen Colin warm einzupacken. Zu guter Letzt und
allem Überfluss umarmte und küsste sie Colin auch noch zum
Abschied, der sich das verlegen gefallen ließ und sich nett für die
Gastfreundschaft bedankte und jegliche Umstände entschuldigte.
„Let him go, mum, we've got to go now,“ steuerte Dennis bei und
bekam zur Strafe auch noch eine feste Umarmung mit einer schimpfend
klingenden Verabschiedung. Kei lachte und ging an den sich
Verabschiedenden vorbei.
„Thanks for having us here,“ steuerte er dazu bei.
„Oh no no there,“ schimpfte Frau Quan streng und packte Kei am
Ärmel, um ihn auch noch in eine erdrückende Umarmung zu zwingen.
Dessen Reaktion war große Verwirrung und ein Anflug von
Überforderung, trotzdem ergab er sich einen kurzen Moment und
erwiderte die Umarmung kurz. Dennis' Mutter war die dritte Person,
die ihn jemals in seinem Leben umarmt hatte. Nun war Colin mit
Grinsen an der Reihe, doch es sah überhaupt nicht hämisch aus. Er
schob sich an Kei vorbei und ging mit Dennis hinaus, wo ein
rothaariger Mann in einem silbernen Audi wartete.
Nachdem Kei die ältere Dame wieder losgelassen und sich noch einmal
wie ein anständiger Japaner verabschiedet hatte, ging auch er hinaus
und begab sich mit zügigen Schritten zu Delilah und den Motorrädern.
Sie saß bereits auf ihrem und wartete darauf, dass er sich seinen
Helm aufsetzte, ehe sie ihm drei behandschuhte Finger zeigte. Der
Audi fuhr inzwischen los.
Kei stieg auf das Motorrad und sah sie fragend an. Zeichensprache
konnte er nicht. Sie tippte auf ihr linkes Handgelenk und zeigte dann
wieder ihre drei Finger.
„Wir fahr'n in drei Minuten?“ versuchte Kei sich an einer
Interpretation des Gezeigten. Delilah rollte genervt die Augen und
machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie einfach losfuhr. Kei
fuhr hinterher. Sollte sie doch aufschreiben, was sie wollte. Das
wäre viel einfacher!
Nach etwa drei Stunden näherten sie sich dem Schloss, diesmal von
einer anderen Seite als das erste Mal. Unterwegs hatten sie einmal
getankt, und Delilah hatte keinen weiteren Kommunikationsversuch
unternommen. Kei war die Ruhe auf der Fahrt willkommen. Nicht, dass
Delilah eine wirklich laute Person war, aber auch die Abwesenheit von
Kommunikationsversuchen war gut.
Als sie ankamen, parkte Kei sein Motorrad unweit des Autos mit dem
Colin und Rupert gefahren waren. In diesem Unterstand waren noch die
schwarze Limousine, ein Geländewagen und zwei weitere Motorräder
abgestellt. Delilah verstaute ihre Helme in einem Spind, der nebenan
in der Garage stand, und begleitete Kei durch den Seiteneingang
hinein.
Nachdem Kei erfahren hatte, dass er das gleiche Zimmer wie vor dem
Zwischenstopp in dem Haus nach Colins Rettung beziehen würde,
brachte er sein Zeug dorthin und warf es einfach aufs Bett. Die
Badezimmertür stand offen. Kei ging nachsehen, wer sie göffnet
haben könnte und stieß am anderen Ende des Badezimmers auf einen
weiteren Schlafraum, der – wie sich bei genauerem Hinsehen
herausstellte – Colin gehören musste. Die Jacke, die Mütze und
der Schal, die er von Frau Quan bekommen hatte, lagen auf dem
Himmelbett, das dem Keis sehr ähnelte. Überhaupt sah das ganze
Zimmer fast genauso aus wie seins. Colin selbst war nicht da.
Kei ging zurück in sein Zimmer und packte seine Sachen aus,
sortierte sie weg. Da er eine Weile hier bleiben würde, musste er
nicht immer aus seinem Rucksack leben. Das hatte Vorteile. Er ging
durch das Haus und erkundete es. Bisher hatte er das eher draußen
getan.
Die unverschlossenen Türen auf seinem Flur führten fast alle zu
weiteren großzügigen Zimmern, die allesamt zum Wohnen eingerichtet
waren. Eine einzige am Ende des Ganges, der an einer Wand mit Fenster
endete, führte zu einem einfachen, recht engen Treppenhaus mit
winzigen Fenstern. Am anderen Ende mündete der Flur in die Galerie
über der Eingangshalle. Ging man das Geländer entlang, kam man zu
einem weiteren Flur, der fast wie das Spiegelbild des ersten wirkte.
Hier waren die Räume nur etwas anders eingerichtet. Unter anderem
gab es hier das Büro, in dem die Gruppe Kei empfangen hatte und
Kriegsrat hielt und einen Raum mit Billardtisch, Dartscheibe, einer
schwarzen Tafel auf die eine Strichliste gezeichnet war, einem großen
Sofa, Flachbildschirm, mehreren Spielkonsolen, Kartentisch und
anderen deutlichen Anhaltspunkten, die auf ein Spielzimmer
hindeuteten.
Im Erdgeschoss gab es neben der Eingangshalle einen Saal mit
Kronleuchtern, Wandteppichen, alten Waffen und Fresken an den hohen
Wänden, in dem ein langer Tisch mit über zwanzig Stühlen und
verschiedenen Beistelltischen stand, die allesamt mit Laken abgedeckt
waren. Den hatte Kei schon einmal gesehen, denn die zweite Tür
führte zu einem Salon, in dem sie schon gegessen und getrunken
hatten. Er war wie ein reiches, sehr altmodisches Wohnzimmer mit
Esstisch eingerichtet - oder so, wie Japaner es sich vielleicht
vorstellten. Die beiden anderen Türen in diesem Zimmer führten zum
einen zurück in die Eingangshalle und zum anderen an der Fensterwand
entlang zur Bibliothek. Just aus dieser schwang Kei nun beschwingte,
fröhliche Geigenmusik entgegen. Er wusste, dass diese von Colin
stammen musste, ging aber nicht nachsehen. Stattdessen sah er sich
weiter um. Vielleicht gab es einen Keller in dem auch noch etwas zu
entdecken war. Colin zuhören konnte er später.
Er fand eine einfache Tür zum Treppenhaus und fand das Reich der
Bediensteten. Es schien im Moment nicht bevölkert zu sein, sah
allerdings benutzt aus. Ein großer, offener Raum mit langem
Holztisch und einer Holztafel voller Glocken war von der Treppe aus
als erstes ersichtlich. Direkt daneben gab es eine Küche, die recht
modern eingerichtet war. Hier war nichts abgedeckt oder auf Dauer
verstaut, wie es Kei schien, und es standen Kräutertöpfe und
Kochgeschirr offen herum. Zwei große Kühlschränke summten an einer
Wand.
Einen dunklen Flur entlang gab es noch ein paar verschlossene Türen
und einen Raum mit Lebensmittelkonserven, Gemüse, Reis, Nudeln und
dergleichen. Beinahe am Ende des Ganges, wo eine Tür nach draußen
führte, gab es noch einen offenen Raum, in dem Schuhe, Stiefel,
Mäntel und Werkzeuge verstaut waren. Einer der Schränke bot eine
Auswahl verschiedener Waffen, und zwei weitere Schränke mit
vergitterten Türen lockten mit ähnlichem Inhalt, waren allerdings
verschlossen.
„Hello? Can I help you?“ fragte eine weibliche Stimme durch die
offene Tür.
„Nah, I'm just taking an inside walk,“ entgegnete Kei leise und
machte auch wieder kehrt. Im Schloss – es war ein wirklich großes
Schloss – hatte er alles gesehen. So viel Raum für so wenige
Leute. Er hatte immer geglaubt, seine Wohnung in Tokyo sei riesig,
aber das hier übertraf alles.
Die Frau trat zur Seite, um ihn vorbeigehen zu lassen und sah ihm
nach. Sie folgte ihm eine Weile den Gang entlang, bis sie zur Küche
kamen, wo sie haltmachte und ihre Schultertasche auf einem Tisch
ablegte.
Als Kei aus dem Treppenhaus kam, schloss sich ihm schräg gegenüber
gerade die Tür zur Bibliothek, aus der immer noch Colins Musik
drang.
Freudestrahlend probierte Colin die Geige aus, die Rupert ihm gerade
in die Hand gedrückt hatte. Er hatte sie sofort gestimmt und stellte
nun fest, dass sie nicht nur wunderschön und alt war, sondern auch
klang, als hätte Antonio Stradivari sie persönlich in die Welt
gehext. Rupert saß vor ihm im hohen grünen Ledersessel und lehnte
sich gelassen zurück. Er sah und hörte Colin zu, der gleich begann,
so gut er konnte, aus der Erinnerung Jesu Joy of Man's Desiring
zum besten zu geben. Genüsslich und in aller Ruhe bespielte er die
Bibliothek mit den zarten Klängen.
„Bach,“ murmelte Rupert lächelnd.
Kei betrat den Raum leise und setzte sich dort auf den nächstbesten
Stuhl, den er finden konnte. Einen lederbezogenen, der neben einem
antiken Schreibtisch nahe der Tür stand. Am Schreibtisch selbst
lehnte Delilah, die Kei zur Begrüßung anlächelte, ehe sie wieder
zu Colin sah. Er stand vor Ruperts Sessel, der friedlich lächelnd
zuhörte, und jagte fröhlich durch verschiedene, bekannte klassische
Melodien, die er mit ein bisschen Improvisation versetzte wie es ihm
gerade einfiel. Auf den beiden Sofas rechts und links des Kamins
saßen Jane, die kurzhaarige Frau, die mit ihnen nach London gefahren
war, Motoki und ein weiterer Mann, den Kei bereits gesehen hatte aber
noch nicht mit Namen kannte. Teils gebannt, teils gespannt sahen und
hörten sie Colin still zu.
Colin selbst wirkte etwas surreal, wie er mit seinem Sex
Pistols-T-shirt und den zerrissenen Jeans wie ein Skinhead hier in
dieser hochherrschaftlichen Umgebung stand und auf einer antiken
Violine spielte. Er schien sein Publikum nicht zu beachten und
spielte nur vor Rupert. Allerdings sah er auch ihn nicht an, sondern
nur die Geige und seine Finger, wenn er die Augen für eine Weile
öffnete.
Kei legte sich halb hin, ließ die Beine über die Lehne des Sessels
baumeln und schloss die Augen. Das war fast wie zuhause in Tokyo. Er
hörte einfach nur zu, während er selbst sich eine neue Gitarre
wünschte.
Colins Gesicht und Haltung strahlten die mal friedliche, mal
übermütige Stimmung aus, die er augenblicklich mit der Musik
ausdrückte. Das schien sich auf die Zuhörer zu übertragen, sodass
selbst Delilah und die spröde Jane zwischendurch etwas benebelt
grinsen mussten. Als er schließlich, nach langen melodiösen
Minuten, endete, klatschten sie, Motoki und der Fremde, und Motoki
ließ ein sachtes „Wuhu!“ ertönen.
Kei lag einfach da und gab keine Gefallensbekundungen zum Besten –
musste er auch nicht. Colin wusste ohnehin, ob es ihm gefiel oder
nicht. Wenn nicht, verschwand der Vampir in der Regel einfach wieder.
Colin grinste verlegen und kratzte sich den stoppeligen Skalp. Als er
sich theatralisch verbeugte, bemerkte er Kei und zwinkerte ihm zu.
„Thank you. I needed that,“ sagte er zu Rupert.
„I think we all did. Keep it,“ sagte Rupert leise. Colins Blick
wurde ernster und er schluckte, als er sich noch einmal die alte
Violine ansah.
Kei, von dem jemand, der ihn nicht kannte, annehmen musste, dass er
schlief, bemerkte lediglich, dass Colin ihn bemerkt hatte und hob die
Hand zu einem müden Gruß. Ansonsten veränderte er seine Position
nicht weiter. Jane und die beiden Männer standen gemächlich auf und
verabschiedeten sich. Delilah stieß sich vom Schreibtisch ab und
folgte ihnen.
'Wir gehen alle schlafen. Für die meisten von uns war es eine
lange Nacht,' erklang die monotone Stimme in Keis Kopf, während
sie hinter den anderen hinausging. Kei nahm das zur Kenntnis.
„Colin?“
Colin sah zu Kei, antwortete aber nicht. Er packte die Geige
sorgfältig in ihren Kasten, der eindeutig neuerer Machart war als
sie selbst. Rupert saß immer noch gelassen in seinem Sessel und sah
ihm zu.
„Bist du immer noch sauer?“
Mit dem Geigenkasten im Arm, wie eine Puppe, sah Colin zu Kei, und
dann vorsichtig zu Rupert. Der blickte gekonnt desinteressiert aus
dem Fenster. Er verstand sowieso nicht, was sie sagten.
„Nein,“ antwortete Colin, während er an Ruperts Sessel
vorbeiging. „Aber irgendwie schon. Weißt du überhaupt, warum?“
Er klang nur ein wenig schnippisch.
„Nein, außer – du bist nicht wirklich deshalb sauer, weil ich
was unpassendes gesagt habe?“ Das konnte Kei sich kaum vorstellen,
aber bei Colin war das durchaus denkbar. Dass er deshalb und nur
deshalb so lange angepisst sein konnte...
Colins Augen weiteten sich überrascht, dann ging er weiter auf Kei
zu. „Du weißt also immerhin, dass es 'unpassend' war. Herzlichen
Glückwunsch. Das war nicht 'unpassend'. Es war ekelhaft.“ Colins
Mund verzog sich etwas und er musste sich sichtlich zusammenreißen.
Er ging auf die Tür zu.
Kei blieb, wo er war. „Meinetwegen auch das. Soll ich jetzt auf die
Knie fallen und um Vergebung flehen?“
„Wär ein Anfang,“ gab Colin kühl zurück und versuchte,
eindrucksvoll die Tür zu knallen, was aber ruhmlos misslang, da der
Teppich dick und die Tür scheinbar irgendwie gepolstert war. Draußen
schnaubte er bloß unzufrieden und marschierte zur großen Treppe. Er
hätte Kei gern noch so einiges an den Kopf geworfen, bei dieser
seltenen Gelegenheit, zu der der Vampirklotz mal von selber reden
konnte, aber mit Rupert im Raum wäre ihm das zu melodramatisch und
billig gewesen.
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