Kei verließ die kleine Grotte und ging wieder in Richtung Eingang.
Auf dem Weg zündete er sich eine Zigarette an. Als er den Hof mit
dem Springbrunnen erreichte, hatte er noch über eine Stunde Zeit,
bis er sich mit Rupert treffen sollte. Sein silberner Audi stand
allerdings bereits herrenlos neben dem Brunnen herum. Da Kei nicht
wusste wie spät es war, ging er hoch in sein Zimmer um auf die Uhr
zu sehen, die dort an der Wand hing. Es war kurz nach ein Uhr. Kei
setzte sich auf sein Bett und sah aus dem Fenster in den Garten. Er
war sich sicher, dass Colin noch in der Höhle saß.
Damit hatte er Recht.
Colin hatte sich das eingerahmte Foto seiner Mutter genommen und sich
wieder auf die Bank gelegt. Er starrte es lange an, abwechselnd mit
der Höhlenwand, und döste irgendwann ein, während es auf seiner
Brust herumlag.
Nach einer ganzen Weile ging Kei wieder hinunter. Ein weiterer Blick
auf die Uhr verriet ihm dabei, dass es fast zwei Uhr war. Wartend
betrachtete er das unauffällige europäische Auto vor der Tür.
Bald trat Rupert aus dem Nebeneingang bei den Garagen und kam
gelassen auf ihn und den Audi zuspaziert. Ihm konnte man, wie auch
Colin, den jahreszeitbedingten Temperaturabfall an seiner Kleidung
ansehen - seinem kurzen Mantel, dem Schal und der Schiebermütze. Im
Unterschied zu Colin trug er die warmen Kleider allerdings nicht aus
Gewohnheit und um nicht aufzufallen, sondern aus Notwendigkeit. Als
er näherkam, piepte der silberne Wagen und seine Scheinwerfer
leuchteten kurz auf.
"A guitar, was it? Anything else on your agenda today?"
fragte Rupert freundlich, während er zur Fahrerseite ging. Kei
schlenderte zur Beifahrertür.
"No, nothing else," entgegnete der Vampir ebenfalls
freundlich. Neue Zigaretten waren kein wirkliches Vorhaben. Er
öffnete die Tür und stieg ein. Kei war nicht wetterfest angezogen.
Seine Lederjacke war wasserdicht, aber nicht wärmend. Da er nicht
fror war ihm das allerdings herzlich egal.
"Isn't Colin coming with us?" fragte Rupert, während er
das Auto startete.
"He's sitting in the cave," entgegnete Kei. Ihm schien das
als Antwort ausreichend. Rupert hielt inne. Ihm schien kurz der Atem
zu stocken. Doch dann sah er sich um und fuhr los.
"Is he alright?"
"I don't think so. He often thinks reality is a dream and his
nightmares are real."
Einige Minuten lang blickte Rupert nur ernst drein. Erst, als sie
schon eine Weile in der Stadt waren, sprach er wieder. Er hielt am
Straßenrand an. Es war der Haltebereich für Busse. Aus einer
Innentasche zog er seine Brieftasche. "That street on the left
there. There's a music shop." Zwischen zwei Fingern hielt er Kei
eine Kreditkarte hin, während er sich die Brieftasche schon wieder
einsteckte. Kei nahm die Kreditkarte mit einer leichten Verbeugung
und leisem Danke an sich und steckte sie in seine Jackentasche.
"We'll meet at the train station at six o'clock," sagte
Rupert mit einem Blick auf seine Armbanduhr. "I'm afraid it
can't be sooner."
"That's okay." Das waren zwar einige Stunden, aber das war
nicht weiter schlimm. Kei konnte sich die Stadt ansehen und den
Bahnhof finden, den Colin am vorigen Tag erwähnt hatte.
"The station is almost at the end of this street, it looks a bit
like a church, you can't miss it," erklärte Rupert mit einem
Vorwärtsnicken. Kei schaute in die gezeigte Richtung.
"Alright. You have something to do here?"
"Yes." Nun lächelte Rupert freundlich. "Now get out
before I get a ticket."
Kei stieg aus dem Wagen und machte sich nach einem knappen "See
ya later" auf den Weg in Richtung des Musikgeschäfts. Rupert
verlor keine Zeit und fuhr wieder auf die Straße zurück, gerade als
sich ein Bus näherte.
Kei folgte der Straße und sah sich dabei genau um, um sich nachher
nicht unnötig zu verlaufen. Das Geschäft hatte er ziemlich schnell
gefunden. Nach Tokyoter Standards war es nichts Großes, aber es
hatte drei Stockwerke und war gut sortiert. Zwischen den Regalen,
Aufstellern und Drahtgestellen an den Wänden standen viele
verschlossene Vitrinen mit den wertvolleren Waren. Was Gitarren,
Verstärker und Mikrofone anging - also das wofür sich die meisten
jungen Kunden am ehesten interessieren mochten - gab es im
Erdgeschoss nicht viel Auswahl, nur ausgesuchte Ausstellungsstücke
als Appetitanreger. Doch ein schmales Schild am Fuß einer breiten,
offenen Treppe gab preis, dass sich die entsprechende Abteilung im
ersten Obergeschoss befinden solle. Kei sah sich lange um, bevor er
sich für eine ganz schwarze ESP- Gitarre und einen kleinen
Verstärker entschied, der bequem in eine Tasche passte. Mit seinem
teuren Einkauf sah er sich eine Weile die Stadt an, bevor er sich
langsam auf den Weg zum Bahnhof machte.
Zwischen anderen Autos stand der silberne Audi auf dem gut gefüllten
Pendlerparkplatz vor dem uralten Bahnhofsgebäude. Rupert lehnte vor
ihm an einer niedrigen Backsteinmauer und schien Zeitung zu lesen.
Als Kei näherkam, blickte er auf und entriegelte das Auto. Er sah
ernst aus.
"Put your things into the boot. We have something to take care
of before we go back," sagte er. Kei packte sein Zeug in den
Kofferraum.
"And what is that?"
"We need to find Colin. Apparently he's nowhere in the castle or
on the premises. And we know he can't have been kidnapped again. So
he must have run away." Er warf die Zeitung auf den
Beifahrersitz und verschloss das Auto wieder. Kei stutzte.
"Did he leave something like a message?"
"No. So..." Rupert kam um das Auto herum zu Kei und sah ihn
eindringlich an, wie ein zorniger Mordermittler unter Zeitdruck. "Did
he say anything to you?"
"Yes. He mentioned something about leaving."
"Did he mention where he'd go, or what he would do?"
"He said something about Scotland."
Rupert hielt inne und sah Kei für eine Sekunde starr an, dann
schnappte sein Blick auf das Bahnhofsgebäude. "You better pray
he hasn't," murmelte er und zog rasch sein Telefon aus der
Jackentasche.
"You think he's there? I'll have a look."
Rupert nickte nur und wartete, dass sein Anrufsziel abnehmen würde.
Kei stieß sich vom Auto ab und joggte auf den nächsten Eingang des
Bahnhofs zu. Er sah sich im ganzen Bahnhof um - sein erster Weg
führte ihn auf die Gleise. Mit den zivilen Wegen hielt er sich dabei
nicht auf, stattdessen sah er sich in Parkoursmanier auch überall
dort um, wo Passanten üblicherweise nicht hingelangten. Von Colin
fand er allerdings keine Spur.
Nach kaum zehn Minuten klingelte sein Telefon. Er zog es aus der
Jackentasche und nahm ab. "Ja?"
"He's in Lancaster, somewhere just off the main campus area. Get
back to Rupert, he'll drive you there. We're on our way, too.
Remember, he can't be recognised by anyone!" Dennis legte auf,
bevor Kei irgendetwas antworten konnte. Eilig lief er auf den
Parkplatz zurück.
"Lancaster, campus area. Dennis is on the way, too."
"I know, hurry." Rupert war bereits beinahe vom Parkplatz
heruntergefahren. Noch während Kei hineinsprang, fuhr er los.
Innerhalb von Minuten waren sie in der Nähe der Universität und
Rupert hielt wieder bei einem Parkverbotsschild an. "You start
looking on foot and I'll search the streets. There's a pub over
there, seems as good a place as any to start." Er nickte auf
eine Straßenecke, wo im Abenddunkel etwa ein dutzend junger Menschen
herumstanden, die rauchten und teilweise lautstark herumalberten. Aus
der Tür hinter ihnen drang laute Musik, wenn sie zwischendurch
geöffnet wurde. Kei machte sich ohne weitere Worte auf den Weg dahin
und zog sich beim Laufen die Kapuze ins Gesicht. Im Pub sah er sich
ruhig um.
Es war kneipengerecht dunkel und laut. Die Gäste schienen allesamt
Studenten oder zumindest Leute im passenden Alter zu sein. Es war
auch ziemlich voll, aber nicht so sehr, dass man es nicht vermeiden
konnte, jemanden anzurempeln. Der Alkohol floss in Strömen und die
lauten Gespräche vermischten sich mit der dröhnenden Musik, die
munter zwischen Rockklassikern, obskuren neueren Bands und aktuellem
Pop wechselte. Hinter dem Schankraum, der voller durch Trennwände
abgeteilter Sitzgruppen und Stehtische war, gab es noch einen Raum
von ähnlicher Größe. Er hatte keine Bar und nur entlang der Wände
einige abgewetzte Sessel und Sofas mit niedrigen Tischen. Hier war es
noch etwas voller als im vorderen Teil. Beim Durchgang und entlang
der Wände standen und saßen die Gäste nur, doch zur Raummitte hin
wurde die Menge bewegter. Wer mutig, albern oder betrunken genug war,
tanzte dort.
Colin auch.
Kei fand ihn ziemlich schnell und näherte sich ihm von hinten. „Wenn
du einfach so verschwindest, mach ich mir Sorgen,“ teilte er ihm
ins Ohr flüsternd mit. Colin hielt kurz inne, schien aber sonst
nicht zu reagieren. Er hielt nur seine Mütze mit einer Hand fest,
als er sich auf die Knie fallen ließ, während aus den Lautsprechern
Ville Valo „The world was on fire and no one could save me but you“
sang und er dazu die Lippen bewegte. Kei ließ sich mit auf den Boden
fallen. Colin hielt die Hände vor das Gesicht und beugte sich vor.
Kei hockte hinter ihm und beobachtete ihn, während er sich nur
leicht nach vorn beugte. Colin schien sehr betrunken, etwas verheult
und geistig ziemlich abwesend zu sein. Kei entschied, dass es nicht
viel bringen würde, mit ihm zu reden. Nicht zwischen all den
Menschen und mit dem ganzen Alkohol im Blut. Er hob ihn beim
Aufstehen hoch. Aber nicht ohne Widerstand. Während er ihn hochzog,
versuchte Colin, sich aus seinen Händen zu winden und sich zu ihm
umzudrehen. Das Umdrehen ließ Kei zu. Allerdings ließ er ihn nicht
ganz los. Mit geröteten Augen und Lippen und insgesamt nassem
Gesicht musterte Colin ihn erst verwundert, dann lächelte er
plötzlich und fing an zu lachen.
„Was ist so lustig?“
Colin tippte ihm auf die Brust. „Du.“ Er strahlte ihn fröhlich
an und warf die Arme auseinander. „Du enttäuschst mich nie! Ich
möchte nicht mehr aufwachen,“ fügte er leiser hinzu, indem er
sich dicht an Kei drückte.
„Du bist wach, nur betrunken,“ erzählte Kei ihm.
„Ja... natürlich bin ich wach. Und seeeeehr betrunken. Und ich bin
heeeellwach...“ Er schaffte es, gleichzeitig zu schmunzeln und zu
schluchzen und riss an Keis Gürtelschnalle herum, als wollte er sie
öffnen.
„Versuch das, wenn du motorisch dazu in der Lage bist.“ Kei
lachte ihn nicht aus, schmunzelte aber. Er nahm Colin mit nach
draußen, schließlich wollte er wissen, was der Kleinere hier
machte. Unterwegs wurde er von ihm ausgiebig befummelt.
„Meine Jacke ist noch drin,“ sagte Colin draußen mit dem Gesicht
irgendwo an Keis Hals.
„Die holen wir später.“ Kei befand, dass Colin seine Jacke jetzt
nicht brauchte und sie wohl in den nächsten Minuten nicht wegkommen
dürfte. Er schlug den Weg ums Gebäude ein, wo sie nicht gesehen
werden würden. Sein Vorhaben, ihn zum Weglaufen zu befragen,
verschob er lieber. Als sie um ein paar Müllcontainer herumgegangen
waren, blickte Colin seinerseits kurz um sich, bevor er Kei mit einem
wissenden Schmunzeln bedachte.
„Du willst kein Publikum haben. Was für ein Gentleman. Mir hätte
das aber nichts ausgemacht. Sie hätten überhaupt nichts
wahrgenommen, weißt du? Was ich träume, gehört mir und ich kann
damit machen, was ich will.“ Colin küsste Keis Kinn und kniete
sich vor ihn.
„Wer weiß, ob deine Träume Eigendynamik haben.“ Da er wusste,
dass die Leute nicht das Produkt von Colins Träumen waren und
eventuell nicht alle einen Porno auf der Tanzfläche wollten, ließ
er das unkommentiert. Ihm war bewusst, dass Colin Realität und Traum
nicht auseinanderhalten konnte, aber jetzt gerade war das in Ordnung.
Ob der Kleinere das auch auf ihn bezog, wusste Kei nicht - was das
für Ausmaße annehmen würde, interessierte ihn aber schon.
„Dieser hier scheint eine zu haben.“ Colin schmunzelte dreckig,
als er die Wölbung in Keis Hose befühlte. Als er wieder zu Kei
hinaufsah, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst und er hielt
inne. Seine Hände zuckten zurück und er setzte sich verwirrt
dreinblickend auf seine Fersen.
„Könnte daran liegen, dass ich real bin,“ sagte Kei und sah
fragend zu ihm hinunter.
„Ich weiß,“ flüsterte Colin, während er auf Keis Stiefel vor
sich starrte. „Du bist... ich glaube... hast du gerade wirklich...“
Er hielt sich eine Hand vor den Mund.
„Dich aus ‘nem Club entführt um zu vögeln oder gesagt, dass ich
mir Sorgen um dich mache?“
Colin schauderte und sah ungläubig zu ihm auf.
Kei schaute zurück. „Du hast beides nicht geträumt.“
Mit knirschenden Zähnen und nun auch großzügig tränenden Augen
stand Colin langsam auf, und vorsichtig, damit ihn dieses
alkoholbedingte Schwindelgefühl nicht sofort wieder umwerfen konnte.
Er starrte Kei dabei an, mal sein Gesicht, mal sein T-shirt oder
seine Hose, aber er gab darauf Acht, ihn nicht zu berühren. Kei nahm
ihn einfach in den Arm, auch wenn er eigentlich lieber etwas anderes
getan hätte, aber Colins Laune hatte sich ja schlagartig gegen
Intimitäten entschieden. Colin stemmte sich gegen ihn und versuchte,
einen Schritt zurückzugehen.
„Lass mich sofort los,“ flüsterte er.
„Willst du wieder abhauen?“
„Ja.“
„Dann nicht.“
„Bitte.“
„Warum bist du einfach weggelaufen?“
„Ich kann machen, was ich will. Ich wollte ausgehen. Lass mich
los.“
Kei ließ ihn los. „Kann ich mitkommen? Wir können ja zusammen
saufen und uns auf der Tanzfläche blamieren.“
Colin nahm eilig ein paar Schritte Abstand und lachte schluchzend.
„Nein.“
Kei sah ihn an. „Was ist los mit dir?“
„Nichts, ich bin bloß wach.“ Colin lachte fast ungläubig, als
er Kei weiter anstarrte.
„Gut.“ Kei wandte sich in Richtung Straße, blieb aber stehen.
Colin blieb wo er war und beobachtete ihn nur. „Du musst lernen,
Realität und Träume auseinanderzuhalten.“
Colins Gesichtsausdruck wandelte sich von verzweifeltem Staunen zu
verletztem Trotz. Schniefend wischte er sich mit den Ärmeln über
das Gesicht. Kei hatte nicht beabsichtigt ihn irgendwie zu verletzen,
aber wenn das half, ihn aus seinem komischen psychischen Traumland zu
holen, war das gut.
„Ich geh Rupert Bescheid sagen, dass du dich nur besaufen wolltest
und alt genug bist, das ohne Nachricht zu tun.“
„Okay. Ich gehe meine Jacke holen,“ sagte Colin leise und ging an
Kei vorbei. Kei sah ihm nach und schrieb derweil Rupert in einer SMS,
dass er Colin gefunden hatte. Keine zwei Minuten später kam Colin
wieder heraus und stellte sich zu Kei an den Straßenrand, um
geradeaus auf die gegenüberliegende Straßenseite zu starren. Die
Hände hatte er in den Taschen des kurzen Mantels. Kei wartete stumm
darauf, dass Rupert sie wieder einsammeln würde.
Kurz darauf hielt der silberne Audi vor ihnen und Colin öffnete ohne
Umschweife die hintere Tür, um auf den Rücksitz zu klettern. Rupert
sah ihn mit strengem Argusblick an und schien sich auf die Zunge zu
beißen. Kei setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Er war nur Saufen.“
Wie als Antwort darauf betätigte Rupert einen Knopf in seiner Tür,
der sämtliche Türen klicken ließ, sobald die Jungs ihre beiden
geschlossen hatten. Ohne ein Wort fuhr er los.
Kei sah die ganze Fahrt über wortlos aus dem Fenster. Colin tat es
ihm gleich, wechselte jedoch zwischen der nächtlichen Aussicht und
dem Anblick der stummen Halbprofile von Rupert und Kei vor sich ab.
„Kei. Ich bin wach,“ sagte er plötzlich ruhig. „I'm wide
awake,“ fügte er noch für Rupert hinzu.
„Das ist gut,“ entgegnete Kei ebenfalls ruhig. „Dir dabei
zuzusehen, wie du die Realität für einen Traum hältst ist schwer.“
„Ja... das hier tut mir wirklich Leid.“ Es raschelte kurz und ein
leises glitschendes Geräusch ertönte, kurz bevor etwas warmes auf
Ruperts linke Wange und durch den Spalt in Keis Kopfstütze auf
dessen Nacken spritzte. Kei drehte sich um und sah auf Colin. Der saß
mit zurückgeworfenem Kopf zuckend da und gurgelte leise, während
ein dunkler Spalt in seiner Kehle großzügig troff und in kurzen
Abständen ein bisschen sprühte. Rupert wischte sich verwirrt über
die Wange und warf einen Blick in den Rückspiegel.
„The bloody fuck-“ Er trat das Gaspedal herunter und raste mit
über hundert Sachen den langen Kiesweg zum Schloss hinauf.
„Fuck...“ war alles, was Kei herausbrachte. Das Zucken und
Fließen flachten schnell ab und hörten bald ganz auf. Vor dem
Haupteingang hielt Rupert kiesspritzend an, sodass Colins Körper
nach vorn geschleudert wurde und er in den Fußraum rutschte.
„Get him the fuck inside!“
Kei stieg aus, packte Colin und trug ihn nach drinnen. „What's
going on with him?“
„How the hell should I know? You know him best.“ Rupert eilte
voraus und hielt ihm die Türen auf, bis sie in Colins Zimmer
angelangt waren, dicht gefolgt von Dennis, der Colin mit großen
Augen betrachtete.
„Well, he was killed and after that lived on human flesh but this
never happend,“ erklärte Kei ruhig.
„You mean he‘s never tried to kill himself?“ Rupert klang
gleichzeitig sarkastisch und aufgebracht.
„Leg ihn hin,“ sagte Dennis und deutete auf das Bett. In diesem
Moment kam Delilah durch die offene Tür gelaufen. Sie glotzte wie
Dennis, bis Rupert sie wütend anstarrte und sie ihm dafür schnell
etwas in die Hand gab. Rupert starrte darauf und warf es dann auf den
Boden.
„What's Colin doing with a switchknife?!“ wetterte er. „Is
NOBODY taking ANY responsibility around here?!“
„He constantly tries to kill himself but he usually is not that
effective. Not with a knife...“ versuchte Kei. Rupert riss sich die
Mütze herunter, um sich durch die Haare zu fahren, während er den
sehr leblosen, sehr blutigen Jungen auf dem Bett betrachtete. Auf
einen Blick von Dennis hin nahm Delilah ihn beim Arm und führte ihn
zu einem Stuhl. Danach schloss sie die Zimmertür. Dennis sah Colin
an.
„Glaubst du, dass das auch wieder heilt?“ Er blickte kurz zu Kei.
„Das hat er immer getan, wieso nicht jetzt?“
„Weil er tot ist. Ist das zwischendurch mal passiert?“
„Er war gestorben bevor er so... untot war und eigentlich war er
zwischendrin ständig klinisch tot, aber doch lebendig.“
Colins Körper schien nun eindeutig eine Leiche zu sein. Nichts an
ihm regte sich, nur das Blut, das seinen Hals bedeckte und seine
Kleidung großzügig durchtränkt hatte, schimmerte gelegentlich im
Lampenlicht. Dennis stand still da und sah ihn mit ernster Besorgnis
an. Delilah, etwas weiter entfernt, war sein perfektes Ebenbild.
Rupert war unruhig. Er fuhr sich verzweifelt über das Gesicht und
durch die Haare und saß so vornübergebeugt auf der äußersten
Kante der Sitzfläche, als wollte er gleich aufspringen und zum Bett
stürzen. Kei stand neben dem Bett und sah auf Colin. Stumm stand er
da und musterte ihn.
„Ich finde das nicht lustig, Colin. Wach auf.“
Nichts bewegte sich.
Außer Rupert, der nun aufstand, aber von Delilah zurück in den
Stuhl gedrückt wurde. „Do something, for christ's sake! Don't just
stand there! Dennis!“
Kei setzte sich zu Colin aufs Bett, nachdem er ihn einfach so
hingelegt hatte, dass er neben ihm sitzen konnte. Er legte eine Hand
auf Colins Gesicht. Es war kühl und reglos. Seine Augen waren
geschlossen, aber das waren sie die ganze Zeit gewesen. Kei legte
seine Jacke auf Colin, auch wenn er wusste, dass einem Toten ein
bisschen Wärme wohl egal war. Dann stand er auf und ging wortlos
nach draußen.
Einige Minuten später kam er mit der neuen Gitarre und dem kleinen
Verstärker zurück und setzte sich wieder auf Colins Bett, wo er
anfing, leise Melodien zu spielen.
Delilah und Dennis hatten gerade den aufgelösten Rupert aus dem Raum
entfernt, um Kei seine Ruhe zu lassen, und waren selbst auch nicht
zurückgekommen. Wahrscheinlich kümmerten sie sich um Rupert, das
Auto vor der Tür und die Blutspuren, die von dort zu Colins Zimmer
führten. Womöglich hielten sie auch Kriegsrat. Was auch immer, sie
ließen Kei jedenfalls die ganze Nacht lang in Ruhe. Und er spielte
die ganze Nacht lang.
Erst als draußen der Himmel wieder allmählich von schwarz zu grau
wechselte und ein, zwei Vogelstimmen durch die Fenster drangen, regte
sich noch etwas anderes als Keis Hände.
Colins Kissen raschelte kaum merklich, kurz bevor er mit einem leisen
Gurgeln Luft holte. Kei sah von seiner Gitarre auf und wandte den
Blick zu Colin um zu prüfen, ob sein Gehirn anfing, ihm Streiche zu
spielen. Sachte zuckte Colins Körper, während er mit gerunzelter
Stirn schwach röchelnd hustete. Kei begrüßte Colin mit ein paar
Akkorden und legte die Gitarre beiseite.
„Du hast mich erschreckt.“
Colins Kopf bewegte sich etwas, bis er Kei sehen konnte. Sein Blick
war wach und so kühl wie sein Gesichtsausdruck. Kei musterte ihn.
„Bist du wieder richtig untot?“ fragte er. Er war äußerst
erleichtert, dass Colin nicht tot im Sinne von leblos und verrottend
war, ließ sich davon aber kaum etwas anmerken. Colin sah ihn ein
paar Sekunden lang stumm an und drehte sich dann mit einem leichten
Stirnrunzeln von ihm weg. Keis Blick wandelte sich zu einem
fragenden.
„Du weißt aber wo du bist und wer ich bin, oder?“ versuchte er
einfach mal.
Keine Reaktion.
Bevor ihm der Geduldsfaden riss, stand Kei auf und ging nach draußen,
um Dennis zu suchen und ihm zu sagen, dass Colin wach war, ihn aber
ignorierte.
Dennis stand mit Delilah im Arbeitszimmer. Sie diskutierten in
Gebärdensprache, als Kei sie mit seiner überraschenden Nachricht
unterbrach. Dennis ging sofort zu Colin, während Delilah sich
kopfkratzend und deutlich gemächlicher zu Rupert aufmachte.
Zumindest nahm Kei das an, denn er hatte eigentlich keine Ahnung, was
ihre Handzeichen bedeuteten. Kei folgte Dennis etwas langsamer und
blieb im Türrahmen von Colins Zimmer stehen. Colin lag Dennis
zugewandt da, der sich den Stuhl herangezogen hatte, und schien leise
zu sprechen. Doch als Kei erschien, wanderte sein Blick kurz zu ihm
und er verstummte. Dennis blickte zwischen beiden hin und her.
„Wenn du wegen gestern angepisst bist und ich dich in Ruhe lassen
soll, kannst du‘s auch sagen,“ kommentierte Kei leise.
„Ich bin nicht angepisst,“ murmelte Colin, sodass es selbst für
Kei schwer zu hören sein musste. Er verstand es dennoch.
„Was ist dann los mit dir?“ Kei blieb leise. Dennis senkte den
Kopf und verhielt sich ruhig, um nicht zu stören. Colin schien
nachzudenken. So langsam und lustlos wie er offensichtlich
niedergeschlagen war. Kei wartete ab, und Dennis nahm diese
Gelegenheit wahr, um sich leise an Kei vorbei- und
hinauszuschleichen. Colin bewegte mit geschlossenen Augen stumm die
Lippen.
„... Natürlich kann ich es fassen,“ murmelte er schließlich.
„Das wusste ich doch...“
„Was meinst du?“ Kei schloss die Tür und kam ein Stück näher,
blieb aber mitten im Raum stehen und setzte sich dort auf den Boden.
„Das ist keine Überraschung. Es tut nur weh. Und daran kann man
sich nicht gewöhnen.“ Colins Stimme war nun etwas kräftiger,
sodass man sich nicht mehr besonders anstrengen musste, um in diesem
stillen Zimmer zu verstehen, was er murmelte. Kei hörte nur weiter
zu, in der Hoffnung, Colin würde ihm oder dem Raum mitteilen, wovon
er sprach. Sein blutbedeckter Körper krümmte sich und sein weißes
Gesicht verzog sich kurz, bevor er die Augen öffnete, aus denen
sofort Wasser herausquoll. „Das weiß ich. Ich weiß. Aber jetzt
bin ich kaputt. Ich bin nicht mehr... ich bin dafür nicht mehr...“
wimmerte er.
„Nicht mehr was?“ Kei setzte sich neben Colins Bett, blieb aber
auf dem Boden mit dem Verdacht, dass Colin seinen Zustand meinte und
das, was gerade mit ihm passierte. Colin hielt inne und blickte
suchend auf dem Boden neben dem Bett herum, knapp neben Keis Bein.
„... Ich habe Risse. Wenn du mich weiter trittst und schlägst,
machst du mich kaputt.“
Kei rutschte auf dem Boden herum, sodass er in Colins Reichweite saß.
„Ich gelobe Besserung.“
Colins Blick schien sein Gesicht abzusuchen. „... Meinst du das
ernst?“ flüsterte er.
„Ich werd‘s ernsthaft versuchen.“
„Und wenn du‘s nicht schaffst...“
„Die Option habe ich nicht.“
„Warum?“
„Weil ich dann auch kaputtgehe.“
Langsam schloss Colin die Augen. „Du brauchst mich als Generator.
Damit du nicht stirbst.“
„Nein. Ich existiere weiterhin. Aber du sollst nicht zerbrechen.“
„Zu spät.“ Er drückte das Gesicht etwas ins Kissen und zerrte
ein wenig daran. Das war dem neuen Tränenschwall geschuldet.
„Ich weiß. Aber ich kann‘s wenigstens versuchen.“
Colin weinte weiter, aber sah Kei nun wenigstens wieder an, wenn auch
mit großer Hilflosigkeit. Kei nahm eine von Colins Händen, blieb
dabei aber auf dem Boden sitzen.
„Warum erst jetzt?“ Colin biss die Zähne zusammen und schaffte
es noch, sein Gesicht wieder im Kissen zu vergraben, bevor er
schluchzen musste.
„Ich bin ein gefühlskaputter Idiot,“ war Keis sehr
interpretierbare Antwort. Colin zog Keis Hand, die seine hielt, zu
seinem Gesicht und legte seine Wange etwas darauf. Das führte dazu,
dass Kei im Ganzen etwas schief dasaß. Er wischte ein paar Tränen
weg.
„Ich kann nicht aufhören,“ flüsterte Colin mit geschlossenen
Augen. „Und das tut so weh.“
„Damit, dich umzubringen oder mit weinen?“ fragte Kei ruhig und
leise.
„Dich zu lieben.“
„Ich hör damit auf dir wehzutun. Vielleicht wird‘s dann besser.“
Colin schluchzte wieder, lachte dabei aber ein bisschen.
„War das sehr lustig?“ Kei sprach immer noch sehr ruhig, das
leichte, ganz leichte Lächeln war ihm aber anzuhören. Langsam
schüttelte Colin den Kopf.
„Kein bisschen.“ Er lächelte. Kei lächelte ein kleines bisschen
breiter. Er hing noch immer etwas verdreht halb auf dem Boden und mit
einem Arm auf dem Bett. Colin schloss die Augen und blieb mit seinem
kleinen Lächeln so liegen, auf Keis Hand. Die strich leicht über
sein Gesicht.
Derweil zeigte Dennis, der im Arbeitszimmer mit einem Ohr an der Wand
neben dem Kamin klebte, Delilah und Rupert mit einem erhobenen Daumen
ein ‚OK‘ an. Rupert sank in seinem Schreibtischstuhl etwas
zusammen.
Nach einer Weile streckte Kei sich nach seiner Gitarre und spielte
ein bisschen darauf. Dafür ließ er Colins Gesicht los. Der Junge
sah zwar so aus, als schliefe er friedlich, war aber sehr wach und
hörte der Musik aufmerksam zu. Kei wechselte zwischen Rock und
ruhigen Stücken hin und her.
Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und zwischen den Wolken sogar
gelegentlich zu sehen.
Es klopfte am Türrahmen. Rupert stand in der Tür. Er sah sehr müde
aus. Kei sah zu ihm auf und ließ sein Instrument verstummen.
„Shall I leave you two?“ Er wusste, dass Rupert Colin gern hatte
und dachte, dass er vielleicht mit ihm reden wollte. Der besorgte
Mann nickte dankbar.
„Please.“
Kei stand langsam auf und verließ den Raum, nachdem er sich mit
leichtem Lächeln von Colin verabschiedet hatte. Colin sah ihm
friedlich nach und beobachtete dann, wie Rupert hinter Kei die Tür
schloss, auf ihn zuging und auf dem Stuhl neben dem Bett Platz nahm.
Kei setzte sich neben er Tür draußen auf den Boden und spielte
weiter auf der Gitarre.
Rupert sprach leise mit Colin, der sich im Laufe der Erzählung
allmählich aufsetzte und zwischendurch mit wachsendem Interesse und
immer mehr Lebhaftigkeit Fragen stellte.
Kei achtete nur am Rande auf das Gespräch, das er nicht gut
verstand, weil seine Gitarre zwar leise aber nicht geräuschlos war.
Es dauerte lang. Rupert schien viel zu erzählen zu haben, und als
nach etwa zwei Stunden aus dem Bedienstetentreppenhaus am Ende des
Korridors die Köchin auf ihn zugeschlendert kam, war er immer noch
nicht fertig.
„Got thrown out?“ fragte die junge Frau, ohne anzuhalten. Sie war
in voller Küchenmontur und trug ein Klemmbrett mit eingesauten
Zetteln unter dem Arm.
„They want to talk alone,“ erklärte Kei weiterspielend. Langsam
begannen seine Finger zu bluten, da er das Plektrum vergessen hatte,
aber das kümmerte ihn nicht weiter. Sie nickte gleichgültig und
wanderte weiter, bis sie auf der Galerie abbog und außer Sicht war.
Kurz darauf verstummte das Gespräch im Raum hinter ihm und die Tür
öffnete sich.
Kei schaute auf, die Hände noch an der Gitarre. Rupert sah ihn etwas
überrascht an. Er sah deutlich gelassener aus als bei seinem
Eintreten.
„I‘ll draw him a bath. He needs one.“ Er schaute kurz
unschlüssig über seine Schulter zurück in das Zimmer. „He said I
should tell you.“ Sein Ton verriet, das er selbst das für
überflüssig hielt.
„That he needs a bath?“ Auf Keis Gesicht zeichnete sich die
Andeutung eines Grinsens ab.
„No, that I'm going to stay with him during. I don't have to tell
you why he shouldn't be by himself.“ Rupert lehnte sich an den
Türrahmen, ohne die Tür ganz zu öffnen oder loszulassen und
versperrte so unauffällig aber effektiv den Weg und die Sicht in den
Raum.
„I wasn't going to spy on him,“ kommentierte Kei Ruperts
Im-Weg-Stehen, das aufgrund der Tatsache, dass Kei sich nicht groß
bewegt hatte, völlig unnötig war. Zumindest aus seiner Sicht. Er
hätte aufpassen können, dass Colin nicht versuchte, sich beim Baden
umzubringen, aber da Rupert anscheinend der Meinung war, dass Kei für
derlei Dinge nicht geeignet war, ließ er das Argumentieren einfach
bleiben. Es war wichtiger, dass Colin überhaupt am Leben war. Rupert
musterte ihn kurz ernst, nickte dann und wandte sich wieder zurück
in den Raum.
Kei blieb tatsächlich auf dem Boden sitzen und spielte weiter leise
auf der Gitarre. Der Verstärker war ziemlich leise gedreht, sodass
man schon in Colins Zimmer nicht mehr gut vernehmen konnte, was er
eigentlich spielte.
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