Kei schlief eine Weile, aber nicht sehr lange, und wachte wieder auf,
bevor es draußen hell wurde. Vorsichtig stand er auf, um Colin nicht
zu wecken und schlich in sein Zimmer. Dort zog er sich Hose, Jacke
und Schuhe an, nahm seine Zigaretten und ging leise nach draußen,
eine rauchen.
Colin schlief ruhig weiter, so flach atmend dass es fast nicht mehr
wahrnehmbar war und mit einem sehr schwachen und langsamen Puls. So
blieb er bis zum Morgen reglos und nackt auf dem Bett liegen.
Kei kam eine Viertelstunde später wieder zurück und sah nach, ob
Colin noch schlief. Tat er. Er musterte den Kleineren eine Weile und
deckte ihn zu. Dass Colins Puls so schwach war, besorgte ihn nicht
großartig. Colin müsste theoretisch noch untot sein, da nur sein
Gedächtnis gelöscht worden war. Der Vampir entledigte sich seiner
Kleidung und ging duschen.
In den frühen Morgenstunden fing es an zu regnen und einige Stunden
vor Sonnenaufgang kam das kleine Auto der Köchin auf das Gelände
gezuckelt, die sich wie üblich in der Küche zu schaffen machte.
Kurz darauf begann Delilah, ebenfalls wie immer, in dem großen
Trainingsraum unter dem Dach mit ihren täglichen Übungen. Das war
alles, was passierte.
Kei ging sauber und in Hose und Jacke gehüllt durch das Schloss.
Nicht zu wissen, was er mit dem Morgen anstellen sollte, war scheiße.
Colin würde bald wegfahren und dann würde er ihn erst einmal nur
beobachten können, bis er einen Weg gefunden hatte, Dennis' Vorgaben
zu umgehen. Er nahm seine Gitarre und setzte sich damit ins
Spielzimmer.
Als der Morgen schließlich graute, hatte Colin auch geduscht und
sich angezogen und frühstückte mit Rupert, der sich über Colins
Entschluss, das Internat zu besuchen, freute. Nach seinem üblichen
Stück Toast mit Marmelade und der einen Tasse Tee holte Colin
Mantel, Mütze und Schuhe, um mit ihm loszufahren, seine
Schulausrüstung zu besorgen.
Kei hatte in der Zwischenzeit den Weg in sein Zimmer gefunden und saß
auf seinem Bett herum. Als er bemerkte, wie Colin jenseits des
Badezimmers in sein eigenes Zimmer ging, rief er: “Guten Morgen!“
Vor dem Kleiderschrank hielt Colin inne und überlegte sich viel zu
lang, was er antworten sollte. Schließlich brummte er “Morgen,“
während er den Schrank öffnete und seine Jacke herausholte. Kei
fragte sich, ob Colin noch beleidigt war, fragte aber nicht weiter
nach. Colin zog sich an und ging wieder zur Tür. Er zögerte etwas,
bevor er sie öffnete. Kei steckte den Kopf durch die Badezimmertür,
als Colin zum Verschwinden ungewöhnlich lange brauchte.
“Bist du immer noch sauer auf mich?“ fragte er freundlich und
musterte Colin, der offenbar irgendetwas vorhatte. Colin musterte Kei
genau. Er wollte patzig 'Ja!' sagen, brachte es aber nicht übers
Herz. Verschämt rutschte sein Blick auf den Kleiderschrank. 'Ja'
sagte auch nicht alles aus. Er wollte jetzt kein tiefschürfendes
Gespräch darüber führen. Es war alles schon peinlich genug...
“Nein,“ log er.
Du bist kein guter Lügner. Kei beließ es dabei. “Okay.
Viel Spaß.“ Colin würde entweder bei ihm ankommen, wenn er mit
ihm reden wollte, oder es würde sich eine Gelegenheit dazu ergeben.
Der Vampir verschwand wieder in seinem Zimmer.
'Okay, viel Spaß'? Ernsthaft?! Colin errötete und verschwand
eilig aus dem Raum. Er schloss die Tür etwas zu feste. Was für
ein Wichser.
Kei ging nach draußen. Es regnete noch immer. Diesmal zog er die
Kapuze seiner Jacke ins Gesicht. Er konnte die Rücklichter von
Ruperts Audi sehen, die im grauen Geniesel unter Rauschen und
Knirschen den langen, breiten Kiesweg zur Landstraße hinunterfuhren.
Er entschloss sich dazu, eines der Motorräder zu nehmen und fuhr
langsam die Einfahrt hinunter und einige Straßen entlang, bis er
nach ein paar Stunden Landstraße in einer kleinen Stadt ankam, die
er noch nicht kannte. Er hatte einen anderen Weg genommen als sonst.
Rupert und Colin fuhren etwa eine Stunde lang die Küste entlang bis
nach Blackpool. Dort war das Wetter unwesentlich annehmlicher, aber
darum ging es ja nicht. Rupert brachte Colin zu einer Schneiderei, um
Maß nehmen zu lassen und die Internatskleider zu bestellen und in
ein kleines Verlagsgeschäft, das auf Colin wie ein Reisebüro für
Schulangelegenheiten wirkte, wo Rupert ihm einen Stapel Schulbücher
kaufte und die Lieferung des Rests in Auftrag gab. Das Paket sollte
gleich in die Schule geliefert werden. Colin bekam von der Frau noch
gratis ein paar Hefter, einen Notizblock, Bleistifte, Kugelschreiber
und andere nützliche Kleinigkeiten, um die große Tüte zu füllen.
Nach einem blackpooltypischen Imbissmittagessen ließ Rupert sich
ohne viel Widerstand zu einem Spielhallenbesuch breitschlagen, sodass
sie sich erst bei Sonnenuntergang wieder auf den Heimweg machten.
Kei war den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatte spontan ein
kleines Konzert besucht, weshalb er erst mitten in der Nacht
zurückfuhr. Nachdem er es geschafft hatte die Leute, die mit ihm
draußen zum Rauchen herumstanden, davon zu überzeugen, dass er
trotz Unmengen Alkohols nicht zu betrunken zum Motorradfahren war.
Irgendwo zwischen der Landstraße und dem Schloss, vor dem Ruperts
Auto wieder herumstand, fing Delilah ihn ab. Ohne ihn zum Anhalten zu
zwingen, erschien sie wie aus dem Nichts etwas abseits seiner Strecke
am Rand der Auffahrt und gab ihm mit der Hand ein kurzes Signal,
dessen Bedeutung Kei mittlerweile als 'Dennis' kannte. Danach beugte
sie sich wieder zur Seite und verschwand sofort, als würde der
sachte Wind sie irgendwie verschlucken. Kei fuhr etwas langsamer
weiter. War Dennis mit seinem Ausflug nicht einverstanden?
Aufgefallen sein müsste es ihm aber so oder so, wenn er ihn gesucht
haben sollte. Er stellte das Motorrad in der Nähe von Ruperts Auto
ab und legte den Helm in die Garage.
Dennis saß inmitten eines Kabel- und Elektrosalats am Schreibtisch
in seinem dunklen Zimmer und blickte nicht einmal auf, während sich
die Tür scheinbar von selbst öffnete, als Kei auf dem dunklen Flur
in ihre Nähe kam. Kei ging in Dennis' Zimmer und sah den Älteren
fragend an.
Die Tür schloss sich hinter ihm, scheinbar wieder von selbst, bevor
Dennis aufblickte. Er legte einen kleinen schwarzen Plastikkasten,
aus dem einige Kabel heraushingen, auf den Tisch und kramte in einem
Stapel nach einem großen braunen Briefumschlag, den er grob in Keis
Richtung auf eine Ecke des Tisches warf. Kei hob ihn auf und öffnete
ihn um den Inhalt zu begutachten.
“Wie machst du das mit der Tür?“
Dennis sah ihn abwesend an. “Hm? Oh. Telekinese,“ sagte er
nebenbei, als sei das das normalste von der Welt. “Das ist dein
neuer Job,“ sagte er mit einem Nicken auf den Umschlag. “Deine
Identität, Geld und die Postfachadresse für die Kommunikation.“
Es waren mehrere tausend Pfund in gebrauchten Banknoten, in Plastik
verpackt, ein japanischer Pass mit Dauervisum und Arbeitserlaubnis
für Großbritannien, ein japanischer Führerschein, britischer
Waffenschein für Handfeuerwaffen und ein kleiner Zettel mit einem
Code.
Kei betrachtete den Inhalt. Hideo Katsuragi aus Nagasaki. Er
wollte gar nicht wissen, wie Dennis in nur einem Tag für das alles
sorgen konnte.
“Weißt du, wann's losgeht?“ fragte er und steckte den Inhalt des
Umschlags in seine Jackentasche.
“Sofort. Oder morgen, wenn der große Held sich noch verabschieden
will. Colin selbst fährt erst in zwei, drei Tagen los.“ Der
Heldenkommentar war möglicherweise auf Keis neuen Decknamen gemünzt,
der mit dem Kanji für 'Held' geschrieben wurde.
“Gut. Dann nehme ich morgen.“ Mit diesen Worten verschwand Kei
aus Dennis' Zimmer und ging nachsehen, ob Colin noch wach war.
War er. In guter Absicht hatte er seine Schlafanzughose und ein
Schlaf-T-shirt angezogen, doch er war überhaupt nicht müde. Beim
goldenen Licht seiner Schreibtischlampe saß er mit hochgezogenen
Beinen am Schreibtisch und las gebannt in einem Schulbuch. Daneben
lag ein brandneuer aufgeschlagener Collegeblock, auf dem er scheinbar
ein paar Aufgaben gelöst und Notizen gemacht hatte.
“Darf ich reinkommen?“ fragte Kei durch die halb geöffnete
Badezimmertür. Colin blickte auf und nickte. Kei war so frei, sich
auf Colins Bett zu setzen. “Ich muss morgen weg. Dennis hat mir
einen längeren Job aufgebrummt.“
Colin sah ihn an. Sein Gesicht verriet nicht viel, oder eher zu viel
auf einmal. Er sah vorsichtig, neugierig, ernst, verwirrt, aufgeregt
und ein bisschen verlegen aus. “Da ich früher weg muss als du,
wollte ich mich anständig verabschieden.“
“...“ Okay. Verabschiede dich.
Er kaute auf der Innenseite seiner Unterlippe.
Kei musterte ihn. “Wenn du mich wegen gestern noch anschreien
willst, nur zu.“ Irgendwas saß Colin anscheinend gehörig quer.
Bevor Kei ging, wollte er noch wissen, was das war.
Colin wandte den Blick auf den Boden. “Ich will dich nicht
anschreien,“ sagte er leise.
“Du hast aber irgendwas.“ Kei sprach ruhig und sah zu Colin.
“Ja.“ Colin rutschte auf dem Stuhl weiter zurück, um seine
nackten Füße auf der Kante der Sitzfläche fester aufzusetzen.
“Darf ich wissen was?“
“Das gestern war... ist scheiße gelaufen, aber ich will dich
deswegen nicht nochmal rundmachen.“ Er zuckte mit den Schultern.
“So scheinst du eben zu sein, es ist ja nicht deine Schuld, dass
ich das nicht mehr weiß. Es ist nur schade. Ich finds einfach
traurig, weil-“
Kei wartete, dass Colin den Satz beenden würde.
Er kaute ein bisschen auf seiner Zunge, ehe er weitersprach, immer
noch ohne Kei direkt anzusehen. Das tat er nur zwischendurch, um
dessen Gesichtsausdruck zu prüfen. “... Weil ich dich echt mag.
Irgendwie.“
“Du hast mich öfter dafür rundgemacht, dass ich Scheiße gebaut
habe. Tut mir Leid.“
Colin sah ihn an. Er wirkte ein winzigkleines bisschen überrascht.
Jedenfalls sah sein Gesichtsausdruck nun offener aus. “Du findest -
und meinst - du weißt also was ich meine?“
Kei nickte.
“Dann...“ Colin dachte nach. Das konnte man sehen. 'Dann geht das
auch anders?' wollte er fragen, kam sich dabei aber etwas zu blöd
vor. Irgendwie war er froh, dass er Kei eine Weile nicht sehen würde.
Vielleicht war ihm die Nähe, das isolierte Aufeinanderhocken mit
diesem viel zu appetitlichen Alien einfach nur zu Kopf gestiegen.
“Ich geb' mir Mühe.“ Kei musterte Colin. Der musterte ihn
ebenfalls gebannt. Er schien nicht zu merken, wie er starrte. Kei sah
ihn an und lächelte leicht. “Hab ich was im Gesicht?“
Ertappt blinzelte Colin und sah zur Seite. Kei schmunzelte nur ein
bisschen.
“... Wo musst du denn hin?“ fragte Colin, damit es nicht zu still
wurde.
“Ich muss Dennis bei was helfen.“
“Was denn?“
“Er sagt, dass das keiner wissen darf. Du auch nicht, damit deine
Schulkameraden nichts erfahren.“
“Als könnte ich nicht dichthalten,“ sagte Colin augenrollend.
Du erfährst es doch eh. Geduld. “Ich verrate es dir, wenn
du wieder hier bist.“
“Also in drei Wochen oder so. Ich muss doch sowieso schon genug
geheimhalten, da könnt ihr mir das auch verraten.“
“Ich muss außerhalb etwas erledigen und es soll niemand wissen, wo
ich bin.“
“Ja ja, schon gut. Du bist James Bond, hab's kapiert.“
Kei lachte. “Ein James Bond-Abenteuer wäre sicher von mehr
Explosionen begleitet.“
“Und besserem Sex.“ Colin schmunzelte böse.
“Ich war noch nie auf einem, das kann ich nicht beurteilen. Sollte
mir mal eins unterkommen, kann ich's dir ja erzählen.“
“Heißt das, dass du üben willst?“ Colin grinste.
Kei schmunzelte. “Du bist ja nicht da. Aber vielleicht gibt es was
anderes jamesbondmäßiges da.“
“Martini.“
“Der schmeckt nicht.“
Colins Augen wurden groß. “Ich dachte du kippst einfach alles, das
hart ist.“
“Ich habe Geschmacksnerven, die sogar funktionieren - und Martini
ist eklig.“
Colin grinste.
“Dennis hat mir einen Führerschein besorgt. Einen echten. Ich kann
mich nicht erinnern je einen gemacht zu haben.“
Colin lachte. “Du fährst doch dauernd.“
“Aber jetzt kann mir die Polizei nichts mehr.“
“Kommt drauf an wie du fährst,“ gab Colin mit einem
Schulterzucken zu Bedenken.
“Manchmal kontrollieren die auch einfach so.“
Colins Blick wurde etwas ernster. “Die Instanz hat uns beide
konditioniert, richtig? Damit wir... uns anfreunden.“ Er musterte
Kei nachdenklich.
“Ja, haben sie.“
“Das haben sie nicht besonders gut gemacht,“ sagte Colin
schmunzelnd.
“Nein. Die haben überhaupt noch nichts wirklich gut hinbekommen.“
Colin lachte leise. “Es hat funktioniert, aber ich frage mich wie.“
“Das weiß ich auch nicht. Aber was danach passiert ist, war
wirklich verrückt.“
“So verrückt, dass ich den Verstand verloren habe,“ sagte Colin
unernst. “Du machst mein Bett nass.“
“Ich glaube, das liegt daran, dass ihr Unsterblichkeitsexperiment
nicht für Menschen gedacht war.“ Kei stand auf, zog die nasse
Jacke aus und ging damit zur Tür.
Wo gehst du hin?
“Nasse Klamotten loswerden.“
“... Alle?“
“Soll ich in nassen Boxershorts herumsitzen?“
Colin wandte seinen schmunzelnden Blick errötend auf seine Knie. Kei
schmunzelte und beförderte die nasse Jacke ins Bad, um sie
aufzuhängen. Dasselbe tat er mit der Hose und dem Rest seiner
Kleidung. Dann ging er in sein eigenes Zimmer und zog sich eine
Jogginghose und eine etwas zu große Sweatshirtjacke an, bevor er
wieder zu Colin ging.
Der hatte die kleine Lampe auf seinem Tisch ausgemacht und saß nun
im Dunkeln auf dem Bett. Keis legerer Anblick machte ihn unerklärlich
verlegen, darum war er für das sehr fahle Licht von draußen
dankbar. Kei setzte sich zu ihm aufs Bett. Er schmunzelte ein
bisschen. Colin rutschte vor ihn. Kei musterte ihn. Colin sah ihn
ernst und mutig an, bevor er sich vorbeugte, um ihn zu küssen.
Lächelnd erwiderte der Vampir mit den leuchtenden blauen Augen ihn.
Colin hielt ihn zart und langsam, so wie es dieser Tage seine Art zu
sein schien. Kei störte das nicht. Er fand es gut, dass Colin nicht
mehr sehr wütend zu sein schien. Das war gut, immerhin musste Kei
schon am nächsten Tag los.
“Darin bist du gut,“ flüsterte Colin schließlich und setzte
sich wieder zurück. Kei lächelte. “You're an excellent kisser,“
raunte er genüsslich mit einem Lächeln.
“Übung.“
“Die darf man nicht vernachlässigen,“ sagte Colin nickend.
“Stimmt.“
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