Drei Wochen später.
Kei hatte eine kleine Wohnung bezogen. Sie hatte nur ein Zimmer und lag am Rand des Stadtkerns von Inverness. Von dort aus brauchte er nicht sehr lange zu Colins Internat. Er hatte einen Job in einem Plattenladen gefunden, bei dem er unter der Woche vormittags arbeiten konnte, wenn Colin in der Schule war und es äußerst unwahrscheinlich war, dass jemand ihn umzubringen versuchte. Den Großteil seiner Zeit verbrachte er damit, aus der Ferne auf Colin aufzupassen. Sobald dieser einen Fuß vor die Tür setzte, wusste Kei, wo er war.
An einem Samstag gegen fünf Uhr morgens machte Kei einen Spaziergang
um das Internatsgelände. Wie er festgestellt hatte, waren um diese
Uhrzeit dort so gut wie nie Menschen unterwegs. Die frühesten
Aufsteher waren an schulfreien Tagen die Sportler, und auch die
zeigten sich samstags nie vor sieben Uhr.
Colin war die einzige Ausnahme. Er schlief nicht jede Nacht, und
wenn, dann nur wenige Stunden lang. Diesen Umstand versteckte er
relativ erfolgreich, indem er wartete, bis sein Zimmergenosse Brian
eingeschlafen war, bevor er mit einer kleinen Taschenlampe unter
seiner Decke las oder schrieb. Frühmorgens, wenn es nicht mehr
verboten war, das Haus zu verlassen aber die meisten noch in ihren
Betten lagen, machte er Spaziergänge. Dabei verließ er aber nie das
Gelände. Er war schließlich von Dennis und Rupert gebrieft worden
und wusste, dass er vorsichtig sein musste. Er durfte zwar mit
anderen Schülern nach Inverness fahren, aber das war bisher noch
nicht vorgekommen. Er hatte noch keinen Anschluss gefunden.
An diesem Samstagmorgen, eine gute Woche vor Beginn der
Weihnachtsferien, hatte er sich dick angezogen und einen
zusammengerollten Notenhefter eingesteckt, um im Freien im frostigen
Gras hinter dem Raucherfelsen ein paar Lieder zu üben und
vielleicht, wenn er geduldig genug war, den Sonnenaufgang
anzuschauen. Im Moment war es noch stockfinster.
Der Raucherfelsen war eigentlich eine handvoll großer, kantiger
Findlinge, die in einer Mischung aus Gestrüpp und Birkenschonung
zwischen den Sportplätzen und einem großen Teich lagen. Zwischen
ihnen und dem Pfad entlang des nächsten Platzes lag eine Wiese, und
auf der anderen Seite gab es einen seichten Abhang mit trockenem
Gesträuch und hohen Gräsern bis zum Teichufer. Auf dieser Seite
kletterte er auf den niedrigsten Felsen, sodass er einen größeren
im Rücken hatte, und setzte sich dort im Schneidersitz hin.
Kei schlenderte halbwegs warm angezogen, um nicht zu sehr
aufzufallen, um das Gelände herum. Das Internatsgelände war um
diese Uhrzeit immer angenehm ruhig. Er war froh darüber, dass hier
so früh niemand war, denn irgendwer würde es merkwürdig finden,
dass er dort war. Ein fremder Typ aus Asien, der rauchend im Dunkeln
um das Gebäude schlenderte, ohne wirklich irgendetwas zu tun, musste
zumindest einigen komisch vorkommen.
Er kannte das Internatsgelände zwar, das er sich nachts mal
angesehen hatte, betrat es aber nicht, um nicht entdeckt zu werden.
In seinem rechten Ohr steckte ein Stöpsel der Kopfhörer seines
mp3-Players.
Colin sah auf seine Uhr und begutachtete den Himmel um abzuschätzen,
wie lange es noch dunkel bleiben würde. Eigentlich war es egal. Er
konnte jederzeit im Kalender nachsehen, wenn er die
Sonnenaufgangszeit genau wissen wollte. Augenblicklich ging es ihm
nur um die Stille, die hier gerade so schön vollständig und
geisterhaft war. Er zog seinen Hefter heraus und las das gälische
Lied, das er üben wollte, um sich zu vergewissern, dass er
wenigstens die ersten beiden Strophen drauf hatte. Es war Irisch und
nicht Schottisch, also fiel ihm der Text nicht so leicht in den
Schoß. Er legte den Hefter offen vor sich auf den Felsen, um die
Noten zu verfolgen, und begann zu singen.
Auf dem nicht mit Musik belasteten Ohr hörte Kei eine leise Stimme.
Colin. Der schien öfter sehr früh aufzustehen. Er verstand nichts
davon, was Colin von sich gab. Zum Einen, weil es so leise war und
zum Anderen, weil es eine Sprache war, die er nicht kannte. Kei ging
in die Richtung, die ihn näher an Colin heranbringen würde. Um das
Internatsgelände herum gab es nicht viele Hindernisse. Nur viel
Natur, die Straße nach Inverness und ein paar Spazierwege.
Zwischendurch stockte Colin etwas und wiederholte einige Worte, weil
er sich der Aussprache nicht sicher war und sie ihm selbst wie
Kauderwelsch vorkamen. Aber er machte keine Pause und sang das Lied
so lange und so oft durch, bis er es zweimal nacheinander fehlerfrei
und mit jedem Melodieschnörkel, den er drin haben wollte,
durchgesungen hatte. Wie alles Gälische klang es ziemlich pathetisch
und geisterhaft, aber dabei auch ein bisschen wie ein Kinderlied.
“... Sa bhfómhar seo chugainn 'sea dhófam púirt le glór an Údar
Naofa, Beidh Seoirse dubhach gan choróin, gan chlú gan sólas
boird, gan féasta. Ólfam lionn is beoir le fonn, 's comhsheinnfeam
tiúin don Ghaeilge...“ Er blickte nicht von seinen Noten auf, bis
er bei seinem zweiten Durchgang war und meinte, es auswendig zu
können.
Kei saß mittlerweile auf einer Bank und hörte Colin zu. Da er am
Samstag nicht arbeiten musste, würde er den ganzen Tag in dieser
Gegend herumstreifen und Colin aus der Ferne beobachten. Er suchte
zeitgleich nach einer Möglichkeit, ihm zu sagen, dass er nicht weit
weg war, ohne dabei gesehen zu werden, oder irgendwie aufzufallen.
Als Colin das unaussprechliche Lied endlich so durchgesungen hatte,
wie er es haben wollte, war er beinahe heiser und gönnte sich
erstmal einen langen Atemzug, ehe er sich gegen den Fels hinter sich
lehnte. Er hatte sich wirklich auf die Schule gefreut. Auf alles, was
damit zu tun hatte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Er stopfte seine
Zeit so gut es ging mit Schularbeiten und Musik voll, aber die Nächte
waren so verdammt lang und leer. Und er schien bei den anderen
irgendwie anzuecken, aber er verstand nicht genau, was er falsch
machte. Oder ob es überhaupt an ihm lag. Er verstand auch nicht,
warum ihm das etwas ausmachte. Er war die meiste Zeit seines Lebens
allein gewesen und hatte sich auch einsam gefühlt, aber nie, wenn er
wirklich ständig von Menschen umgeben gewesen war. Er zog die Beine
an und legte die Arme auf die Knie, dann seinen Kopf darauf.
Kei begann, durch die Ereignislosigkeit, sich zu langweilen. In den
gesamten drei Wochen, in denen er sich einigermaßen eingelebt und
orientiert hatte, war nichts, aber auch gar nichts spannendes
passiert. Kei begab sich leise auf das Gelände und näherte sich dem
Steinhaufen bei dem Colin herumsaß, blieb jedoch zwischen den
Sträuchern und Bäumen stehen, die ihn so verdeckten, dass man ihn
vom Gebäude aus auch mit einem Fernglas mit Nachtsichtfunktion nicht
sehen konnte. Es war noch immer dunkel.
“Du siehst nach Ablenkung aus.“ sagte er gerade laut genug, dass
Colin ihn hören konnte.
Colin schauderte.
Ich hör schon Stimmen, haha. Er schmunzelte in seinen
Unterarm und fragte sich, ob er kurz eingenickt war und die Stimme
geträumt hatte, oder ob er gerade wahnsinnig wurde und es vielleicht
in den verlorenen Jahren genauso angefangen hatte. Bis Dennis dann
seine Festplatte formatieren musste. Aber so war es doch ganz nett.
Wenn Kei schon nicht wirklich da war... Dann kann ich ihn mir
wenigstens einbilden.
“Ignorierst du mich?“ Kei schmunzelte ein bisschen. Er konnte
schlecht ganz aus seiner Deckung herauskommen, aber Colin müsste ihn
sehen können, wenn er den Kopf mal heben würde. Aber vielleicht
auch nicht. Es war dunkel und Kei trug, welch Überraschung, schwarze
Kleidung. Colin hob den Kopf und guckte in die Richtung, aus der die
Stimme kam. Vielleicht war es doch nicht Kei. Er klang nur nach ihm.
Er konnte eine schwarze Gestalt mit einem weißen Schemen auf der
Höhe des Kopfes sehen. An ein paar Stellen blinkte sie leicht. Und
das weiße Gesicht hatte glühende Augen. Colin musste ungläubig
lächeln.
“Wenn mich jemand sieht, reißt Dennis mir den Kopf ab. Kriegst du
Stress, wenn du um das Gelände herumspazierst?“ Kei blieb, wo er
war. Man konnte nie wissen, ob nicht vielleicht doch Leute wach
waren. Colin schüttelte den Kopf. Niemand erwartete, dass die
Schüler um diese Zeit wach, geschweige denn draußen waren. Er
öffnete den Mund und klappte ihn gleich wieder zu. Er stand auf,
ging zur Kante des Felsens und sprang raschelnd in den vertrockneten
Busch darunter. Kei lachte ein bisschen und ging zurück zum Zaun,
der das Internatsgelände vom Spazierweg und der Natur dahinter
trennte. Er ging einfach davon aus, dass Colin ihm folgen würde.
Schließlich ging er langsam.
Das tat er auch, unter Knistern und Rascheln. Während Kei ihm
vorausging, beinahe aus seiner eingeschränkten Sicht in das
tintenfarbene Geäst schmolz und dabei seiner Meinung nach kaum
Geräusche machte, fragte Colin sich wieder, ob er sich Kei nicht
doch einfach nur einbildete. Er folgte ihm dennoch auf den
Trampelpfad.
Der Zaun war relativ hoch, damit die Schüler ihn nicht als Ausgang
verwendeten, oder Besuch als Eingang. Kei blieb vor dem Zaun stehen
und wartete auf Colin. “Wie ist das Internatsleben bisher?“
fragte er neugierig. Schließlich kannte er nur die eine Schule in
Tokyo. Colin nahm sich noch ein paar Sekunden, um Kei unverhohlen
anzustaunen, als er nun erst akzeptierte, dass er echt zu sein
schien, und sich alle damit zusammenhängenden Fragen auf einmal
stellte.
“Wieso bist du hier?“ fragte er verwundert, während er sich
etwas hinunterbeugte, um sich die Hosenbeine abzuklopfen.
“Mein Job hat mir ein bisschen freie Zeit gegönnt und da dachte
ich, dich zu besuchen, wäre eine gute Idee.“ Kei nahm Colin
ungefragt halb in den Arm und machte einen Satz über den Zaun. Auf
der anderen Seite ließ er ihn wieder los.
“Holy-“ Entsetzt klammerte Colin sich an Keis Jacke fest.
Kei schmunzelte. “Ich sollte das öfter machen.“
Colin sah zu ihm auf und dann sofort verlegen auf seinen Kragen. Er
lockerte seinen Griff, ließ ihn aber nicht los. Hey, Kei hatte
angefangen, es bestand also keine Gefahr dass er sich damit die Blöße
gab, dass er den Vampir weiter festhielt.
Kei lächelte. “Hast du schon Internatsdramen hinter dir? Die
James-Bondhaftigkeit blieb meinem Job bisher fern.“ Er ließ seinen
Arm, wo er war. Um Colin gelegt.
“Nicht so richtig. Ich kriege nicht viel von den anderen mit.
Aber... anscheinend bin ich einer unangenehmen Begrüßungszeremonie
entgangen.“
“Wie hätte die ausgesehen?“
“Weiß ich nicht. Sie hat ja nicht stattgefunden.“ Colin verzog
nachdenklich das Gesicht. “Mir wurde vor ein paar Tagen erzählt,
dass Brian die Jungs an der Zimmertür abgewimmelt hat, als sie
dachten, dass ich schlafe - das habe ich auch mitgekriegt - aber
jetzt weiß ich erst, warum. Und was er ihnen gesagt hat.“ Er
schmunzelte etwas. “Er hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil ich
kleiner bin als... eigentlich fast alle.“ Er grinste.
“Komischer Grund für ein schlechtes Gewissen.“ Kei schmunzelte.
“Du solltest Dennis nicht erzählen, dass ich hier war, wenn er
fragen sollte. ... Hat er dir nicht gesagt was das für ein Ritual
gewesen wäre?“ Kei wollte das wirklich wissen.
Colin schüttelte langsam den Kopf. “Ich habe nicht gefragt. Er
schien anzunehmen, dass ich das schon wüsste. Oder es mir vorstellen
kann. Ich wollte nicht ignorant aussehen.“ Er studierte Keis
Gesicht, oder vielmehr hauptsächlich seine Augen, die in diesem
fahlen Licht sehr interessant aussahen. “Du solltest dir mehr
Sorgen um meinen Wachhund machen. Der wird schon petzen, wenn er dich
nicht gleich selbst an den Ohren nach Lancaster zurückzieht.“
“Ach was. Vielleicht besteche ich ihn, wenn er Dennis petzen will,
dass ich hier war. Der soll lieber aufpassen, dass dir nichts
passiert.“ Kei schmunzelte amüsiert. Er hatte keine Ahnung, was
Dennis Colin erzählt hatte.
“Wenn er seinen Job richtig macht, sollte er ungefähr jetzt
angebraust kommen und mich von dir wegzerren,“ sagte Colin mit
einem gemeinen Grinsen. Kei schmunzelte weiter.
Dennis hat dir da was verschwiegen. “Du kannst mich auch
mal,“ sagte er scherzend.
“Ich kann dich was?“ stichelte Colin.
“Gern haben kannst du mich.“
“Okay.“ Colin grinste immer noch. Und guckte dann zur Seite,
während ihm das Grinsen halb herunterfiel. “Gott, ich bin so
blöd.“
“Was hast du angestellt?“
Man konnte den Groschen fallen sehen. Und hören. Colin benutzte Keis
Schulter, um sich daran strafend die Stirn zu hauen. “... Du bist
der Wachhund,“ stöhnte er. Kei grinste leicht.
“Wieviel hat Dennis dir erzählt?“
“Nur, dass er jemanden hergeschickt hat, der mich unsichtbar
bewachen soll.“
“Unsichtbar ist auf Dauer langweilig,“ sagte Kei.
“... Stimmt.“ Kei roch gut.
“Ich hab hier beim Langweilen und Aufpassen einen netten Ort
gefunden, wo man die Sonne beim Aufgehen sieht.“ Kei hatte
schließlich Zeit, die er in der Gegend morgens und nachmittags
verbrachte. Colin lächelte Keis Kragen an.
“Lass mich raten. Osten.“
“Aber nur ein bisschen. Es gibt hier eine Lichtung mit Bänken.
Morgens ist da niemand.“ Er schlug den Weg zu der kleinen Lichtung
ein. Colin ließ ihn los, um mitzugehen.
Er versucht, romantisch zu sein! Und er ist hier! Irgendwas in
ihm hüpfte jubelnd auf und ab.
Tatsächlich waren da nur ein paar Bänke mit einer schwachen Laterne
in der Mitte und keinerlei Menschen. Colin schlenderte an den Rand
des Lichtkegels vor eine Bank und wandte sich dem Horizont zu. Von
hier aus konnte man auch den Teich sehen, an dem er eben noch
gesessen hatte. Kei setzte sich auf die Bank, sodass er schräg
hinter Colin saß und der Lichtkegel ausreichte um ihn ein bisschen
zu beleuchten. Er folgte Colins Blick. Es war gut, den Kleineren nach
der langen Weile wieder um sich zu haben, auch, wenn das nicht sehr
lang sein würde.
“Ich habe dich vermisst.“ “Schön, dass du hier bist.“
“Warum hat das so lang gedauert?“ Hm. Colin drehte sich um
und trat dicht vor Kei, dann zögerte er und entschied sich dafür,
sich doch lieber einfach hinzusetzen. Kei kommentierte das nicht. Er
drehte sich zu Colin und küsste ihn. Er hatte ihn wirklich vermisst.
Sein Herz hüpfte, als er den Kuss überrascht erwiderte. Kei
lächelte. Er war zwar daran gewöhnt, den Herzschlag von Menschen zu
hören, aber Colins veränderte sich dauernd. Das war etwas anderes.
Aber es war gut. Colin war wirklich lebendig, zumindest, wenn Kei
anwesend war. Kei selbst konnte das nur zeitweise von sich
behaupten. Colin müsste aber noch untot sein, wenn der Vampir nicht
anwesend war.
“Du bist warm,“ murmelte Colin und zog seinen Schal auf.
“Deine Schuld.“ Keis Jacke war offen. Darunter trug er eine
zweite um den Eindruck zu vermitteln, dass er wusste, dass es draußen
kalt war.
“Was habe ich damit zu tun?“ Colin musste fast lachen. Er behielt
sein Gesicht dicht bei Keis. Diese Augen.
“Ich bin klinisch tot, wenn du nicht da bist. Also fast. Nicht
ganz.“ Kei lächelte ein wenig. Im Schein der Laterne konnte Colin
das gut sehen.
“Jetzt trägst du aber richtig dick auf,“ sagte Colin leise. Aber
sein Lächeln sah richtig verträumt und glücklich aus.
“Pfff,“ entgegnete Kei schmunzelnd und nahm Colin halb in den
Arm.
Jetzt könnt ichs sagen... dachte Colin bei sich.
Was? dachte Kei neugierig.
Colins Augen weiteten sich etwas und er schmunzelte verlegen. Kei
hatte den Mund nicht bewegt und seine Stimme hatte wie ein Flüstern
in einer großen Kirche in seinem Hinterkopf geklungen.
“Nichts.“ Eilig küsste er Kei. Das dann aber langsam und sanft.
Bevor Kei sich wirklich darüber wundern konnte, warum Colin wusste,
was er gedacht hatte - was so nicht geplant gewesen war - erwiderte
er den lächelnd.
“Warum bist du erst jetzt aufgetaucht?“
“Ich musste eine passende Gelegenheit abwarten, in der ich nicht
von jemandem außer dir gesehen werde - was nicht einfach ist, bei
dem Haufen von Menschen, die hier täglich ein- und ausgehen.“
“Morgens um vier, immer hier,“ reimte Colin mit einem
bestimmenden Nicken.
“Finden die das unter der Woche heraus, wenn abhaust? Es sind ja
nicht gar keine Aufsichtspersonen hier.“ Kei wusste mittlerweile
fast auswendig, wer wann im Internat war und wer am frühesten
aufstand und als letztes wieder ging. Manchmal saß er die ganze
Nacht in der Nähe herum. Zeit in seiner Wohnung verbrachte er
meistens nur zwischen dem sehr späten Abend, wenn die Schüler nicht
mehr heraus durften und dem Morgen bevor er nachsehen ging, ob sich
etwas getan hatte. Danach ging er arbeiten und den Rest des Tages
verbrachte er in Internatsnähe mit Auge auf Colin, sobald der das
Gebäude verließ.
Colin zuckte mit den Schultern. “Wenn es jemandem auffallen sollte,
mache ich nur einen extrem frühen Spaziergang. Soll vorkommen. Man
wird mir schon nicht hinterherlaufen. Was soll ich denn nach vier
noch anstellen? Es fährt kein Bus mehr, keine Kneipe ist mehr
auf...“ Er gestikulierte.
“Da dürftest du Recht haben.“ Man kann einiges nach vier Uhr
morgens anstellen...
“Und da ich sowieso kaum Schlafbedarf habe, werde ich deswegen
nicht im Unterricht einschlafen.“
“Dass du im Unterricht schlafen könntest, wäre nicht meine
Schuld.“
“Neeein, nichts ist deine Schuld. Du bist an allem unschuldig, wie
ein kleines Lämmchen...“ Tatsächlich hatte Colin in seinen langen
Nächten oft Kei die Schuld für seine Schlaflosigkeit in die Schuhe
geschoben, obwohl er genau wusste, dass er mit oder ohne ihn in
seinem Kopf nicht müde genug wäre.
Kei lachte. “Natürlich. Ich bin die Unschuld in Person.“
“Ein harmloses Häschen!“
Kei prustete beinahe los.
“Ein argloses Hundebaby!“ Colin schaute mit einer graziösen
Handbewegung, die einer zierlichen Debütantin würdig gewesen wäre,
verzückt in die Luft.
“Du siehst grad aus wie ein Prinzesschen,“ informierte Kei ihn
grinsend.
“Ein was bitte?!“
“Ne Disneyprinzessin. “
Colin stirnrunzelte ihn amüsiert an. “... Gibts da noch einen
merkwürdigen Fetisch, von dem ich wissen sollte?“
“Keinen, der etwas mit Disneyprinzessinnen zu tun hat.“
Colin lachte. “Okay, ich höre...“
“Das verrate ich dir wann anders, okay?“
“Na gut, jetzt weiß ich ja schon einen,“ sagte Colin mit einem
gemeinen Schmunzeln und rieb sich augenbrauenwackelnd das Kinn.
“Sicher, dass du das weißt?“ Kei grinste ein bisschen. Nein,
es sind keine Prinzessinnen... Aber nicht sehr weit weg davon.
Colin winkte eingebildet ab und lehnte sich auf der Bank zurück. “Du
stehst auf mich, ich sehe aus wie ein Prinzesschen... also stehst du
auf Prinzessinnen. Simpel.“ Er zuckte mit den Schultern. “Das
Kleid, in dem ich aufgewacht bin, ist ein sehr guter Anhaltspunkt.“
Kei lachte. “An dem war ich unschuldig. Ich schwöre.“
“Dass
du unschuldig bist, hatten wir schon geklärt, entspann dich,“
sagte Colin beschwichtigend.
“Das
glaubst du mir doch eh nicht.“ Er schmunzelte und bekam von Colin
einen süffisanten Seitenblick, der im Ansatz ein wenig
mitleidig aussah. Außerdem schüttelte er fast unmerklich langsam
den Kopf. “Ich weiß nicht, wer genau auf die Idee kam, dich als
Mädchen zu verkleiden... das war übrigens an dem Tag an dem Dennis
dein Gedächtnis gekillt hat, aber Dennis kam bei uns an und sagte,
wir würden unten erwartet und dann kam das dabei heraus.“ Er
machte eine Pause. “Ich musste im Anzug aufkreuzen.“
“...
Also ist das nicht dein Fetisch... dann bist du mir jetzt noch
einen schuldig.“
“Einen
Fetisch?“
Colin
nickte. “Irgendwas, das dich anmacht. Bei dem du sagst: Oh yeah...
essbar,“ sagte Colin mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln.
“Essbar ist vieles.“ Das bedurfte weiterer Eingrenzung.
“Du weißt, was ich meine,“ sagte Colin augenrollend.
“Ja, weiß ich.“ Kei überlegte kurz. “Etwas weniger
Disneyprinzessin, also ohne Rosa und Glitzerzeug.“
Colin lächelte ihn strahlend aber auch irgendwie gemein an. Er
öffnete und schloss den Mund. “... Ah.“
“Du planst bestimmt irgendetwas.“ Kei schmunzelte.
“You know it.“
Er wusste nicht, was Colin vorhatte, aber das Gefühl, dass da etwas
auf ihn zukam, wollte nicht verschwinden. “Ich lass mich
überraschen.“
“Gut.“ Colin stützte sich auf die Knie und schmunzelte Kei
schelmisch an. “Willst du auch einen von mir wissen oder wähnst du
dich voll informiert?“
“Schieß los.“
“Well... considering I didn't even know I was gay until a few weeks
ago... I think I like bad boys.“
“Well, I did know that.“ Kei grinste.
“Pff...“ Colin schmunzelte noch, sah nun aber auch ziemlich
verlegen aus.
Keis Grinsen blieb, wo es war. “Das wäre sonst damals anders
verlaufen. Wahrscheinlich hättest du mich für so manches
geschlagen.“
“Was, wofür?“
“Für Zeug, das ich gemacht habe. Die Dinge auf dem ersten Konzert
auf dem wir waren zum Beispiel.“
“Okay...“ Colin rutschte herum und schlug ein Bein unter, um Kei
erwartungsvoll direkt anzusehen. “Was hast du gemacht?“
“Es gab ein halbes Techtelmechtel auf dem Klo, nachdem ich dir
dahin hinterhergegangen war.“
Colin runzelte die Stirn, als er versuchte, sich das auszumalen. “Du
bist mir aufs Klo nachgelaufen?“
“Mir war danach. Ist eh niemandem aufgefallen. Nüchterne Menschen
gab es da nicht mehr viele.“
“Da waren wir schon zusammen? Klingt aufregend, aber nicht
wahnsinnig unanständig.“
“Ehm, nein. Waren wir nicht. Wir sind uns aber ab und zu
begegnet... und dann ist sowas passiert.“
Colin machte ein fröhliches 'Ooh'-Gesicht und grinste. “Ich bin ja
richtig abenteuerlich gewesen.“
“Es ist jede Menge Zeit für andere Abenteuer mit denen du dein
Gedächtnis füllen kannst.“
“... Wie zum Beispiel jetzt?“ Colin hätte sich selbst ohrfeigen
können. So wie sein Lächeln sich anfühlte, musste er doch
grenzdebil aussehen. Jedenfalls konnte es nicht mal im Ansatz
attraktiv wirken, wie er augenblicklich ranging. Er war zwar nicht
der einzige, der hier mächtig flirtete, Kei trug einen wesentlichen
Teil dazu bei, aber... der war dabei auch so wahnsinnig geschmeidig.
“Es
fehlt noch das Abenteuer, das der Bezeichnung gerecht wird,“ sagte
Kei mit Blick auf den Himmel gerichtet, der noch immer dunkel war.
Bald würde die Sonne damit anfangen aufzugehen.
Darauf wusste Colin nichts zu entgegnen. Er lehnte sich nur zurück
und stellte die Füße vor sich auf die Bank, klemmte seine Hände
zwischen seine Beine und guckte ebenfalls über das Wasser und die
Bäume. Lächelnd lehnte Kei sich leicht gegen Colin und betrachtete
weiter den Himmel, über dem, anders als Kei es aus Tokyo kannte, man
tatsächlich Sterne sehen konnte.
“In Tokyo wurde es nie ganz dunkel.“
Colin schüttelte sachte den Kopf. “Nachts war der Himmel da oft
rot und lila. Hier ist er meistens blau und schwarz.“
“Hier kannst du die Sterne sehen. Sogar von meiner Wohnung aus. Das
ging da nicht.“
“... Mein Opa kennt alle Konstellationen,“ sagte Colin leise.
“... Oder er tut nur so. Jedenfalls kann er dir zu jedem Stern was
sagen.“ Er kratzte auf seinem Knie herum, während er sich fragte,
ob der alte Mann überhaupt noch lebte.
“Ich habe mal versucht, sie zu zählen. Hat nicht geklappt,“
sagte Kei. Es gab tatsächlich Momente, in denen Kei so etwas tat wie
Sterne zählen, wenn ihm entweder langweilig oder - nein, das
passierte nur, wenn er Langweile hatte. Oder warten musste.
Colin lachte leise. “Natürlich nicht. Es gibt mehr als zehn.“
“Pfff...“ Kei schmunzelte. Colin sah ihn an und lächelte dann
wieder glücklich in den Himmel.
Inverness war die erste Stadt, die Kei untergekommen war, in der
selten etwas passierte. Brutale Mörder schienen dort nicht zu
wohnen. Die Nachrichten, die Kei manchmal über das Radio mitbekam,
erzählten äußerst selten von Kriminellen in der Gegend.
Der Vampir fragte sich, ob die Instanz schon Wind davon bekommen
hatte, wo Colin und er sich herumtrieben und vor allem, wann sie
irgendetwas versuchen würden um einen von ihnen wieder in ihre
Gewalt bekommen - zu welchem Zweck auch immer.
Kei war nichts ungewöhnliches aufgefallen, seit er dort war. Weder
in Colins Nähe, noch in seiner eigenen.
“Was machst du eigentlich die ganze Zeit? Sitzt du hier jeden Tag
mit einem Fernglas im Busch?“
“Ne. Also doch, ich bin jeden Tag hier, aber nicht ständig. Wenn
du im Unterricht bist und nicht die Möglichkeit besteht, dass du
draußen herumläufst, arbeite ich.“
“Ah?“
“Ich hab nen Job in einem Plattenladen. Irgendwoher muss ich ja
Geld zum Wohnen haben.“ Er veschwieg Colin die einigen Tausend
Pfund in bar, die Dennis ihm mitgegeben hatte. Die hatte er für
Notfälle an einem sicheren Ort versteckt.
“Wo wohnst du denn?“
“Am Rand vom Stadtzentrum.“
“Gehts noch vager?“ Augenrollen. “Brücke, Parkbank,
Fünfsternehotel?“
Kei lachte. “Wohnung. Fünfsternehotel wäre ja nett, aber das
Essen da bringt mir nicht viel.“
Blut. Colin biss sich auf die Lippe und schaute wieder auf den
Teich.
“Du gehst außerdem nicht nur drei Wochen hier zur Schule. Da wäre
ein Hotel auf Dauer eventuell unangebracht.“
“... Du willst das hier noch zwei, drei Jahre lang machen?“
“Ich verhindere lieber, bevor du entführt wirst, dass es so weit
kommt.“
“Hä?“
“Ich will dich nicht nochmal aus komischen Untergrundarenen retten
müssen. Die Instanz hat dich schon mal entführt.“
Colin schaute ihn groß an.
“Nein, ich weiß nicht genau, was sie mit dir gemacht haben, aber
gut war es nicht.“ Im Gegenteil.
“Bin ich darum verrückt geworden?“ fragte Colin ernst.
“Wenn nicht allein deswegen, dann hat es einen enormen Teil dazu
beigetragen.“
“Scheiße,“ sagte Colin.
“Genau. Das sollte nicht noch mal passieren.“
“Ich habe meine Noten liegenlassen,“ sagte Colin.
“Meinst du, die klaut jemand?“
“Nö... aber sie werden vielleicht nass. Und ich brauche sie.“
Colin stand auf. Kei ebenfalls. Er ging zum Pfad zurück, der zum
Internat führte. Colin ging mit ihm und zog seinen Schal wieder
fester zu. Bevor sie in die Nähe des Zauns kamen, drehte er auf
einen Trampelpfad ab, der durch das Unterholz zum Teich zurückführte.
Kei folgte ihm dorthin, wobei er am Rande des Schulgeländes stehen
blieb und wartete.
Wenig später kam Colin mit dem zusammengerollten Hefter in der Hand
zurückgeraschelt.
“Es tut mir Leid, dass du diesen öden Job bekommen hast,“ sagte
er schulterzuckend, als er bei Kei ankam.
“Ich bin lieber halbwegs unsichtbar in deiner Nähe als mir den
Arsch im Schloss plattzusitzen.“
“Trotzdem...“ Colin sah beschämt zu Boden. “Es ist bestimmt
nicht lustig. Wenn es nach mir ginge, müsstest du das nicht machen.“
Denn er fürchtete, dass Kei ihn früher oder später dafür hassen
würde, dass er ihn aus der Ferne bewachen musste.
“Ich hab nicht erwartet, dass es lustig wird.“ Was Kei daran doof
fand, war, dass er Colin nicht um sich haben durfte, laut offizieller
Version zumindest. Aber, wenn man sich nicht um Regeln scherte,
konnte auch so ein Job Spaß machen. Es war immerhin Colin, auf den
er aufpassen sollte.
“Naja... kannst du zweieinhalb Jahre durchhalten?“ sagte Colin
zweifelnd, während er losschlenderte, gemächlich am Zaun entlang.
“Ohne was?“ Kei ging neben ihm her.
“Ohne ein Leben.“
Kein Leben zu haben sieht anders aus. “Mach dir darum keine
Sorgen, ich kann mich frei bewegen und die Abstände zwischen den
Ferien sind nicht ewig.“
“Kannst du nicht einfach meine Entschuldigung annehmen, anstatt
alles runterzuspielen?“ sagte Colin etwas genervt.
“Na gut.“ Kei lächelte leicht.
“Danke,“ sagte Colin grimmig. Er wollte nur nicht, dass Kei ihm
in ein paar Monaten oder einem Jahr die Schuld für seine Langeweile
geben konnte.
“Gern geschehen,“ schmunzelte Kei.
Sie kamen bei einem mit Vorhängeschloss verketteten Tor an. Dieses
öffnete Colin ohne Umschweife einfach, indem er den Riegel aus dem
Schloss zog. Es schien entweder eine Attrappe oder kaputt zu sein.
“Wo gehen wir hin?“ Kei sah auf das Schloss und schmunzelte. Wenn
das tatsächlich Leute draußen halten sollte, musste es dringend
repariert werden.
“Wirst du sehen. Du hast Zeit, oder?“ fragte Colin, während ihm
schon wieder einfiel, dass das bestenfalls eine Höflichkeitsfrage
sein konnte. Kei sollte ihn ja sowieso bewachen. Nachdem er Kei
durchgelassen hatte, kettete er die Tür wieder zu und schob den
defekten Riegel zu.
“Nichts habe ich so viel wie Zeit.“ Er trat durch das Tor und sah
sich um. Sie befanden sich auf einer breiten Wiese abseits eines
Sportplatzes, und Colin ging nun durch das feuchte Gras auf einige
Seitengebäude zu, zu denen eine Turnhalle und kleinere
Funktionsgebäude gehörten. Auf der anderen Seite tat sich noch ein
Gewässer auf - ein See, der eigentlich ein ruhigerer, breiter Teil
eines kleinen Flusses war, in dem in jeder anderen Jahreszeit
gerudert und geschwommen wurde. Kei ging ihm nach und bestaunte das
weitläufige Gelände. Diesen Teil des Schulgeländes hatte er schon
gesehen, war aber noch nicht durchgelaufen. Vom Schuldach aus sah das
nicht so groß aus. Colin ging zügig, ließ Kei aber immer wieder
aufholen, bis sie zum Seeufer kamen. Er ging abseits des Weges in
einem weiten Bogen auf ein hölzernes Bootshaus zu. “Hier musst du
aufpassen, dass die Lichter nicht angehen.“ Er zeigte auf die
Laternen über der Tür und entlang des Weges. Der ausgetretenen
Linie auf dem Gras neben der Hütte nach zu urteilen, war Colin nicht
der erste, der diesen Umweg nahm. Kei folgte Colin auf dem Fuße, um
den Bewegungsmelder zu meiden.
Ein Häuschen am See. Fast wie in Brasilien.
Das Tor auf der Wasserseite war zwar verschlossen, doch der niedrige
Wasserspiegel erlaubte es bequem, vom Steg unter dem Tor hindurch in
die Hütte zu klettern, wenn man keine Angst vor etwas grünem
Schleim auf der Hose hatte. Ohne zu Kei zurückzublicken machte Colin
den Anfang, indem er erst seinen Hefter durch einen Spalt hineinschob
und dann am rutschigen Holzgerüst entlangkletterte. Kei kletterte
ihm hinterher. Seine Knie mit Schleim dekoriert richtete er sich im
Bootshaus wieder auf. Colin war gerade dabei, Kerzen in richtigen
kleinen Glaslaternen anzuzünden. Dabei kamen in einer Ecke auf dem
Boden Decken und Kissen zum Vorschein, sowie Getränkekisten mit
leeren Bierflaschen, ein paar verstreute Spielkarten, eine einzelne
Bierflasche, die bis zum Hals mit Zigarettenstummeln vollgestopft
war... Die alten Kajaks und zwei halbverrotteten Ruderboote, die hier
noch mit Tauen, Körben, Rettungsringen und Rudern an den Wänden
hingen, schienen bloß atmosphärische Hintergrundmusik darzustellen.
“Bootshaus, ja? Ihr habt wohl keinen Partykeller, was?“ Kei
grinste leicht. Ihm gefiel es hier.
“Ich bin sicher, dass es einen Partykeller gibt... aber da ist es
immer so bierlos. Rauchen und vögeln darf man da auch nicht.“
Colin zuckte mit den Schultern.
“Das nennst du Partykeller? Klingt langweilig.“ Kei grinste. “Ich
will nicht wissen, wie viele Gummis man hier findet.“
“Ich schon. Ich will immerhin wissen, wo die Gummis alle
stecken. Ich habe keine Lust, versehentlich -“ Er hob vorsichtig
den Zipfel einer Decke hoch, aber darunter war nichts als mehr Decke.
Kei lachte. “Vielleicht wurden sie in den See entsorgt,“
vermutete er.
“Irgs.“ Colin stellte die Laterne, die er gerade hielt, auf dem
Bierkasten ab und prüfte mit einem Blick nach oben, ob das
Strandtuch noch das eine Oberlicht verdunkelte. Tat es. Er ließ sich
in die Kissenecke fallen und zog sich den Schal ab. “Hier trifft
man sich zum - du weißt schon. Stelldichein. Auf der anderen Seite
gibt es Ferienvillen und eine Kunstschule.“ Er nickte zum
verschlossenen Tor in Richtung See.
“Veranstalten die hier Ferienvilla-, Internats- und
Kunstschüler-Blinddates?“ Kei fand diesen Gedanken amüsant. Ein
Schulaushang zum Vögeln. Wer wollte konnte hingehen - oder so
ähnlich. Colin lachte und zog sich noch die Jacke aus, während Kei
sich neben ihn setzte.
“Na, blind ist das nicht. Die verabreden sich schon vorher.“
“Bist du dir da sicher?“ Kei grinste.
“Relativ.“ Colin nickte altklug, während er Jacke und Schal
weglegte. “Weißt du, um hier reinzudürfen, muss man erst eine
Aufgabe erfüllen.“
“Die da lautet?“ Kei sah Colin fragend an. Irgendwie hatte diese
Situation etwas filmartiges.
“Man muss allein einen vollen Bierkasten hier reinbringen.“
“Das ist einfach.“
“Klar. Aber die meisten Jungs in unserem Alter sind Idioten,“ gab
Colin zu Bedenken, indem er sich auf die Stirn tippte. “Wie würdest
du es machen?“
Kei sah sich nach Fenstern um. Es gab nur ein kleines Oberlicht zur
Vorderseite hin, wo es bewegungsmeldergesteuertes Licht gab das
umgangen werden musste, und das mit einem Badetuch abgedunkelt war.
Es war ohnehin zu schmal für eine Getränkekiste.
“Bierkasten aufs Dach stellen und die Flaschen in einen Beutel
stecken. Damit hier rein klettern, wenn Tür aufbrechen keine Option
ist," schlug er schließlich vor. Colin lachte leise.
“Was soll der Kasten auf dem Dach?“
“Die Lehrer finden ihn nicht sofort. Wenn die Flaschen drin sind,
kommt der Kasten nach.“
Grinsend hob Colin eine Augenbraue und stützte sich auf die Knie.
“So umständlich machen das die meisten. Sie nehmen die Flaschen
raus und tragen sie rein, und den Kasten lassen sie unter der Tür
reinschwimmen.“
“Ich kann sie nicht durch die Wände werfen... Nicht ohne die Wände
kaputt zu machen. Hast du einen besseren Weg gefunden?“
“Ich habe die Bierlieferungen revolutioniert,“ nickte Colin
überheblich grinsend. “Ich habe mir ein Seil geben lassen, den
Kasten drangebunden und dann unter Wasser reingezogen. Und drinnen
habe ich ihn so festgebunden, dass er noch im Wasser hing. Perfekt
gekühlt.“
“Das ist eine geniale Idee,“ sagte Kei anerkennend. Colin winkte
affektiert ab. Das brachte Kei fast zum Lachen. Colin musterte ihn
belustigt.
“Küss mich,“ forderte er schmunzelnd.
Kei kam dieser Aufforderung grinsend nach. Bald musste irgendetwas
passieren. Bisher war es so verdächtig ruhig gewesen.
Zuerst etwas schüchtern, dann immer selbstsicherer und schließlich
mit einem betrunkenen Lächeln ging Colin seinem Hobby nach, das er
jetzt drei lange Wochen hatte entbehren müssen. Über Keis Schultern
streckte er die Arme aus. Kei verringerte den Abstand zwischen sich
und Colin indem er den Kleineren zu sich zog. Mit einem Grinsen gegen
Keis Lippen legte Colin ein Bein über Keis, damit er sich nicht auf
ihn lehnen musste und weiter selbst sitzen konnte. Keis Lippenring
war ein fantastisches Spielzeug. Kei steckte eine an der Luft kalt
gewordene Hand unter Colins Hemd. Noch immer grinsend vertiefte er
den Kuss. Colins Schultern zuckten etwas als ihm ein sanfter Laut der
Überraschung entfuhr, und er biss Kei etwas fester als sonst in die
Unterlippe.
Kei ließ von Colin ab und setzte sich etwas auf. Draußen war etwas
zu hören. Es klang wie Schritte in einiger Entfernung. Ansonsten war
es sehr ruhig. Er sah auf seine Uhr. Für Spaziergänger war es noch
etwas zu früh. Für Schüler auch.
“Jemand ist auf dem Schulgelände. Kommt nicht von hier,“
informierte er Colin. “Ich geh mal nachsehen.“
Colin packte ihn an der Jacke, um ihn am Aufstehen zu hindern.
“Es darf dich niemand hier rauskommen sehen. Das ist bestimmt ein
Parkpfleger oder sowas. Hier rein kommt er jedenfalls nicht.“
“Um diese Uhrzeit war hier nie jemand - außer dir.“ Kei hatte
keine Lust darauf, dass das jemand war, der sie auskundschaftete oder
irgendetwas in der Richtung - und damit auch noch durchkam. “Wer
auch immer das ist schleicht beim Zaun herum.“
“Dann ist es jemand, der einen Hund hat oder unbedingt im Winter
joggen muss oder was weiß ich,“ sagte Colin genervt.
“Ich will doch nur nachsehen.“ Wenn der 'ne Knarre hat, haben
wir ein Problem. Nicht, dass Kei keine Knarre in der Jackentasche
hätte, aber, wer auch immer das war, sollte nicht wissen, dass Colin
dort war. Dass Kei dort war, sollte die Person mit ins Grab nehmen,
wenn sie eine Bedrohung war, und wenn nicht, würde sie Kei nicht
einmal bemerken. “Ich komme auch wieder.“ Kein Jogger. Kein
Hund. Kein Schüler.
“... Mach das unsichtbar,“ sagte Colin stirnrunzelnd. Als wäre
das nötig. Er wusste, das er Kei nicht seinen Job erklären musste,
er war nur ein bisschen genervt.
“Natürlich.“ Kei stand langsam und geräuschlos auf. Er schloss
seine Jacke halb, sodass sie kein Geräusch machte und er an die
Knarre herankam. Vorsichtig und extrem leise verließ er das
Bootshäuschen und machte sich mit kleinem Umweg auf zu der Stelle,
von wo er die Schritte gehört hatte. Er kam von hinten auf die
Gestalt zu, die da stand und das Gelände beobachtete. Die Gestalt
blickte in die Richtung, in der das Bootshaus in einiger Entfernung
lag. Kein Schüler. Kein Jogger. Kein Hund.
“This direction,“ sagte Kei leise hinter dem Rücken der Gestalt,
etwa anderthalb Meter entfernt. “Who are you?“
~~
Das Lied, das Colin singt, ist Dónal Binn Ó Conaill Caoin/Dónall Ó Conaill.