Akira ließ Geige und Bogen fallen und stürzte auf Ryuji zu, mit vor
Verzweiflung und Hass verzerrtem Gesicht und zu Klauen verkrampften
Händen. Ryuji wich aus und schlug Akira einmal in den Magen. „Das
bringt nichts.“
Akira wurde etwas zurückgeworfen, schien den Schlag aber sonst nicht
zu spüren und langte nach Ryujis Kehle. Der ging einen Schritt
zurück, während sich Kei auf Kira stürzte.
Das ist falsch, das gewinnen wir nicht - Akira schaffte es,
Ryujis Gesicht mit seinen Fingerspitzen zu streifen. Weiter
zurückweichen konnte der Mann mit so vielen Leuten im Gang nicht.
Kei schaffte es, sich einen hübschen Nahkampf mit Kira zu liefern,
jetzt wo er wieder bei Kräften war. Ryuji schlug noch einmal zu und
setzte einen Tritt nach. Akira nahm beides hin, als wäre er in
Schaumstoff eingepackt. Er stolperte rückwärts aber schien nichts
zu spüren. Mit unveränderter purer Aggression warf er sich wieder
auf Ryuji und kam ihm diesmal auch nah genug, um sein Gesicht zu
packen.
Derweil hatte Kei Kira das Messer abgeknöpft und ihn damit
großflächig verletzt, den älteren Vampir störte das allerdings
nur wenig.
Ryuji schaffte es gerade noch, Akira abzuwehren, auch wenn der sein
Gesicht erreicht hatte und dort ein paar Kratzer hinterließ. Nachdem
seine Hand heruntergeschlagen wurde, packte Akira sich dafür Ryujis
Hemd und die Haut darunter und zog sich so an ihn heran, als ob er
auf ihn klettern wollte, und schnappte nach seinem Gesicht. Nichts
war ihm ein dringerendes Bedürfnis, als diesen Mann zu zerfleischen.
Das war sein einziger Wunsch. Ryuji wehrte sich mit harten Schlägen
in Akiras Gesicht und Magengegend.
Kei hatte in seiner Raserei Kiras Gesicht ziemlich demoliert. Er
selbst sah auch nicht viel besser aus. In Akiras Gesicht knackte es
verdächtig, doch auch diese Verletzungen schienen ihm nichts
auszumachen. Sie riefen nicht einmal viel Blut hervor. Er hielt Ryuji
weiter vorn fest und hatte sich so an ihm hochgezogen, dass er die
Füße gegen die Wand hinter dem Vampir stemmen konnte, und biss
wieder nach ihm, diesmal in Richtung Kehle. Ryuji antwortete darauf
mit einem Faustschlag direkt in Akiras Gesicht, bevor dieser seine
Kehle erreichen konnte.
Währenddessen lag Kei unter seinem Vater am Boden, der ihm bei
seinem Versuch, das Messer zurückzubekommen, das Kei in der rechten
Hand hielt, auf Hals und Gesicht schlug. Die Klinge kam dabei Kiras
Kehle gefährlich nahe. Keis Messer traf, schnitt aber nur
oberfächlich. Als Kira dem Angriff auszuweichen versuchte, ohne den
Jungen loszulassen, platzierte der einen Schlag so in Kiras Schulter,
dass es ihm gelang, sich unter ihm hervorzuwinden und aufzustehen.
Mit nun mindestens einmal gebrochener Nase, aus der endlich auch Blut
floss, ließ Akira Ryuji mit einer Hand los, um damit nach dessen
Kehle zu greifen. Der Griff der anderen schraubte sich dabei noch
fester, um ihn weiter zu halten, und bohrte seine Fingernägel in
Ryujis Haut, der daraufhin ein schmerzerfülltes Ächzen von sich
gab. Gleichzeitig drosch er weiter auf Akira ein, um ihn irgendwie
wieder loszuwerden. Doch der hing unbeeindruckt weiter an Ryuji und
steckte dessen Schläge ein, als wären sie kaum mehr als
freundschaftliches Tätscheln. Man konnte zwar Knochen knacken hören
und sehen, wie sich allmählich leichte Blutergüsse bildeten, doch
Schmerzen schien der Junge nicht zu spüren. Als seine Hand von Ryuji
weggeschlagen wurde, kam er dafür mit dem Gesicht näher an den Hals
des Vampirs und biss fest zwischen Halsbeuge und Kehle hinein. Mit
aller Kraft biss und kaute er darauf herum, bis die Haut endlich
nachgab und riss. Das Blut floss reichlich und Ryuji versuchte
weiterhin, sich zu wehren, scheiterte allerdings an der
Schmerzresistenz seines Angreifers, der sich einfach nicht ablenken
ließ.
Kei stürzte sich unterdessen mit hasserfülltem Blick wieder auf den
Mann, der ihm seine Familie genommen hatte. Es war ihm in dem Moment
egal, welche Ereignisse dazu geführt hatten und wer Schuld an was
war. Er hatte lange auf diesen Augenblick gewartet. Beim zweiten Mal
traf er richtig. Kira versuchte noch auszuweichen, aber Kei war
wieder zu schnell für ihn und versenkte das Messer bis zum Heft in
Kiras Hals.
Akira ließ Ryujis Hals nicht los, sondern nagte sich geradezu hinein
und bohrte auch noch mit seiner freien Hand, die wahrscheinlich
gebrochen oder zumindest verstaucht war, darin herum und riss das
Loch größer.
Bis auf schmerzerfüllte Schreie war bald weder von Kira noch von
Ryuji etwas zu hören, aber auch diese verstummten nach wenigen
Sekunden.
Kei war das egal, er hörte nicht auf, den nun beinahe toten Körper
seines Vaters regelrecht auseinanderzunehmen. Akira tat das gleiche
mit Ryuji, mehr oder weniger bewusst. Er riss seinen Hals quer auf
und vergrub sein Gesicht in Ryujis Kehle, um daraus zu essen, während
er ihm das erschlaffende Gesicht zerkratzte und die Augen mit den
Fingern eindrückte. Keis Gesicht und Hände waren bald fast
vollständig von Blut bedeckt, selbiges galt für Kiras Körper, in
den Kei die Zähne geschlagen hatte. Es dauerte lang, bis er den
Blutrausch überwand.
Erst nach minutenlangem Graben und Wühlen in Ryujis Leiche, auf der
er hockte, hörte Akira allmählich auf, während seine Verletzungen
heilten. Mit blutverschmiertem Gesicht hob er seinen Blick, als würde
er gerade aufwachen, und betrachtete das ausdruckslose, verunstaltete
Gesicht vor sich, ehe er zu Kei sah. Der blickte ebenfalls langsam
auf, jedoch nicht in eine spezifische Richtung, so als müsse er sich
erst einmal orientieren, ehe ihm bewusst wurde, wo er war. Seine
blauen Augen fanden nach einigen Sekunden die von Akira und er stand
auf. Blut tropfte an ihm herunter. Es war eine Mischung aus seinem
eigenen und dem seines Vaters. Er sah zufrieden aus.
Akira kniete sich mit einem sanften Lächeln hin und wischte sich mit
dem Handrücken über den Mund. Mit der anderen winkte er Kei zu
sich. Der Vampir ging das kurze Stück zu Akira hinüber ohne sich
das Blut von Gesicht und Händen zu wischen. Das leichte Lächeln auf
seinem Gesicht musste sehr verstörend wirken.
Mit leichtem Ziehen an Keis Hose versuchte Akira, ihm zu bedeuten, zu
ihm herunterzukommen. Er dachte vage daran, dass Kei endlich seinen
Vater bestraft hatte und dass seine eigene Familie nun zumindest
teilweise gerächt war, aber diese Gedanken ließen sich nicht
ausformulieren, sondern blieben wie eine tierische Ahnung als
nebulöse Präsenz etwas außerhalb seines Bewusstseins. Ansatzweise
bewusst waren ihm nur das Fleisch, der Blutgeruch, die
Gewaltbefriedigung um ihn herum und das andere Bedürfnis, das bei
Keis Anblick wieder wuchs. Der ließ sich einfach fallen, sodass er
neben Akira und zwischen den Leichen auf dem Boden landete. In seinem
Kopf waren keine klaren Gedanken, nur eine seltsame Zufriedenheit und
Akira. Alles roch nach Blut um ihn herum, auch er selbst. Er nahm
Akiras Hand, die eben noch an seiner Hose gezogen hatte und zog den
Jungen zu sich. Der küsste ihn, langsam aber tief, und drückte sich
gleich ganz, soweit es ging, an Kei. Er begann zu atmen und der
abebbende Blutrausch der letzten Minuten machte einer anderen
Hormonflut Platz. Der Vampir erwiderte den Kuss umgehend und
vertiefte ihn noch weiter. Dabei drückte er den Kleineren an die
nächstbeste Wand, die in diesem schmalen Flur nicht weit weg war.
Akira seufzte auf und griff Kei beim Nacken, den Schultern, am
Rücken, wo immer er etwas zu fassen bekam, um ihn dicht bei sich zu
behalten. Gierig saugte und leckte er das Blut von Keis Lippen und
rieb die wachsende Wölbung in seiner Hose an ihm. Er rupfte an Keis
Kleidern herum, allerdings ohne dabei einen koordinierten Versuch zu
unternehmen, sie ihm auszuziehen. Dafür lag ihm zuviel daran, den
Vampir anzufassen, wo auch immer, ihn zu kratzen und zu umklammern
und zu küssen. Nichts war dringender. Kei strich über seinen Körper
und riss ihm ohne Gegenwehr die Hose herunter. Sich an der Wand
abzustützen hatte er aufgegeben. Mit einer Hand sortierte er Akiras
Beine so, dass er sich bequem dazwischen platzieren konnte, was den
ohnehin schon nicht großen Abstand zwischen ihnen noch weiter
verringerte. Ohne darüber nachzudenken half Akira mit und
umklammerte mit den Beinen Keis Hüfte. Mit den Händen ließ er ihn
kurz los, um sich eilig das Hemd aufzuknöpfen, damit Kei sich damit
nicht weiter aufhalten musste. Da es stellenweise klamm von Blut war,
klebte es hier und da etwas und mindestens ein Knopf fiel beim
ungeduldigen Aufreißen ab. Keis T-shirt war nicht nur blutgetränkt,
sondern auch teilweise zerrissen. Akira öffnete es ganz und nahm es
Kei hastig ab. Es landete auf dem Boden und auch Akiras Hemd leistete
ihm schnell Gesellschaft. Nachdem das lästige Ablegen von Kleidung
dann beendet war, widmete der Vampir sich dem wirklich wichtigen:
Akira. Er küsste ihn wieder und nahm ihn in eine Hand, während er
ihn mit der anderen im Nacken festhielt. Dem Druck versuchte Akira zu
widerstehen, ohne bestimmten Grund, und er stemmte sich mit den
Schultern gegen die Wand, während sein Becken in die andere Richtung
wollte. Er legte die Arme um Keis Schultern und vergrub die Hände in
den feuchten Haaren. Kei machte sich nicht viel daraus, dass Akira
sich ihm entgegenzusetzen versuchte, er war stärker und nutzte das
auch schamlos aus, indem er ihn einfach weiterhin gegen die Wand
drückte. Auf dem Schlüsselbein seines Freundes hinterließ er eine
Reihe zärtlich-brutal zugefügter Bissspuren. Diese kleinen
Schmerzen spürte Akira nun, dieses fantastische Stechen und Reißen,
und er revanchierte sich genüsslich stöhnend mit seinen
Fingernägeln in Keis Rücken, Nacken, Hinterkopf, und schob sein
Becken weiter verzweifelt seinem Freund entgegen. Der Vampir kam der
nonverbalen Aufforderung mit großer Freude nach und versenkte sich
rücksichtslos in Akiras Körper. Was der Kleinere nicht sehen
konnte, war Keis benebeltes, völlig abwesendes Grinsen. In Keis
Halsbeuge zog sich Akiras Gesicht zusammen, genau wie sein ganzer
Körper sich verkrampfte und den Schmerz nur noch zu vervielfachen
schien. Er stöhnte laut auf und biss danach in Keis Schulter.
Irgendetwas trieb ihm auch Tränen in die Augen und seine Wangen
hinunter, aber das bemerkte er gar nicht. Kei dachte nicht daran,
darauf Rücksicht zu nehmen, dass Akira eventuell Schmerzen haben
könnte. Er bewegte sich nur deshalb erst nicht allzu schnell, weil
es einfach nicht ging. Aber das änderte sich sehr bald.
Akira stemmte sich nur mit den Schultern gegen die Wand und
konzentrierte sich allein auf das brennende Pulsieren, das von seiner
Körpermitte in den kalten Rest seines Körpers ausstrahlte. Sein
Stöhnen wurde zu unterdrücktem Schluchzen und es fiel ihm schwerer,
Kei festzuhalten. Der Vampir wurde noch ein kleines bisschen
schneller, die Stöße härter und rücksichtsloser.
Akira ließ ihn mit einer Hand los um irgendwoanders Halt zu suchen,
und fand nach ziellosem Tasten in der Luft und entlang der Wand neben
sich Ryujis schmieriges Gesicht. Erschrocken sog er etwas Luft ein,
die ihm Kei sofort wieder austrieb. Er ließ sich hier von Kei
ficken, auf den zerfetzten Leichen dieser Männer, einer davon Keis
Vater...
„Scheiße,“ keuchte Akira und drückte gegen Keis Brust, in der
lächerlichen Hoffnung, er könne ihn damit aufhalten.
Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht. Kei dachte gar nicht daran,
mit dem aufzuhören, was er gerade tat. Dass Akira gewahr wurde, was
gerade eigentlich passierte, bekam er gar nicht mit.
„Hör auf,“ brachte der Junge noch heraus, aber Kei weiter
schubsen konnte er nicht effektiv. Was machst du... Er mochte
das hier, oder wenigstens sein Körper tat das, und er empfand auch
eine perverse – nein, eine gerechte – Genugtuung dabei,
aber es war...
schmerzhaft.
Er sah Kei finster in die Augen und stemmte sich gegen ihn. Kei hörte
ihn zwar, nahm aber nicht richtig wahr, was er gesagt hatte.
Warum...? Er wusste, dass Akira gefiel, was er tat, dafür
sprach sein Körper eine zu eindeutige Sprache. Hinzu kam, dass er
nicht aufhören wollte.
Es tut weh! Frustriert
stöhnend stieß Akira mit dem Kopf an die Wand. Er kratzte auf Keis
Schlüsselbein herum aber konnte nicht umhin, sich eifrig gegen Kei
zu bewegen. Sein Stöhnen konnte er auch nicht hinunterschlucken.
Wenn er die Augen öffnete, sah er Kei vor Schmerz und Lust berauscht
an.
„Keisuke,“ flüsterte er zwischen zerbissenen Lippen.
Mit noch immer leichtem Grinsen auf den Lippen küsste der
Angesprochene ihn, ohne innezuhalten oder langsamer zu werden, und
flüsterte ein leises „Hm?“
Akira kam der Kuss gelegen, weil er
außer Keis Namen sowieso nichts hatte sagen wollen. Gierig erwiderte
er ihn. Mithilfe von Zunge und Zähnen versuchte er, dem Vampir einen
Teil von dem wiederzugeben, was er ihm gerade antat. Ich
liebe dich.
Das leichte Grinsen auf Keis Gesicht verschwand nur, weil sein Mund
nun anderweitig beschäftigt war.
Als Akira mit so etwas wie einem schluchzenden Schrei kam, krallte er
sich in Keis Nacken und Ryujis zerstörtem Gesicht fest. Kei kam
beinahe zeitgleich mit Akira. Etwas weniger laut stöhnend krallte er
sich in dessen Rücken und erfolglos mit der anderen Hand an der Wand
fest. Der Ausdruck auf seinem Gesicht und in den blauen Augen
wandelte sich zu glücklich-benebelt, auf eine leicht verstörende
Weise.
Akira hatte aufgehört, ihn zu küssen, lehnte aber immer noch an
Keis Lippen und keuchte dagegen. Seine verschmierten Finger
glitschten aus Ryujis Augenhöhlen und fuhren sanft zitternd über
Keis Wange, wo sie frische hellrote Spuren hinterließen, und er
behielt die Augen geschlossen, während er Kei einatmete und seine
Orgasmuswelle zuende ritt. Der Vampir tat es ihm gleich und kehrte
langsam wieder in die Gegenwart und Realität zurück. Mit
geschlossenen Augen spielte er mit Akiras Haaren herum.
„Warum hast du mich leben lassen?“ murmelte Akira plötzlich
atemlos.
„Ich will nicht, dass du draufgehst,“ antwortete Kei leise. Akira
öffnete die Augen und lehnte den Kopf zurück an die Wand. Mit
seinen zitternden Beinen hielt er Kei weiter fest.
„Bei der Schule meine ich, als ich dich gesehen habe...“
„Ich weiß nicht, warum,“ gestand Kei. Er wusste es wirklich
nicht. Er hatte ihn einfach leben lassen.
Akira wusste auch nicht, warum er nicht weggelaufen war. Oder doch,
vielleicht ein bisschen. Kei hatte ihn zu sehr fasziniert.
„Warum hast du mich danach...“ Angegraben? Belästigt? Dich an
mich rangemacht? Dich mir aufgedrängt?
„Einfach so. Ich hatte keinen wirklichen Grund.“
„Gib mir eine Antwort,“ drängte Akira mit einem schwachen
aggressiven Unterton und drückte gegen Keis Wange, als würde er ihn
in Zeitlupe ohrfeigen.
„Das ist ‘ne Antwort. Erwartest du wirklich einen rational
nachvollziehbaren Grund, dir angetrunken und rattig auf‘s Klo
nachzulaufen?“ Kei sprach ruhig und grinste ein minimal kleines
bisschen. Das brachte ihm einen giftigen Blick von Akira ein.
„Ja. Ich war auch angetrunken und scharf und ich bin dafür allein
aufs Klo gegangen. Warum musstest du mich belästigen? Hör
auf, so bescheuert zu grinsen!“ Er zog seine beschmierte Hand
schnell zurück, so als ob er Kei eine richtige Ohrfeige geben
wollte. Kei zwang sein Gesicht dazu, das Grinsen sein zu lassen und
schaute dem anderen in die Augen.
„Warum nicht? Du warst interessant und bist es immer noch. Dann bin
ich dir halt nachgegangen. Geht‘s dir wirklich um den Tag?“
Akira hielt inne und errötete leicht. Es ging ihm um jeden Tag.
„Ich war interessant? Wann?“ Es war ihm unerklärlich, was der
Vampir an ihm interessant gefunden haben mochte. Skeptisch musterte
er ihn.
„Du bist interessant,“ stellte Kei klar, immer noch ruhig.
Erklären konnte Kei sich schwer. Es war einfach so, wie erklärte
man sowas? Akira schien sich damit nicht zufriedenzugeben. Er sah Kei
weiter fordernd an. Mit möglichst stechendem Blick. Er wusste nicht,
ob der ihm gelang. Kei kümmerte nicht großartig, wie der Kleinere
ihn ansah, da es nichts daran änderte, dass er nicht erklären
konnte, warum er an Akira interessiert war. Was will er hören?
Kei mochte es nicht besonders, wenn irgendwer, selbst Akira,
Erwartungen an ihn hatte, die er nicht erfüllen konnte oder wollte,
aber er ließ sich nichts anmerken.
Akira kitzelte es im Hinterkopf, Kei zu provozieren. Vielleicht, weil
es ihn gerade so nervte, dass Kei bei dieser Sache hier nicht so aus
der Fassung geraten war wie er selbst. Dabei kümmerte es ihn auch
nicht, dass er immer noch in ihm steckte und er ihm ausgeliefert war.
„Du bist ein bisschen dumm, oder?“ Das unterstrich er mit einem
herausfordernden Nicken.
„Nein... ich hab nur keine Ahnung von Menschen.“ Kei hatte nicht
vor, sich großartig provozieren zu lassen. Er wusste, wo das enden
konnte.
Akira musterte ihn. Dabei wurde sein Gesichtsausdruck weicher. Er
weinte auch wieder, aber nur ein bisschen. Ich muss den Anfang
machen.
„Du bist interessant, weil du selbstständig und stark bist.“ Er
sprach leise. „Du bist seltsam, weil für dich die Menschen Beute
sind, aber du mich nicht immer so ansiehst. Ich kann sehen, wie du
mich beobachtest. Und ich will wissen, warum. Ich will verstehen,
warum ich wertvoller bin als andere.“
Kei dachte nach. Er wusste wirklich nicht, warum ausgerechnet Akira
für ihn wertvoller war als alle anderen. Tatsache allerdings war,
dass es so war. „Du bist nicht wie die anderen. Du warst schon
immer anders. Du hast keine Angst vor mir. Du erwartest nichts von
mir und bist trotzdem da.“ Kei dachte hörbar, wenn auch nicht
gerade laut. Du faszinierst mich... Seit diesem Tag.
„Das ist falsch,“ flüsterte Akira. „Ich hatte eine Scheißangst
vor dir. Und ich habe von dir erwartet, dass du mich in Stücke reißt
und austrinkst. Und jetzt erwarte ich von dir... jetzt habe ich auch
Erwartungen.“ Er hatte auch immer noch Angst vor ihm. Er legte die
Arme um Keis Schultern.
„Ich bin nicht gut darin, zu machen, was man von mir erwartet,
vielleicht lebst du deshalb noch.“ Kei ließ den Rest
unkommentiert. Was er am wenigsten konnte, war, sich so auszudrücken,
dass man ihn verstand oder es gar einen wirklichen Sinn ergab. Das
lag einfach daran, dass er nicht gut darin war, mit Menschen
umzugehen. Wenn er sich jemals näher mit Menschen beschäftigte,
starben diese Leute meist schnell.
„Ich erwarte von dir, dass du dich unsterblich in mich verliebst.“
Es war Akira offensichtlich peinlich, das zu sagen, aber was war sein
mickriger Stolz noch wert, nachdem er tagelang in einem finsteren
Keller festgehalten worden war, mit Kei diese Männer getötet hatte
und sich dann auf ihren Leichen so von ihm hatte nehmen
lassen?
Kei sah das nicht wirklich als Erwartung an. Und es war etwas, was er
tatsächlich erfüllen wollte und schon längst hatte. Aber
nicht, weil Akira behauptete, es zu erwarten. Für Kei waren
Erwartungen mit Druck und deren Nichterfüllung meist mit negativen
Konsequenzen verbunden.
„Das ist keine Erwartung...“ sagte der Vampir ruhig. „Und wenn
ich das nicht längst hätte, wäre ich wahrscheinlich noch tot...
und du vielleicht auch.“
Akiras Mundwinkel zuckte amüsiert. „Du kannst dich besser
ausdrücken, als du glaubst. Jetzt lass mich los.“
„Ich hab‘ mich noch nicht entschieden, ob ich dich loslassen will
oder nicht.“ Kei schmunzelte ein kleines bisschen.
„Ich erwarte von dir, dass du mich bis in alle Ewigkeit festhältst.
Wenn du mich jetzt loslässt, wird das schreckliche Folgen haben.“
Mit diesen sardonischen Worten drückte er etwas gegen Keis Brust.
Kei ließ ihn los. Schmunzelte leicht in sich hinein. Er machte ein
mhm – Geräusch, das eindeutig klarmachte, dass er den
Kleineren nicht ernst nahm. Er schaute sich um. „Bevor die Bullen
da sind, sollten wir hier weg sein,“ merkte er an.
„Genau meine Rede... Blitzbirne.“ Bevor Kei etwas entgegnen
konnte, küsste er ihn und machte sich daran, aufzustehen.
Der Vampir erhob sich seinerseits als er den Kuss kurz erwiderte.
Schnell zog er Jeans, Stiefel und Jacke wieder an. Sein Rucksack war
nun so gut wie leer. „Wir sollten einkaufen,“ schlug er vor.
Akira hatte sich ebenfalls wieder angezogen und dabei wie zuvor seine
Unterwäsche und das T-shirt ausgelassen. Er trug nur seine Jeans und
das kurzärmelige Knöpfhemd, das sich nun nicht mehr ganz schließen
ließ. Seine Jacke war scheinbar irgendwann während der Entführung
abhanden gekommen oder von den Männern entfernt worden,
wahrscheinlich damit er vernünftig gefesselt werden konnte. Eilig
hatte er sich die Stoffturnschuhe, in denen er mit nackten Füßen
steckte, zugeschnürt und packte nun die Geige wieder ein, die beim
Aufprall auf den Boden glücklicherweise keinen Schaden davongetragen
hatte.
Als er damit fertig war, war auch sein Körper bereits verheilt und
es blieben keine Spuren des Kampfes mehr zurück, als er sich das
Blut und den Schweiß abgewaschen hatte. Auch der Schmerz und die
mutmaßlichen Verletzungen, die ihm Kei gerade eben zugefügt hatte,
hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst.
Seinem Beispiel folgend wusch Kei sich das Blut ab und stellte dabei
fest, dass auch er keine Verletzungen mehr hatte. Schließlich
schulterte er seine Tasche mit dem Schwert, das Kira in Besitz gehabt
hatte, und machte sich daran, den Gang hinunterzugehen. „Hier
geht‘s raus, glaub ich.“
Akira schulterte seinen Geigenkasten, während er ihm nachging.
Während Kei sein Schwert gefunden hatte, hatte er noch die Taschen
des jungen Mannes in ihrem Zimmer untersucht und nun auf dem Flur
machte er kurz Halt, um Ryujis und Kiras Leichen nach Brieftaschen
oder anderem nützlichem zu durchsuchen.
Ryuji hatte tatsächlich eine Brieftasche mit gar nicht mal wenig
Bargeld dabei. Kira zu filzen brachte keinen solchen Erfolg. Kei
wartete auf ihn.
„Was gefunden?“
„Geld.“ Akira nahm die Scheine aus dem Portemonnaie und steckte
sie in eine Hosentasche, während er wieder losging.
Einige Stunden später war der Einkauf erledigt und Kei hatte den Weg
zu seinem Boss Masahiro eingeschlagen. In seinem neuen Rucksack
befanden sich ein paar neue Kleider, ein Feuerzeug, drei Schachteln
Kippen und neue Schusswaffen – nur für den Fall. Er selbst hatte
auch neue Kleidung besorgt, nur seine Jacke hatte er behalten. Auch
Akira war nun mit neuer Garderobe ausgestattet. Die lange getragenen
Kleider hatte er in eine der Plastiktüten aus den Geschäften, die
sie aufgesucht hatten, eingepackt und in seinen neuen Rucksack
gestopft. Seine Schuhe trug er noch, alles andere war neu und schön
einheitlich schwarz. Für die Anonymität trug er nun noch eine Mütze
und eine Sonnenbrille.
„Soll ich mitkommen oder lieber irgendwo warten?“ fragte er. Er
war sich nicht sicher, was Kei mit seinem Boss besprechen wollte.
„Du kannst mitkommen,“ entschied Kei spontan, als er das
unauffällige Bürogebäude betrat. Als sie nach einer Weile des
Umhergehens am Büro des Yakuzabosses angekommen und zu seiner Tür
vorgelassen worden waren, klopfte der Vampir an und wartete, bis sie
hereingebeten wurden. Akira stand stumm und relativ ausdruckslos
neben ihm und sah sich um. Er hatte Mütze und Sonnenbrille nicht
abgenommen.
Als von hinter der Tür eine Stimme dazu einlud, einzutreten, sah er
auf die Klinke. Kei drückte diese und betrat mit knapper aber
höflicher Verbeugung den Raum.
„Wir haben ein Problem,“ verkündete er und trug kurz die Misere
vor, in der er und Akira gerade steckten. Der Mann namens Masahiro
hörte geduldig zu. Die anderen Anwesenden verhielten sich so ruhig
wie Statuen.
„Gib mir dein Handy, Sakai-kun,“ forderte Masahiro, nachdem er
erfahren hatte, dass Kei es noch besaß. Ohne zu murren händigte er
es ihm aus und musste mit ansehen, wie es einfach auseinandergebaut
und zerstört wurde. Akira zuckte unwillkürlich zusammen, als ein
Anzugmann, der stumm neben dem Schreibtisch gestanden hatte, das
Telefon auf dem Boden mit einem schweren Aschenbecher zertrümmerte.
Gleich darauf verzog er das Gesicht vor Enttäuschung von sich
selbst. Das hier war nur die Yakuza. Er hatte furchterregenderes
hinter sich. Und es war Keis Yakuza. No reason to be jumpy,
sagte er sich selbst. Er musterte den Boss genau. Der unterhielt sich
noch eine Weile mit Kei, nachdem der sich beschwert hatte, warum man
sein Telefon denn bitte hatte zertrümmern müssen. Akira hörte
irgendwann auf, zuzuhören und musterte stattdessen die drei weiteren
Männer, die die ganze Zeit nichts sagten und sich kaum bewegten. Der
Telefonzertrümmerer stand wie ein Leibwächter neben dem
Schreibtisch, während die anderen beiden auf einem Sofa saßen. Der
eine, der statt Anzug und Krawatte ein Hawaiihemd mit Cargohose trug,
saß bequem zurückgelehnt mit ausgebreiteten Armen da und rauchte
gemächlich. Der andere hatte verschiedene Mappen und einen
Taschenrechner vor sich auf dem niedrigen Kaffeetisch liegen und
schien damit zu arbeiten. Ab und zu nickte er, nachdem der Boss etwas
gesagt hatte, ohne dafür jedesmal von seinen Papieren aufzublicken.
Irgendwann wandte Kei sich zu Akiras um und erklärte ihm, dass sie
in drei Stunden noch einmal wiederkommen sollten, um sich neue
Ausweise und Flugtickets abzuholen. Akira sah ihn an und hoffte, dass
er dabei nicht zu doof guckte. Ausweise und Flugtickets, klar. Sie
mussten ja abhauen. Und am besten ins Ausland, das war auch klar. Das
ging nur mit Pässen und einen Flugzeug. Er verstand nur nicht, was
das mit diesen Leuten hier zu tun hatte.
„Warum helfen Sie uns?“ richtete er das Wort an Masahiro.
„Sakai-kun hat noch einen gut bei mir,“ erwiderte dieser und
musterte Akira nun. Der blasse Junge, dessen blutrote Locken etwas
unter der dünnen Wollmütze hervorschauten, begegnete seinem Blick
ernst. Ihm wurde bewusst, dass es unhöflich war, die beinahe
schwarze Sonnenbrille aufzubehalten, aber er entschied sich dagegen,
sie jetzt abzunehmen. Das wäre ihm wie eine Geste der Unterwerfung
vorgekommen, so als wäre er ein Wolf und würde auf diese Weise dem
Alpha seine Kehle anbieten. Kei mochte diesen Mann zwar und schien
ihm zu vertrauen, aber Akira behielt sich vor, sich seine Freunde
selbst auszusuchen. Vage fiel ihm auch ein, dass er sich beim
Eintreten nicht verbeugt hatte. Das war allerdings keine Absicht
gewesen.
„Danke,“ sagte er.
Kei bedankte sich ebenfalls und verließ den Raum dann wieder
zusammen mit Akira. Draußen sagte er: „Wir gehen weit weg.
Südamerika.“
„Südamerika?“ wiederholte Akira blöde. „Warum?“
„Dort fallen wir nicht weiter auf und man sucht uns dort nicht. Es
ist kein Ort, wo vermutet wird, dass wir hingehen,“ erklärte Kei.
Dass gewisse Geschäftsbeziehungen von Masahiro auch ein wenig damit
zu tun hatten, hielt er nicht für erwähnenswert. Akira runzelte
sachte die Stirn.
„Das trifft auch auf den Rest der Welt zu. Ich kann kein Spanisch.“
„Wir müssen dort ja nicht lange bleiben. Sieh es als Start für
eine Weltreise.“
Weltreise? Akira blieb
stehen.
Er würde jetzt ewig auf der Flucht
mit seinem Wahnsinnigen durch obskure Karibikstaaten reisen,
vielleicht? Nicht übel. Er blickte leicht schmunzelnd zu Boden. Kei
legte den Kopf in den Nacken und schmunzelte leicht. „Wir können
hingehen, wo wir wollen. Und Spanisch lernen wir sicher schnell.“
„Bei dir wäre ich mir da nicht so
sicher. Your English is still pretty terrible, love.“ Akira ging
weiter. Die drei zu wartenden Stunden mussten sie nicht hier im Flur
verbringen. Es war zwar nicht sehr klug, das Gebäude wieder zu
verlassen, aber es musste doch hier irgendwo einen Kopierraum oder
ein Lager oder sowas geben.
Kei ließ das unkommentiert und folgte dem Kleineren. „Wo willst du
hin?“ fragte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. Das
Gebäude war riesig.
„Somewhere more private,“
antwortete Akira schlicht und ging weiter die Türen ab. Die meisten
waren geschlossen. Sie kamen an einer Teeküche vorbei und an einer
Nische mit Getränke- und Imbissautomaten, einem Wasserspender und
einem Tisch mit Stühlen. Zu öffentlich,
befand Akira und ging weiter, bis sie wieder bei den Fahrstühlen
ankamen. Als hätte er es geplant, drückte er auf den Aufwärtsknopf.
Kei folgte ihm einfach.
„Wie wär‘s mit dem Dach?“ schlug der Vampir vor. Es war zwar
nicht vorgesehen, aber es gab einen Weg auf das Dach, der meistens
auch offen war... und wenn nicht, war das für ihn auch kein
Hindernis.
Akira nickte und vertraute darauf, das Kei das sah. Der Fahrstuhl
schien in der Nähe gewartet zu haben, denn er kam sehr schnell an
und war leer, als er sich für sie öffnete. Akira rauschte hinein,
drückte den Knopf für das oberste Stockwerk und nahm dabei endlich
seine Brille ab.
Oben angekommen schlenderte Kei in
Richtung Treppenhaus, in dem es einen Aufgang für das Dach gab. Es
war eine Feuertreppe, über die im Notfall das Dach erreicht werden
konnte. Akira ging ungeduldig hinter ihm her. Ohne zu wissen, warum,
hatte er es im Fahrstuhl versäumt, über Kei herzufallen, und nun
musste er sich bewusst davon abhalten, Kei zu schubsen, damit es
schneller ging. Nachdem er die Tür zur Feuertreppe geöffnet hatte,
kletterte Kei auf das hohe Dach des Bürogebäudes. Man konnte sehr
weit sehen. Überall turmhohe Gebäude und viele kleine
Ameisenjapaner, die über die Straßen liefen und einem geregelten,
geordneten Leben nachgingen.
Langsam neigte sich der Tag seinem
Ende. Der Himmel war wolkig und es war nicht sonderlich warm. In dem
Moment, in dem Kei das Dach betrat, begann ein leichter Schneefall.
Die kalte Luft und das Rauschen von so tief unten ließen Akira still
werden. Er hatte zwar sowieso nichts gesagt, aber beim Anblick der
ersten Schneeflocken wollte er das auch nicht mehr. Langsam und um
Einiges gelassener ging er zur sehr niedrigen Brüstung des Daches
und legte seine beiden Taschen davor ab. Friedlich atmete er durch
und sah über die Stadt. Mit der Hand fing er ein paar Schneeflocken
auf, die nicht gleich schmolzen. Kei leistete ihm Gesellschaft und
legte seinen großen, vollgestopften Rucksack daneben. Er setzte die
Kapuze der Sweatshirtjacke auf, die er unter der Lederjacke trug. Für
seine Verhältnisse war er sehr warm angezogen. Lederjacke,
Sweatshirtjacke, Tanktop, Jeans und Stiefel. Dafür, dass er nicht
fror, war das sehr viel Stoff. Der Vampir legte einen Arm um Akira
und zog ihn an sich. Akiras Herz hüpfte und der Schnee auf seiner
Hand und seinem Gesicht wurde sofort zu Wasser. Sein kleines geheimes
Lächeln, das ein wenig Farbe in sein Gesicht brachte, wandte er Kei
zu. Der sah dem Schnee ein Weilchen beim Schmelzen zu, ehe er Akira
küsste. Der erwiderte den Kuss sanft. Beinahe zögerlich, denn
irgendetwas kribbelte in seinem Gesicht und seinen Händen, die Keis
neue Lederjacke festhielten, und zerrte ungeduldig an den Organen
hinter seinen Rippen. Darum war er froh um die vielen
Kleiderschichten zwischen ihnen. Wenn der Vampir seinen Herzschlag
jetzt wahrnehmen konnte, würde er wieder so eingebildet grinsen. Und
er würde auch ums Verrecken nicht aussprechen, was er gerade dachte.
No, sir. Kei hielt den Kuss lächelnd aufrecht, zumindest für eine
Weile. Sein Körper wurde allmählich wärmer.
Ich liebe dich. Hey, denken
durfte Akira, was immer er wollte. Er öffnete die Augen und sah Kei
an, immer noch an seinen Lippen hängend. Er hatte das wachsende
Bedürfnis, diesen Jungen zu verschlingen. Keis Gesicht war ruhig und
friedlich. Seinen Arm, den er um den Kleineren gelegt hatte, schob er
unter Akiras Jacke. Er küsste ihn wieder.
Wenn man Akira hinterher gefragt hätte, wie lange sie so dort
gestanden hatten, hätte er selbstbewusst auf fünf bis fünfzig
Minuten getippt. Nach Ablauf dieser schrecklich kurzen Ewigkeit
jedenfalls fiel der Schnee immer noch, weiterhin so dünn wie zu
Beginn, aber mittlerweile war davon eine feine Schicht auf dem Dach
und auf ihren Mützen und Schultern liegengeblieben.
Kei kümmerte nicht, wie viel Schnee
gefallen oder dass es mittlerweile sehr kalt geworden war. Irgendwann
unterbrach er den Kuss und nahm den Kleineren in den Arm, so hielt er
ihn einfach fest. Der Schneefall wurde ein wenig dichter und es
dauerte nicht lang, bis sie beide und ihre Taschen dünn eingeschneit
waren. Von irgendwoher kam Kei der Gedanke, dass er gern im Winter
Geburtstag hatte. Mit ganz viel Schnee. Er mochte den Winter sehr,
aber in diesem Jahr würde sein Geburtstag irgendwoanders
stattfinden. Nicht, dass er ihn gern feierte. Der Vampir schob den
Gedanken wieder beiseite und vergrub den Kopf in Akiras Jacke. Um sie
herum schien es stiller geworden zu sein. Der Himmel war noch dunkler
geworden und die Wolken hatten sich verformt, hingen aber immer noch
dick und schwer über ihnen.
Es raschelte etwas, und Akiras schöne neue Wolljacke öffnete sich.
Darauf folgten die Knöpfe seines schwarzen Hemdes darunter. Kei trug
seine beiden Jacken offen. Er nutzte das nun offene Hemd des
Kleineren aus, um seine Hand darunter zu schieben. Er war warm
darunter. Akiras warmer Atem drang durch den Stoff des Tanktops, und
den schien der Junge auch zu ignorieren, als er die Lippen darauf
setzte. Mit leichtem Lächeln nahm Kei die Wärme des Kleineren zur
Kenntnis und strich leicht über dessen Haut. Er selbst war nie
richtig warm, aber mit pumpendem Herzen etwas wärmer als als wenn er
tot war. Mit der freien Hand, die bis eben noch im Freien um Akira
gelegt war, schob er dessen Hemdkragen leicht zur Seite und küsste
ihn dort.
Kalt. Akira schauderte
leicht. Er lehnte den Kopf unter Keis Kinn und sah sich den Himmel
und die Dächer an. Die Sonne ging auf der anderen Seite des Gebäudes
unter, sodass der Horizont schwarz war und die Wolkenberge orange und
rosa leuchteten und die Fassaden in den gleichen Farben glänzten.
Ich war noch nicht einmal fünf Jahre lang hier.
Mit leicht traurigem Blick
betrachtete Kei nun seinerseits die Umgebung. Ich werde
Tokyo vermissen... Irgendwann komme ich wieder hierher zurück. Er
drückte Akira leicht.
Vielleicht kommen wir auch gar nicht erst weg,
stichelte ein gemeiner Zwerg in Akiras Hinterkopf. Er hatte auch gar
nichts gegen das Sterben. Solange er das mit Kei tun konnte. Nimm
das, gemeiner Zwerg. Er blickte
zu Kei auf und wischte ihm Schnee von den Schultern.
„Ist es Zeit, wieder runterzugehen?“
„Nein, die drei Stunden sind
bestimmt noch nicht um.“ Kei hatte keine Uhr mehr und auch nicht
daran gedacht, sich eine zuzulegen aber er war sich sicher, dass sie
noch keine ganze Stunde auf dem Dachen waren.
„Gut.“ Akira wusste nicht, wie gut das war. Er hatte es eilig, zu
verschwinden, aber andererseits wollte er überhaupt nicht weg. Der
gemeine Zwerg lachte gehässig, während er in seinem Kopf eine
unmögliche Fantasiezukunft mit Kei und seiner Familie hier in Tokyo
abspulte, mit privaten Teezeremonien im Garten und Weihnachten, wie
Humphrey Keis grimmiges Gesicht ableckte und wie Akira und Shingo
RooD beitraten und... er legte seine Stirn auf Keis mittlerweile
feuchtgeschmolzenes Hemd und schloss die Augen.
Kei schweifte mit den Gedanken
ebenfalls ab, aber nicht in eine solche harmonische Richtung, die
hatte es in seinem Leben nur zu kurz gegeben, als dass er sich nun so
etwas vorstellen konnte. Er dachte eher daran, wo sie nun hingehen
würden. Überall mal hin... beschloss
er dann einfach und hielt Akira fest, während er in die Ferne sah.
Beim Nachdenken fiel ihm auf, dass es ihm fast egal war, wo er
hingehen würde. Schließlich hatte er nie ein Leben mit Konstanten
gehabt. Das einzige von dem er wollte, dass es niemals verschwinden
würde, war der Junge, den er gerade festhielt.
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