|Vamps - Devil Side (Youtube)|
Als Colin wenig später wieder hereinkam, trug er den Rock und das schwarze, enge Beinkleid, das allerdings nicht die Strumpfhose war, denn die hatte er immer noch in der Hand und wurde nun achtlos aufs Bett gepfeffert. Das war momentan auch alles, was er anhatte, und es schien haargenau zu passen. Delilah und Kei hatten gutes Augenmaß bewiesen. Kei grinste leicht, als Colin aus der Tür kam. Ja, das hatten sie gut hinbekommen. Auch nur halb angezogen. Colin hatte sich entscheiden müssen, ob er sich lieber mit der Strumpfhose den Sack abklemmen oder mit den langen Strümpfen etwas Haut zeigen wollte. Die Wahl war ihm nicht schwer gefallen.
Ohne Kei anzusehen - er war schon rot und verschämt genug - zog er
sich irgendein enges, dünnes Kapuzenshirt aus einer Schublade und
zog es sich über, damit er sich die Perücke befestigen konnte.
„Hast du Spaß, ja?“ brummte er, während er mit Haarklammern und
einem schwarzen Tuch hantierte, um die Haare festzumachen und den
Ansatz zu verdecken.
„Ja, sehr viel.“ Kei grinste. Dann ließ er Colin allein. Er
musste sich selbst auch noch anziehen.
Um acht Uhr war Colin fertig, fand er, oder zumindest so bereit, wie
er jemals sein würde. Er dankte den beiden insgeheim für die
unpeinlichen und bequemen Stiefel, die Abwesenheit jeglicher
ausgestopfter BHs und die Ketten und Ledergurte. So war er wenigstens
eine geschmackvolle Dragqueen. Der Sitz seiner Perücke musste noch
etwas korrigiert werden, damit sie bei heftigeren Bewegungen nicht
herunterfiel, aber das war mithilfe der Haarspangen und des Tuches
leicht getan.
Kei trug ein schwarzes T-shirt mit Lederjacke - eigentlich wie immer
- und eine schwarze Hose mit einem Loch am rechten Knie, die mit
Kette und Nietengürtel dekoriert war. Er trug weiße Kontaktlinsen
mit dem schwarzen Umriss eines Wurfsterns, um seine blaue Iris
verschwinden zu lassen. Um seinen Hals baumelte das von Eric Clapton
signierte Plektrum, das Colin ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.
„Das ist viel zu auffällig, mein Freund,“ sagte Colin in der
Eingangshalle und zeigte auf Keis Gesicht, während er ihm in die
Augen starrte. In einer Hand hielt er einen kleinen Zettel, den ihm
Delilah gerade gegeben hatte, zusammen mit einer ihrer Lederjacken.
„Delilah wartet draußen,“ meldete er, während er sich die Jacke
anzog. „Sie hat braune Linsen drin.“
„Ich kann ja braune Augen mit bunten Kontaktlinsen haben.
Hauptsache, man sieht das Blau nicht,“ entgegnete Kei
schulterzuckend.
„Und wenn du auffällst, werden die Leute sagen, ‚Oh da war ein
Asiate mit komischen Augen,‘ und das wird schon reichen.“
Als sie nach draußen kamen, schien Delilah der gleichen Ansicht zu
sein, denn sie sah Kei streng an.
„Ist ja gut. Bin sofort wieder da.“
Drei Minuten später kam Kei mit braunen Augen wieder zurück. Als er
die Treppe herunterkam, zuckte Colin von Delilah weg und strich sich
verstohlen über die Haare. Delilah stieg einfach ausdruckslos auf
ihr Motorrad und setzte sich eine Sonnenbrille auf. Sie hatte keinen
Helm dabei. Kei holte sich sein Motorrad und bedeutete Colin,
aufzusteigen.
„Du kannst ja nicht fahren.“ Nicht mehr.
Er machte es umständlich, das Aufsteigen, denn immerhin trug er
(fast) keine Hose. Und der Rock war nun doch ziemlich kurz. Er
hoffte, dass Kei nicht darauf achten würde.
„Ich heiße übrigens Ivy Branson,“ informierte er Kei.
„Den Vornamen wusste ich. Es ist mir eine Freude, dich
kennenzulernen.“
„Gleichfalls. Wie heißt du eigentlich?“ Colins Arme legten sich
um Kei.
„Sakamoto, Kenichi.“ Kei freute an dem Namen nur, dass man immer
noch Kei daraus basteln konnte. Er gab Colin/Ivy einen Helm, der am
Lenker hing, und setzte sich den anderen auf.
„Ich weiß nicht, ob ich den aufziehen sollte. Die Perücke...“
„Herrscht in England Helmpflicht?“
„Ja.“
„Dann ja, aber vorsichtig.“
Gesagt, getan. Und als letzte Sicherheitsmaßnahme hielt er sich
wieder an Kei fest. Nur Delilah schien sich darum nicht zu kümmern.
Die war auch schon gemächlich vorgefahren und nicht mehr zu sehen.
Kei bedeutete Colin, sich festzuhalten, und fuhr dann auch los. Er
kannte den Weg, also war es egal, ob Delilah noch zu sehen war oder
nicht. Auf der Fahrt beruhigte es Colin ungemein, dass sein Rock gut
genug zwischen ihm und Kei eingeklemmt war, um nicht herumzuflattern.
Dass er auf dem vibrierenden Sitz so dicht an Kei gedrückt
dasaß, hatte allerdings einen gegenteiligen Effekt. Und sorgte für
Nervosität.
Kei gefiel das. Auf der freien Straße fuhr er ein bisschen
schneller. Erst als der Verkehr zunahm, fuhr er verkehrsgerecht.
Du bist zu schnell, fuhr Colin durch den Kopf. Aber viel
machte ihm das nicht aus. Kei konnte fahren. Und nach ein paar
Minuten fiel es ihm immer leichter, sich vorzustellen, dass er
gehörig viel für ihn übriggehabt haben konnte. Es war
offensichtlich, dass Kei mit seinen Fahrkünsten angeben wollte. Das
konnte er gut. Als er wieder langsamer werden musste, weil der
Verkehr etwas dichter wurde, hatte er Delilah wieder eingeholt. An
einer roten Ampel nahm sie die beiden zur Kenntnis und ließ den
Motor ein bisschen aufröhren, tat aber nicht so, als würden sie
sich kennen.
Colin nahm diese Gelegenheit wahr, seine Hände scheinbar ziellos ein
wenig auf Keis beledertem Bauch herumzubewegen. ‚Ich kann mir
vorstellen, ihn gemocht zu haben‘ war ein sehr fadenscheiniger
Versuch seines Gehirns, etwas körperlicheres und weniger leicht zu
formulierendes zu verschleiern. Hey, Motorräder und Leder sind - so
Dinge... Gib Ruhe, ich bin halt noch nie Motorrad gefahren,
grummelte er innerlich.
Kei nahm Colins Berührungen zur Kenntnis und grinste in seinen Helm.
Er nickte Delilah zu. Als es grün wurde, fuhr sie zahm hinter ihnen
her. Kei fuhr zielgerichtet zu der Adresse der Konzerthalle,
beziehungsweise dort in die Nähe, wo die Motorräder abgestellt
werden konnten. Dort stieg Colin erst ab, als er es geschafft hatte,
sich den Helm abzunehmen, ohne die aufgesetzte Frisur zu zerstören
und ihn Kei zu reichen, damit er beim Absteigen mit freier Sicht
dafür Sorge tragen konnte, dass sein Röcklein vorn keine
verräterische Beule aufwies, für die er sich schämen musste. Tat
es auch nicht, dafür sorgte er geschickt und sogar unauffällig. Kei
nahm den zweiten Helm an sich und öffnete seine Jacke, nachdem er
vom Motorrad abgestiegen war.
Colin schnappte sich das Plektrum und besah es sich genau. „Wo hast
du das her?“ fragte er streng.
„Von dir.“
„Warum sollte ich dir das geben? Kennst du Eric Clapton überhaupt?“
„War ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk und ja.“
Überrascht sah Colin zu ihm auf.
Er musste ihn ja wirklich vergöttert haben.
„Oh. ... Wann hast du denn Geburtstag?“ Er ließ das Plektrum los
und trat einen Schritt zurück. Sicherheitsabstand. Kei war ein
bisschen warm und roch gut.
„Ende Januar.“ Kei lächelte leicht.
„Oh,“ sagte Colin. Er hatte keinen Grund, ‚Oh‘ zu sagen. Er
steckte die Hände in die Jackentaschen und sah sich um.
„Da lang,“ sagte Kei und deutete die Straße hinunter. Mit einem
Nicken drehte Colin sich schwungvoll in diese Richtung und ging los.
Nach den ersten paar Schritten hatte er es raus, dabei nicht
bescheuert zu schlurfen. Es fiel ihm zwar nicht schwer und ging
größtenteils auch unbewusst, musste aber dennoch erst einmal in
Auftrag gegeben werden. Nun würde ihn jeder ohne Zweifel für ‚Ivy‘
halten können. Jeder außer Kei, aber das mit dem Namen bekam er
hin. Er benutzte ohnehin nicht oft einen Namen, wenn er Colin/Ivy
ansprach. Er folgte dem Kleineren, der wirklich überzeugend aussah.
Delilah war nirgends zu sehen.
Am Eingang wurden Kei und Ivy vom Türsteher aufgehalten.
Ausweiskontrolle. Er blickte dem jungen Mann in die Augen und
fixierte ihn ein paar Sekunden lang. Dann winkte er sie einfach durch
und wünschte ihnen einen schönen Abend. Erst in einem Nebenflur vor
der eigentlichen Konzerthalle mussten sie das Ticket bezahlen, das
aus einem Stempel auf dem Handrücken bestand. Dort befand sich auch
die Garderobe, wo Kei die Helme abgab. Colin gab auch Delilahs Jacke
ab und sah sich dann nach den Toiletten um. Er musste überprüfen,
ob seine Haare wie Haare aussahen. Er zeigte auf das entsprechende
Schild, sodass Kei es sehen konnte, und verschwand dorthin. Kei
deutete mit einem Nicken seine Zurkenntnisnahme an und machte sich
schnell daran, etwas zu trinken zu besorgen, bevor er mit zwei Bier
wieder zum Eingang der Toilette zurückkehrte. Das ging schnell, weil
noch nicht viele Besucher hier waren. Kei stand gerade ein paar
Sekunden da, als Colin eilig seitwärts aus der Tür zur
Herrentoilette stolperte. Kei schaute ihn fragend an und fragte sich,
ob es auffällig war, wenn Colin die Herrentoilette in seinem Aufzug
benutzte, entschied allerdings, dass ihm das eigentlich egal war. Die
Blicke der anderen Leute waren aber durchaus sehenswert. Er hielt ihm
eine Bierflasche hin. Mit verwirrtem und leicht gehetztem Blick riss
Colin diese geradezu an sich, um gleich ein gutes Drittel ihres
Inhalts hinunterzustürzen. Den Schaum, der daraufhin herausquoll,
schlürfte er ab. Keuchend wischte er sich mit dem Ärmel über den
Mund.
„Das war gruselig,“ sagte er danach.
„Was war gruselig?“ Kei sah leicht amüsiert aus.
„Es funktioniert. Die zwei Typen da drin haben mich blöd
angegrinst und gezwinkert.“
„Sag Bescheid, wenn sie aufdringlich werden. Das machen die nur
einmal,“ grinste Kei und trank einen Schluck während er den Weg
zur Bühne einschlug. Colin ging neben ihm her, sobald dafür genug
Platz war.
„Soweit kommts wohl nicht. Ich bin zwar wunderschön, aber nicht
wehrlos.“
Das sorgte für einen äußerst amüsierten Ausdruck auf Keis
Gesicht. „Das ist bestimmt spaßig mit anzugucken.“
„Was, wie ich mich wehre? Oder wie ich begrapscht werde?“ Er war
gerade im Begriff gewesen, noch einen Zug aus seiner Flasche zu
nehmen, und sah Kei nun über den Flaschenhals hinweg an.
„Der Gesichtsausdruck des Typen, wenn du ihm ins Gesicht trittst.“
Colin lachte. „Danke für die Stiefel,“ sagte er grinsend mit
einem affektierten Seitwärtsnicken und angedeutetem Knicks. Kei
lachte ebenfalls und hatte sehr lustig anzuschauende Bilder im Kopf.
„Wir sind zu früh, was?“ fragte Colin, als er sich umsah und
seine Bierflasche schon halbleer war. Auf der Bühne wurde noch
herumgebaut und die Musik, die gespielt wurde, kam aus der Dose.
„Ein bisschen.“ Kei sah auf sein Telefon. „In ‘ner halben
Stunde geht‘s los.“
„Dann liege ich längst unter dem Tisch,“ sagte Colin
augenrollend und hielt seine Bierflasche hoch.
„Nach einem Bier? Das glaube ich dir nicht.“
„In einer halben Stunde habe ich noch drei hiervon weg!“
„Betrink dich während des Konzerts. Dann hast du noch was davon.“
Für Kei war es harte Arbeit sich zu betrinken. Er konnte Unmengen
harten Alkohols vernichten, ohne dass es eine Auswirkung auf ihn
hatte.
„Ich trinke, bis dein Geld alle ist,“ kündigte Colin an und
leerte daraufhin seine Flasche.
„Dafür musst du bis zum Koma saufen.“
„So reich bist du?“
„You keep this up and you can visit us in the men's room again,“
sagte ein tätowierter Hipster mit Vollbart grinsend, während er
sich an ihnen vorbei zur Theke drängelte. Es war etwas voller
geworden.
„Dafür muss ich nicht besonders reich sein,“ scherzte Kei. Den
Hipster bedachte er mit nicht ganz so tödlichem Blick wie sonst.
„Aber noch hast du, ja? Dann lass mal springen.“ Schulterzuckend
hielt Colin die Hand auf und seine leere Flasche hoch. Kei drückte
ihm Geld in die Hand, damit Colin sich ein neues Bier holen konnte.
„Bring mir eins mit.“ Er leerte seine eigene Flasche.
„Weib, hol Bier. Zu Befehl,“ sagte Colin, während er Geld und
Flasche an sich nahm und sich ebenfalls zur Theke aufmachte. Kei
lachte.
Irgendwo zwischen einem dutzend weiterer Besucher lehnte Delilahs
sonnenbebrillte schwarze Gestalt an der Wand und schaute sich
scheinbar teilnahmslos im dunklen Raum um. Anstatt sich wie die
meisten an einem Getränk festzuhalten, hatte sie die Arme
verschränkt und schien gemütlich Kaugummi zu kauen.
Als Colin bald darauf zurückkehrte, gab er Kei sein frisches Bier
und schaute sich weiter um. Stumm besah er sich die Menschen und
wartete.
Kei schlenderte dichter an die Bühne heran. Er hatte Delilah
mittlerweile ausgemacht und fand, dass sie irgendwie aussah, als
gehöre sie gar nicht auf dieses Konzert sondern warte nur auf
jemanden, der sie anscheinend versetzt hatte oder so. Colin merkte
nicht gleich, dass Kei sich wegbewegte, ging ihm aber wenig später
gemächlich nach.
Nach einigen weiteren Minuten des Wartens und Aufbauens begann das
Konzert und allmählich fanden sich fast alle Besucher vor der Bühne
ein. Die Menge verwandelte sich bald in einen Spaß habenden,
herumspringenden Haufen. Entlang der Wände und vor der Bühne
standen Bierflaschen und lagen einige Taschen und Jacken herum. Kei
war mehr oder weniger unbeabsichtigt in einen Moshpit geraten. Sein
Bier war verschwunden. Colins auch. In seinem Magen. Die leere
Flasche stand zwischen anderen vor der Bühne herum und er selbst
sprang mit - anders als Kei war er mit voller Absicht im Moshpit. Er
war sich sicher, dass seine festgezurrten Haare das aushielten, wenn
er gerade überhaupt an sie dachte. Leider wurde er zwischendurch von
hilfsbereiten Menschen aus der pöbelnden Gruppe herausgezogen, weil
man das mit kleinen Mädchen nunmal so macht. Als ihm der dicke Boden
einer Bierflasche seitlich auf die Stirn geschlagen wurde, war er
auch ganz froh darüber, dass sein Weg zur Wand nicht so weit war.
Aus dem Nichts wurde ihm von rechts ein Taschentuch angereicht, um
das Blut abzuwischen. Der Sänger und der Schlagzeuger verausgabten
sich ähnlich wie die Jungs direkt vor der Bühne. Sie lenkten Colin
ein paar Sekunden lang ab, ehe er sich umdrehte, um dem
Taschentuchspender zu danken. Delilah nickte nur ausdruckslos und
starrte dann wieder vorwärts.
Kei war mehrfach absichtlich gegen Colin gesprungen anstatt zu
versuchen ihn da rauszuziehen, was ihm von den anderen Leuten
manchmal tadelnde Blicke einbrachte. Ihm egal. Dass Colin verschwand,
bekam er nur am Rande mit. Der würde auch wieder auftauchen. Nach
einigen Minuten wurde es in der Halle etwas ruhiger, weil zur
Abwechslung mal ein ruhigeres Lied gespielt wurde. Danach ging es mit
den spaßigeren weiter. Und mit Colin. Dessen neuerliches Auftauchen
bestand darin, Kei von hinten auf den Rücken zu springen. Sozusagen
als Vergeltung für den Schubser, der ihm den schmerzhaften Kuss der
Bierflasche beschert hatte. Kei duckte sich leicht, sodass Colin
huckepack auf ihm landete. So halb zumindest. Und da blieb er auch
und faltete die Beine und einen Arm fest um Kei, während er unter
dem Gelächter der Umspringenden einen halbvollen Plastikbecher mit
Cola über ihm ausgoss. Kei beschwerte sich und sprang mit Colin auf
dem Rücken herum. lange würde der Kleinere da nicht bleiben. Dass
sein Gesicht jetzt anfing zu kleben, fand er äußerßt wenig lustig.
Bald ließ Colin ihn auch los und wurde heruntergebuckelt. Lachend
fing er sich mithilfe fremder Hände wieder und sprang weiter mit.
Von Kei bekam er einen Mittelfinger, wobei sein Gesicht verriet, dass
er nicht wirklich sauer war. Er widmete sich wieder dem
Bühnengeschehen. Kurz darauf war Colin wieder verschwunden. Bier
treibt halt.
Kei bekam das kaum mit. Das Konzert ging weiter und er verschwand im
nächsten Moshpit, noch ein paar Menschen umspringen. So nahm er auch
nicht wahr, dass Delilah bald ebenfalls durch Abwesenheit glänzte.
Erst nach einer ganzen Weile fiel ihm auf, dass Colin nicht
wiederkam. Irgendwann ging er nach dem Kleineren suchen.
Er vermutete ihn auf dem Klo. Dort herrschte reges Kommen und Gehen,
doch Colin war nicht dabei. Im Flur vor den Toiletten und der
Garderobe, sowie im Durchgang nach draußen standen gedrängt kleine
Grüppchen herum und zwischendurch kamen nach Zigarettenrauch und
kalter Luft riechende Menschen von draußen herein. Da auch Delilah
nicht zu sehen war, egal, wo er hinging, schaute Kei draußen nach.
Hast du Colin gesehen? Vielleicht war Delilah ja in
Gedankenhörweite. Kei hatte noch nicht herausgefunden, wie genau das
funktionierte.
Rauchen, kam Delilahs monotone Entgegnung.
In der Tat stand Colin mit einigen anderen Menschen neben der Tür
auf dem zertretenen Rasen und schien sich prächtig mit ihnen zu
unterhalten. Ein Mädchen mit viel schwarzem Makeup im Gesicht
zündete ihm gerade eine Zigarette an, nachdem er einen Stummel
ausgetreten hatte. Kei nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel in
seiner Jackentasche und gesellte sich zu Colin und den anderen. Mit
fröhlichen und freundlichen „Hey“s und „Hi“s wurde er
winkend begrüßt.
„Your hair looks amazing,“ sagte das schwarzgeschminkte Mädchen
grinsend und erntete gleich ein paar Lacher. „Did you wash your
face yet?“
Tatsächlich hatte Kei auf der Suche nach Colin sein Gesicht von der
Cola befreit. Da es draußen dunkel war, war das nicht besonders gut
zu sehen. „Yeah. Thanks for the refreshment by the way,“ wendete
er sich an Colin und zog an seiner Zigarette.
„You're welcome,“ sagte Colin mit freundlichem Grinsen. Das
Makeupmädchen wurde von einem der Typen mit einem Smartphone
abgelenkt und ging mit ihm ein Stück zur Seite. Nun standen sie noch
mit dem Vollbarthipster da.
Den Kei nicht mochte. Er war schnell darin, zu entscheiden, wen er
mochte und wen nicht. Dieser Kandidat war ein gutes Beispiel für
‚Mag-ich-nicht‘. Er hielt sich aber damit zurück den Hipster das
auch spüren zu lassen. Stattdessen bedachte er Colin mit einem ‚Du
mich auch‘-Blick.
„This is Will,“ sagte Colin mit einem Wink auf den Hipster, der
Kei daraufhin lächelnd zunickte. Kei erwiderte den Gruß halbwegs
freundlich. Er spielte ausnahmsweise den halbwegs anständigen
Japaner. „And that's Kenichi. We came together.“
„I'll go back in - the concert isn't over yet,“ informierte er
Colin und den Rest. Er wollte das Ende des Konzerts, das bald kommen
würde, noch mitbekommen.
„Alright,“ sagte Will nickend und Colin winkte. Kei
verabschiedete sich und verschwand wieder in der Halle.
Kurze Zeit später gesellte Colin sich wieder zu ihm. Mit einem
sachten Schlag auf den Oberarm machte er sich bei ihm bemerkbar. Kei
drehte sich zu ihm und lächelte leicht. Er hatte ein neues Bier in
der Hand. Colin erwiderte das Lächeln und sah dabei ein wenig
schüchtern aus.
Mit Bierflasche sprang es sich nicht ganz so gut, aber das war egal.
Das letzte Lied wurde gerade gespielt und um Kei und Colin herum
sprangen die Menschen herum, während sie riesige Wasserbälle oder
sowas ähnliches über ihren Köpfen durch die Halle schubsten.
Grinsend ließ Colin einen davon mit den Fingerspitzen weiterhopsen,
als Will sich zu ihnen gesellte und ihm einen durchsichtigen
Plastikbecher mit einer Cola-Alkoholmischung in die Hand drückte.
Kei war der Hipster zwar suspekt, aber er ließ ihn in Ruhe. Nicht
alle Menschen waren ausnahmslos schlecht.
Vielleicht doch.
Kei war sich dessen nicht ganz sicher.
Er schlug einen der Ballons so weit durch die Halle, dass er nach
hinten flog, sodass die anderen Konzertbesucher auch was von dem Spaß
haben konnten.
Als Colin vor einem der Garagentore vom Sitz gerutscht war und sich
den Helm abgenommen hatte, sagte er lächelnd, aber ernst: „Danke.
Das war richtig gut.“
„Gerne wieder,“ sagte Kei beim Öffnen des Garagentors und schob
das Motorrad hinein. Delilahs Motorrad stand bereits dort und
strahlte seine Wärme ab. Colin legte seinen Helm dort ab, wo noch
andere herumlagen. Er zog den Zettel mit Wills Telefonnummer aus der
Jackentasche und zog sich die Jacke aus, um sie auf den Ständer zu
hängen, von dem Delilah sie für ihn genommen hatte. Kei, der seine
eigene Jacke trug, behielt diese an. „Ich muss nochmal weg. Bin in
einer Stunde wieder da.“
„Warum, was machst du?“ fragte Colin.
„Abendessen.“
„... Oh.“ Es dauerte ein paar Sekunden, aber schließlich fiel
bei Colin der Groschen. Kei musste ja Blut trinken. Er nickte und
ging zum Durchgang, der in den Küchen- und Lagerbereich führte. In
der Küche, die die Köchin längst verlassen hatte, suchte Colin
sich sein eigenes Abendessen zusammen. Er hatte vorgehabt, sich ein
abenteuerliches Sandwich zu basteln, fand stattdessen aber die Reste
eines vorzüglichen Mahls, das zum Teil aus Gänsebraten bestanden
hatte. Damit schlug er sich den Bauch voll und besiegte seinen
alkohol- und bewegungsbedingten Heißhunger, bevor er sich in sein
Zimmer begab.
Kei ging indes die Einfahrt wieder hinunter. Dass er sein Abendessen
leben lassen musste, störte ihn ein wenig. Er mochte es, die
Menschen allmählich sterben zu lassen. Das musste Colin nicht
wissen. Dennis auch nicht unbedingt.
Ein paar Kilometer weiter fand er komplett zugedröhnte Jugendliche.
Mit leicht glasigen Augen machte er sich auf den Weg zurück ins
Schloss. Alle drei seiner Menügänge lebten noch, mussten aber den
Blutmangel erstmal ausschlafen.
Während der junge Vampir ins Schloss zurückkehrte, war Colin gerade
mit Duschen und Zähneputzen fertig und saß in Boxershorts, T-shirt
und Sweatshirtjacke auf dem Bett herum, um Ivys Kleider, die vor ihm
auf dem Boden ausgebreitet lagen, nachdenklich anzustarren. Musste er
jetzt für die Öffentlichkeit bis in alle Ewigkeit Ivy Branson
spielen? Als Jux war das ja ganz lustig, aber was war mit dem
Geigespielen? Das war es, was er konnte und er hatte immer erwartet,
dass er das für den Rest seines Lebens machen würde, also auch für
Geld, als Job. Ging das noch? Als Ivy Branson. Was für ein
Schwachsinn.
Freunde gewinnen schien trotzdem kein Problem zu sein.
Will war nett.
Aber Will mochte nicht Colin Hammerer, sondern Ivy Branson.
Vielleicht als Kumpel, vielleicht nicht.
Colin rieb sich über das Gesicht. Er war kein Idiot. Wills Frage
danach, ob Kei sein ‚Boyfriend‘ sei, hatte ja wohl einen
bestimmten Grund gehabt, auch wenn Will nichts eindeutiges versucht
hatte.
Er grunzte genervt. Fuck my life.
Kei hatte drogeninduzierte gute Laune und warf beim Eintreten seine
Kleidungsstücke hörbar durch den Raum. Irgendwann in Japan hatte er
herausgefunden, wie er high werden konnte. Jeder normale
Drogenkonsumversuch blieb weitgehend ergebnislos und Alkohol zeigte
nur bei Extremkonsum auf normale Weise Wirkung. Das war leicht
nervig, aber nicht schlimm.
Er nahm im Bad die Kontaktlinsen heraus und steckte den Kopf Colins
Zimmer. „Bin wieder da.“
Der Vampir trug nur noch Boxershorts.
„Wow, du hast ja gute Laune,“ gab Colin überrascht zurück. Er
konnte nicht umhin, Kei ausgiebig zu mustern.
Keis Blick verriet, dass er künstlich aufgedreht war. „Die hatten
irgendwas eingeworfen. Extasy, Gras und Alkohol hab ich bei denen
gefunden,“ grinste er und verschwand wieder hinter der Tür. „Ich
geh‘ duschen!“
Dass er den Rest der Drogen an sich genommen hatte, behielt er erst
einmal für sich.
„Welcher Idiot benutzt gleichzeitig Extasy und Gras?“ rief Colin
ihm nach. Er wusste zwar nicht viel über Drogen, aber dass das eine
ein Aufputsch- und das andere mehr ein Beruhigungsmittel war, war ihm
halb bekannt.
„Der eine Gras. Der andere Extasy. Alle drei betrunken.“ Und
alles mischte sich jetzt in Keis Blutkreislauf zusammen.
Weiter auf die Tür starrend, die Kei einen Spalt breit offengelassen
hatte, versuchte Colin, sich bewusst zu machen, dass Kei gerade
offenbar mehrere Menschen, die entweder high oder betrunken - oder
beides - gewesen waren, überfallen und Blut von ihnen getrunken
hatte.
Er wartete, bis das Wasser zu rauschen begann und rutschte dann
lautlos vom Bett, um auf den Flur zu schleichen. Von dort betrat er
langsam und vorsichtig, so leise er konnte, Keis Zimmer.
Er sah sich um. Hier lagen verstreut Kleidungsstücke herum. Auf dem
Bett lag seine Jacke.
Der Vampir hörte, wie Colin in sein Zimmer ging. Er hatte nämlich
auch seine Badezimmertür nicht ganz geschlossen und hörte Schritte.
„Suchst du was?“
Colin erstarrte und sah ertappt zur offenen Tür. Kei stand dort
nicht und hatte eindeutig aus der Dusche heraus gerufen, aber wie zur
Hölle hatte er ihn gehört?
„In der linken Jackentasche sind zwei Tütchen Gras. Diese Idioten.
Du kannst eins haben, wenn du das gesucht hast,“ verkündete der
Vampir und widmete sich weiter der Dusche.
Er hatte nicht direkt danach gesucht, doch sein Blick wanderte
trotzdem aus Reflex zur Jacke auf dem Bett. Er war nur neugierig
gewesen. Nun kratzte er nur verlegen seinen nackten linken Fußrücken
an seinem Bein, ehe er betreten und still zur Tür und auf den Flur
zurückging. Erst als er sein eigenes Zimmer wieder betrat, gab er
sich keine Mühe mehr zu schleichen. Obwohl er sich noch schämte. Er
begann damit, seine Kleider und die Perücke irgendwie
zusammenzupacken und im Kleiderschrank zu verstauen.
Kei musste leise lachen.
Als Colin mit Aufräumen fertig war, nachdem er zuletzt Wills
Telefonnummer in seiner Nachttischschublade verstaut hatte, war er
eigentlich mehr als bettfertig, aber brachte es vor Verlegenheit
trotzdem nicht fertig, seine Nachttischlampe auszumachen und unter
die Decke zu kriechen. Also setzte er sich bloß an das dicke
geschnitzte Holzbrett am Kopfende des Bettes gelehnt hin und
versuchte, ‚A Tale of Two Cities‘ weiterzulesen.
Kei war nach dem Duschen in sein Zimmer gegangen und hatte seine
Kleidungsstücke auf einen Haufen geworfen um sein Bett frei zu
haben. Er setzte sich hin und nahm seine Gitarre, um Colin mit
zweideutigen Liedern zu beschallen. In erträglicher Lautstärke, um
keinen Anschiss von Dennis oder Rupert zu kriegen.
Regeln. Gewöhnungsbedürftig, wenn man das ganze Leben lang keine
gehabt hatte.
Die Geräusche aus dem Nachbarzimmer taten nichts, das Colin nicht
bereits selbst bravourös fertigbrachte - sich unfreiwillig vom Text
ablenken. Er hatte nun jeden Satz mindestens viermal gelesen und
immer noch nicht wahrgenommen, was drinstand. Keis Stimme und die
Gitarrenklänge vermischten sich mit dem Bild vom aufgekratzten Kei
mit leuchtend blauen Augen, der gerade fast nackt in seiner Tür
gestanden hatte, um ihm salopp von den Drogen zu erzählen, die er
Leuten abgenommen hatte, die er gerade für ihr Blut überfallen
hatte...
Ah shit.
Colin seufzte.
Wahrscheinlich wäre es am besten gewesen, die Badezimmertür zu
schließen.
Aber dann würde er die Musik dämpfen, die...
Er warf das Buch neben sich und rutschte etwas hinunter, um sich um
eine nun ziemlich dringende Sache zu kümmern, die in seinen
Boxershorts stattfand.
So leise wie möglich.
Das bekam Kei tatsächlich nicht mit, weil er gerade beschäftigt
war. Irgendwann fing er an, ‚Devil Side‘ von VAMPS zu spielen.
Embrace my instincts, right, dachte Colin mit einem leisen
Schmunzeln, während er aufmerksam auf den Liedtext horchte. That's
exactly what I'm doing right now.
Mittlerweile lag er fast vollständig auf dem Rücken, während er
sich anfasste. Kei konnte verdammt gut singen. Seine Stimme machte
irgendetwas mit ihm, das seine Hand nicht konnte.
Sich ausmalend, was Colin gerade anstellen mochte, grinste Kei und
machte weiter damit, dem Kleineren schöne Gedanken zu bereiten. Er
malte sich ein paar Szenen aus und erinnerte sich an andere.
Und alles, woran Colin sich erinnerte, waren die beiden
Motorradfahrten, dicht an Kei gedrückt, Kei wie er ‚Eine Mischung
aus Liebe, Sex und Chaos‘ sagte, die bloße Idee, dass er
schon zigmal mit ihm geschlafen hatte und Kei ihn offenbar viel
besser kannte, als er sich vorstellen konnte, Keis Stimme jetzt
und wie er gerade in der Tür ausgesehen hatte... und das war mehr
als genug.
Er stöhnte und seufzte nicht laut, sondern atmete nur schwer und
raschelte zwangsläufig mit dem Bettzeug, seinen Kleidern und seiner
Haut, aber er war sich sehr, sehr sicher, dass Kei nichts davon über
seinen Gesang und sein Saitenzupfen hören konnte. Unmöglich.
Kei hörte Geräusche aus Colins Zimmer, da er ja nicht gerade Lärm
machte, konnte aber nicht genau feststellen, was Colin da
veranstaltete. Das war aber egal, denn er konnte es sich denken und
er war sich mehr als sicher, dass seine Vorstellung der Realität
entsprach. Das leise Rascheln dauerte noch ein paar Minuten an und
verstummte dann. Er mochte es, Recht zu haben.
Matt und immer noch unruhig atmend lag Colin da und hob langsam seine
beschmierte Hand, um sich ohne besonderen Grund, mit dem er sich
hätte rechtfertigen können, die glänzende Flüssigkeit auf seinen
Fingern anzusehen.
Jetzt musste er sich waschen gehen, dachte er dumpf. Aber er konnte
damit jetzt nicht ins Badezimmer. Keis Tür war noch offen.
Die Musik spielte auch noch und das Grinsen auf Keis Gesicht war
immer noch da. Er verfluchte Colins Gedächtnisverlust in diesen
Minuten mehr denn je.
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