| Clannad - Na Laethe Bhi |
Wenige Minuten später war das Herz komplett verspeist und Akira streichelte eine Wange der Leiche. Beim Aufstehen fiel ihm die Plastiktüte mit dem trockenen grünen Pflanzenmaterial auf, die der Mann beim Sterben schon in der Hand gehalten und dann fallengelassen hatte. Er hob sie auf und fand in der anderen Innentasche noch große, feine Blättchen und ein generisches Feuerzeug. Das steckte er alles in seine Bauchtasche.
„Gras wird geteilt,“ sagte Kei
schmunzelnd. Er zog die Leiche ein Stück weiter hinter das Haus,
sodass man sie nicht gleich sah, wenn man die Gasse betrat. Danach
ging er zu Akira und küsste ihn. Blutig und eifrig erwiderte er den
Kuss. Der Standardbefehl Fleisch
in seinem Gehirn verschwand noch nicht, sondern formte sich nur
sachte um, in Fleisch
mit etwas anderem Unterton. Trotzdem schaffte er es, seine blutigen
Hände von seinem Freund zu lassen. Es reichte, wenn er ihm das
Gesicht einsaute. Grinsend leckte Kei dem Kleineren das Blut von den
Lippen. Es störte ihn nicht, Blut im Gesicht zu haben.
Allerdings störte es Akira
allmählich, Kei im Gesicht zu haben. Seine Zunge funktionierte etwas
zu gut und hatte seinen Puls wieder gestartet, der nun zu rasen
begann und sein eigenes Blut an eine Stelle pumpte, die er gleich zum
Motorradfahren brauchen würde. Nach einer Weile kam Kei von selbst
darauf, dass sie besser schnell abhauen sollten und ließ von seinem
Freund ab. Mit einem etwas enttäuschten Geräusch wankte der etwas
rückwärts.
„Wir müssen los. Bevor hier einer langkommt,“ meinte Kei und
ging zurück zu den Motorrädern. Sie konnten der Straße folgen,
weiter nach Süden. Das zumindest hielt Kei für eine gute Idee. Er
wollte weg aus Lima. Die Stadt und ihre Bewohner gefielen ihm nicht
und seit dem Vortag noch weniger.
„Ja,“ hauchte Akira abwesend und
ging auf die Straße, ohne sich nach Passanten umzusehen. Seine Hände
und sein Gesicht versuchte er nicht zu verstecken, daher war es
reines Glück, dass nun zufällig niemand nah genug kam und in seine
Richtung blickte. Er tastete nur kurz auf seinen Rücken, um
sicherzugehen, dass der Rucksack noch da und der Geigenkasten noch
daraufgeschnallt war, ehe er auf Gnome
stieg, den Ständer wegtrat und den Motor startete. Kei folgte seinem
Beispiel, nachdem er sich die Sonnenbrille aufgesetzt und seine
Kapuze ins Gesicht gezogen hatte. Unter der Lederjacke sah es aus,
als hätte sein Körper etwas mehr Masse, als es in Wirklichkeit der
Fall war. Er fuhr los, die Straße runter, tiefer in die Stadt. Der
schnellste Weg aus ihr hinaus führte mitten hindurch. Der Vampir
fühlte sich ein wenig wie ein Tourist.
Während der langsamen Anfahrt setzte sich Akira wieder die Kapuze
auf, aber die Sonnenbrille hätte seine Sicht zu stark geschwächt,
um nachts zu fahren, also ließ er sie weiter vom Kragen baumeln.
Wo die Straße leer und breit genug war, fuhren sie nebeneinander
oder versetzt hintereinander. Akira fragte sich, wie weit außerhalb
der Stadt diese Straße beleuchtet sein würde. Vielleicht war sie
wirklich gut, wenn sie die breite Schnellstraße nahmen, die die
Sattelschlepper benutzten. Kei entschied sich ohne jegliche Absprache
dafür. Das brachte sie aus der Stadt und aus der Sicht von Anwohnern
und Polizisten. Die vermutete Kei irgendwo anders und nicht auf einer
Schnellstraße.
Womit er zwar gehörig falsch
lag, wie sich nach fast zwei Stunden herausstellte, als sie einen
stehenden Streifenwagen passierten, der mit Blaulicht hinter einem
entweder gestrandeten oder aufgehaltenen Lastwagen stand, was aber
nichts auszumachen schien. Die Polizisten sahen auf, als Kei und
Akira sich näherten, doch dass beide mit Licht fuhren, schien ihnen
zu genügen, denn einer von ihnen winkte nur locker. Aus Reflex
wollte Akira den Gruß erwidern, doch als seine Hand hochzuzucken
begann, wurde er plötzlich der getrockneten Blutschicht auf seiner
Haut gewahr, die nun leicht spannte. Kei ignorierte die Polizisten,
sobald er sah, dass sie ihn und Akira einfach passieren ließen.
Die Laternen wurden spärlicher,
aber die Reflektoren an den Leitplanken und die reflektierende
Bemalung der Straße reichten aus. Noch waren sie nicht in der Öde,
denn diese Straße war vielgenutzt und umgeben von Siedlungen und
Landwirtschaft. Außerdem näherten sie sich nun der nächsten Stadt,
die entsprechend ihrer Haupteinnahmequelle den passenden Namen Pisco
trug. Ihre Lichter wurden immer zahlreicher. Auf der linken Seite
rauschten dafür ständig Plantagen an ihnen vorbei.
„Kei!“ Akira holte auf und setzte sich neben ihn. „Ich weiß,
wo wir gleich Pause machen!“
Kei schaute aus dem Augenwinkel zu Akira. „Wo?“
„In den Zitronen!“ Akira zeigte nach links, wo die Zäune und
Mauern, die die Felder und Plantagen hinter einem breiten Staub- und
Schotterstreifen von der Straße abschirmen sollten, alles andere als
fortlaufend waren, sondern viele Lücken aufwiesen und zum größten
Teil relativ niedrig waren. Die Obstbäume dahinter konnte man auch
mit normaler menschlicher Sicht im Dunkeln sehr gut erkennen. Kei sah
in die Felder. Finden würde man sie da jedenfalls nicht.
„Willst du jetzt schon Pause machen?“
„Eigentlich nicht! Aber ich hoffe, es geht noch eine Weile so
weiter. Ich wollte schon immer unter einem Obstbaum schlafen!“
„Ich denke, davon gibt es hier
viele.“ Südamerika. Natürlich gab es hier viele Obstbäume. In
der Ferne waren leise Schüsse zu hören. Akira schien sie auch
gehört zu haben, denn er begann, sich genauer umzusehen und
drosselte seine Geschwindigkeit, damit Gnome
ein wenig leiser wurde.
„Die Schüsse sind weit weg,“ sagte Kei und wurde ebenfalls
langsamer. Er sah sich um. Nichts zu sehen, außer Autos und
Obstplantagen.
Weitere zwei Stunden, zwei
Tankstopps und zwei- bis dreihundert Kilometer später näherten sie
sich San Juan. Akiras kleines Motorrad war mittlerweile unangenehm
warm geworden und hatte den hinten an den Sitz geschnallten
Reservekanister zweimal leergefressen.
„Wenn wir noch viel weiter fahren, gibt es gleich gekochte Eier,“
meldete er.
„Lass uns da reinfahren.“ Kei deutete mit einem Arm in Richtung
Straßenrand. Dort war nicht viel zu sehen. Eine kleinere Straße,
die von der Schnellstraße wegführte und einige Felder. San Juan lag
noch etwa zehn Kilometer vor ihnen. Bald würde die Sonne wieder
aufgehen und ein neuer Tag anbrechen. Kei fragte sich, wie lange es
dauerte, bis er und Akira von ihren Morden in Lima hören würden und
ob sie diese Nachrichten überhaupt erreichen würden. Akira bog
hinter ihm auf die Landstraße ein und wurde langsamer. Hier gab es
keine Straßenbeleuchtung oder gut sichtbare Begrenz-ungen und die
Straße war uneben und zum Teil unbefestigt. Hier begegneten sie
keinen weiteren Fahrzeugen. Kei fuhr langsam noch ein gutes Stück
weiter. Er war auch in Japan gelegentlich auf unbeleuchteten Straßen
unterwegs gewesen, obwohl die dort rar gesäht waren. Am Rande einer
kleineren Obstplantage machte er Halt.
Die plötzliche Stille nach dem Abstellen der Motoren erschreckte
Akira fast. Bis er die Vögel hörte. Das Dämmerlicht weckte sie nun
alle auf und brachte sie zum Singen, Quaken und Kreischen. Dennoch
war es hier ziemlich friedlich. Diese Ansammlung an Mandarinenbäumen
war mehr ein Hain als eine Plantage, und umsäumt von struppigem
Gebüsch und Pflanzen, die für den botanisch ungebildeten Akira wie
verschiedene Ausführungen von Gummibäumen aussahen. Kei sah sich
einfach nur kurz um und schob sein Motorrad so hinter ein paar
Büsche, dass man es nicht sah, wenn man die Straße herunterkam. Mit
seinem Rucksack setzte er sich unter einen der Bäume unweit der
Motorräder.
Akira zögerte. Bevor er sich Kei
näherte, wollte er sich das Bild vor ihm einprägen. Auf der anderen
Seite dieses Gartens glänzte eine weite Wasseroberfläche, sowas wie
ein Baggersee oder ein Reservoir. Um sie herum war es noch dunkel,
aber es stieg bereits leichter Dunst auf, der die Pflanzen tot und
still und die ganze Szenerie geisterhaft erscheinen ließ. Die
Geräusche der Vögel, die man nicht sehen konnte, machten davon
nichts realistischer. Eher gespenstischer. Und der Vampir passte in
diese Welt wie die Schokosplitter aufs Sahnetörtchen. Oder mit
anderen Worten, er war hier ein schöner und äußerst appetitlicher
Anblick. Kei lehnte sich an den Baum und nahm seine Sonnernbrille ab,
hängte sie in den Kragen seines Tanktops und streckte die Beine aus.
Er betrachtete Akira, der noch dort stand. Es sah so unwirklich aus.
Das Land war so friedlich.
Für ihn war das nichts, schon
gar nicht für länger.
Akira hielt Keis Blick genau so lange stand, wie er brauchte, um
verlegen zu werden. Er kam etwas näher, kniete sich dann hin und
fuhr mit den Händen durch das feuchte Gras, um sich dann mit den
Händen über das Gesicht zu wischen. Dass er das Blut des Peruaners
die ganze Nacht lang an sich hatte kleben lassen, wurde ihm nun
langsam peinlich. Der kalte Tau funktionierte allerdings gut als
Reinigungsmittel, zumindest für seine Haut, und als er die letzten
braunen Flecken von seinen Händen an das Gras abgegeben hatte, ging
er zu Kei und stellte seinen Rucksack neben den anderen. Gemächlich
legte er sich vor Kei auf den Rücken und sah mit hinter dem Kopf
verschränkten Armen in den grauen Himmel.
Der Vampir folgte seinem Blick – nur um festzustellen, dass es
aussah, als würde es bald zu regnen beginnen.
Oh super. Regen.
Kei mochte Regen, aber er fuhr nicht allzu gern mit klatschnassen
Kleidern durch die Gegend. Für den Moment aber war das egal. Langsam
machte sich Hunger in ihm breit. Er lehnte den Kopf an den Baumstamm.
Akira schloss lächelnd die Augen und bewegte sich nicht mehr. Kei
beschäftigte sich irgendwann damit, dem Kleineren zuzusehen. Er
konnte nicht schlafen.
Über eine halbe Stunde lang lag
Akira tot und friedlich da, ohne sich zu regen. Als die Sonne hinter
der nun sachte nieselnden, dichten Wolkendecke bestimmt längst
aufgegangen und fast eine Stunde vergangen war, bewegte Akira sich
zum ersten Mal. Einer der langsamen, dünnen Regentropfen, die er
bisher ignoriert hatte, landete auf einem seiner Augenlider, das
daraufhin zuckte. Seine Arme zuckten auch. Und seine Füße. Langsam,
aber irgendwie ruckartig, so als ob er seine Gliedmaßen nicht ganz
beherrschte, drehte er sich auf die Seite, mit dem Rücken zu Kei,
und stellte sich auf alle Viere.
Der Vampir beobachtete ihn bloß.
Der Regen, oder besser das, was mal ein Regen werden wollte,
tröpfelte ihm auf die Kapuze während er weiterhin die Augen auf
seinen Freund geheftet hatte und ihm dabei zusah, wie er wieder zu
sich kam. Seine Inneres schrie nach Blut.
„Ich geh mich hier mal umsehen,“ sagte er und stand langsam auf.
„Hm,“ sagte Akira dumpf und
knapp.
Scheiße, was ist das?! Ich
kann mich – nicht – Ohne
es zu wollen, setzte er sich auf die Fersen, sodass er kniete, und
sein Gesicht wandte sich von selbst Kei zu und nickte mechanisch.
Während Kei sich wunderte, was
mit Akira nicht stimmte, ging er los, zwischen den Obstbäumen
hindurch.
Der blauäugige Japaner hatte
bald ein Wohnhaus gefunden... und die zur Plantage gehörenden
Saisonarbeiter. Einen der jungen Männer winkte er mit seinem
wunderbaren Englisch hinter eine Ecke. Er gab vor, ihn etwas fragen
zu wollen, weil er sich verirrt habe.
Der Mann kam nicht mehr dazu, ihm
den Weg zu erklären oder zu schreien – oder zu sonst irgendetwas.
Unter den Bäumen hinter dem
Gesträuch befand Akira sich wieder auf Händen und Knien. Nur gut
hundert Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt. Nun trennten ihn
noch weitere hundert Meter von dem Gewässer, das ihm bei ihrer
Ankunft aufgefallen war. Er wollte nicht dorthin, aber... sein Körper
schien das zu wollen. Er konnte nicht einmal sagen, was er wollte,
oder überhaupt etwas sagen das er seinen Stimmbändern in Auftrag
gab. Seine Augen starrten von selbst nach vorn auf den See, der
zwischen den niedrigen Heckenzweigen glitzernd zum Vorschein kam. Er
kroch langsam und roboterhaft und – nein, nicht er, sein
Körper. Vielleicht
war es seinem Willen zu verdanken, dass er wenigstens so langsam war
und so zitterte. Seine Augen brannten.
Ich träume doch. Ich bin im
Gras eingeschlafen und noch nicht aufgewacht. Da hinten liege ich
noch irgendwo rum... Auf
einmal hielt er an. Ja!
Und stand auf. Nein...
Staksig ging er nun zu
Fuß weiter. I'm a
bleedin' zombie! Ihm
war nach Heulen zumute, aber selbst das passierte nicht.
Kei bekam von alledem nichts mit. Er erleichterte den Mann um jeden
Tropfen Blut, der aus seinem Körper zu kriegen war. Dann ging er
zurück. An den anderen Arbeitern vorbei. Die fragten scherzhaft, ob
Kei ihren Kollegen aufgefressen habe.
„Yeah!“ erwiderte Kei darauf mit vielsagendem leichtem Grinsen
und schlenderte dahin zurück, wo er hergekommen war.
Er sah sich um, zündete sich eine Zigarette an. Irgendwann fiel sein
Blick in Richtung des Gewässers, das er beim Ankommen kurz gesehen
hatte und sah Akira dort im Gras stehen... gehen.
Über
seinem mittlerweile furchterfüllten innerlichen Fluchen nahm Akira
nicht einmal mehr die lauten Vögel wahr, oder das Rauschen von der
Schnellstraße. Er starrte nur auf die sich stetig, wenn auch
ruckelnd, nähernde Wasseroberfläche.
STAND
STILL, YOU STUPID FUCK, STOP!
Tatsächlich bewegte er sich ziemlich zombieartig langsam weiter.
Ohne die Arme mitzubewegen, setzte er ruckartig einen Fuß vor den
anderen, was einigermaßen angestrengt aussah.
Kei schaute dem zu. Nicht allzu lange allerdings, dann ging er zu
Akira hinüber.
„Warum läufst du so merkwürdig?“ fragte er mit den Händen in
den Hosentaschen. Er hörte einen Aufruhr auf der Plantage...
Anscheinend suchten die anderen Arbeiter den Kollegen, den Kei kurz
entführt hatte.
„...“
Akira antwortete nicht. Er starrte nur mit aufgerissenen Augen weiter
zum Wasser. Am Rande seines Sichtfeldes konnte er Kei erkennen, und
er hörte ihn, und er wollte ihm antworten, mit ganzer Kraft...
machte
er noch einen Schritt vorwärts.
Scheiße!
Dieser Schritt war geschmeidiger und schneller gewesen. Sofort
kämpfte Akira wieder um die Kontrolle über seine Beine. Seinem
versteinerten Gesicht war nichts von seiner Panik anzusehen. Nur
etwas Wasser lief aus seinen geröteten Augen, die er nicht bewegen
konnte. Es half nicht. Was auch immer ihn bewegte, war darin besser
geworden und steuerte ihn nun sicherer und schneller auf den See zu.
Keine fünfzig Meter mehr. Kei stellte sich in den Weg.
„Ich bin nicht geduldig genug um zu raten, was mit dir los ist.“
Vor
Erleichterung über Kei als Hindernis ließ Akira locker und das war
ein Fehler. Sein Körper drehte sich und machte eine Kurve um den
Vampir. Halt
mich einfach auf! Gib mir eine Ohrfeige, damit ich aufwache!
Kei knallte ihm tatsächlich eine. Allerdings mehr aus dem Grund,
dass er davon ausging, ignoriert zu werden. Seine Faust krachte
direkt in Akiras Magen.
„Hngk!“ Akira krümmte sich und fiel auf die Knie. Als er die
Arme vor dem Bauch verschränkt hatte, musste er nervös lachen.
„... Danke... ngh... danke!“ Er schien wieder Herr über seine
Motorik zu sein. „Danke...“ Erleichtert fuhr er sich mit den
Händen über das Gesicht, das sich wieder wie seines anfühlte, und
sein Blick schnappte hinauf zu Kei. Der sah ihn leicht verwirrt an.
„Seit wann bedankst du dich für Schläge?“ Sollte so viel heißen
wie ‚Was ist mit dir los?‘
„Ich
weiß nicht – danke,“ sprudelte Akira und umarmte Keis Beine. Oh,
süße Freiheit.
Plötzlich sah er auf. Moment.
„Du
hast mich doch geschlagen, um mich aufzuhalten, oder?“ fragte er
stirnrunzelnd. Kei schaute ihn an.
„Du hast mich ignoriert – aufhalten von was?“ Kei wusste nicht,
was gerade mit Akira los war. Der kniete weiterhin vor ihm und hielt
immer noch seine Oberschenkel fest, legte aber den Kopf zurück und
schaute entrüstet.
„Du
hast mich geschlagen, weil ich dich ignoriert
habe?
Ist das dein Ernst?“ Mein
eigener Körper wollte mich im Wasser verschwinden lassen –
oder so vermutete er – und
du versuchst nicht, mich zu retten, sondern schlägst mich zusammen,
weil du keine Aufmerksamkeit bekommst?!
„Du läuft wie ein Filmzombie durch die Gegend und antwortest nicht
oder machst irgendetwas sondern krüppelst nur auf das Wasser zu...
Was hätte ich sonst machen sollen? Freundlich winken?“ Kei
verstand nicht, wo das Problem war. Akira ließ ihn los und sein
Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich zu einem etwas weniger
brüskierten.
„Ich konnte nicht anders. Ich
wollte nicht gehen. Aber... Seit ich aufgewacht bin, konnte ich nur
sehen und hören und... fühlen... und nichts tun. Ich hatte gehofft,
das wäre ein Alptraum.“ Und
auch, dass du mich aus edleren Motiven, wie zum Beispiel Besorgnis,
geschlagen hättest.
„Es war erstaunlich real,“ kommentierte Kei und hockte sich vor
ihn. „Wir sollten nicht lange hier bleiben. Die Typen von der
Plantage vermissen einen Kollegen.“
„Natürlich.“
Ungeachtet der Tatsache, dass Kei sich gerade erst zu ihm auf den
Boden begeben hatte, und ohne ihn anzusehen, stand Akira auf. Seine
Wange ziepte etwas und seine Magengegend fühlte sich verformt an,
als hätte Kei eine Delle hineingeboxt. Der Schmerz und jeglicher
möglicher Schaden würden in ein paar Sekunden verschwunden sein,
aber dass er ihn überhaupt hatte, hatte er Keis Eitelkeit zu
verdanken. Denselben Weg, gegen den er gerade eine gefühlte Ewigkeit
lang angekämpft hatte, stiefelte er nun geschmeidig in die
entgegengesetzte Richtung zu ihren Rucksäcken zurück. Der Vampir
folgte ihm und schulterte seine Tasche, kaum dass er dort angekommen
war.
„In die Stadt oder weiter nach Süden?“
„Zuerst brauchen wir eine Tankstelle. Und dann sollten wir so weit
fahren, wie es geht. Ich will nicht in Peru bleiben.“ Akira zog
seinen Rucksack an und setzte sich die Sonnenbrille auf. Man konnte
die Sonne zwar nicht direkt sehen, aber das Licht, das diffus durch
die Wolken schien, die nun noch zaghafter troffen als bisher, war
hell genug, um zu blenden. Kei stieg auf sein Motorrad.
„In der Stadt werden wir eine finden. Dann fahren wir die
Schnell-straße weiter. Irgendwann kommen wir aus Peru raus.“ Von
der Plantage aus waren mittlerweile aufgebrachte Rufe zu hören.
„Hast du noch Geld für Benzin übrig?“ rief Akira, während er
losfuhr.
„Ja,“ gab Kei zurück und fuhr ihm hinterher, zurück auf die
Schnellstraße und in die Stadt. Er war froh, die Plantage hinter
sich lassen zu können.
Als ihre Tanks und der Reservekanister wieder voll und Keis Kasse um
einen Batzen Nuevo Sol erleichtert waren, hatte Akira noch kein Wort
mehr gesprochen. Während der Tankpause hatte er nur kurz die
Straßenkarte, die er aus dem Mietzimmer hatte mitgehen lassen,
konsultiert. Kei hatte nicht das Bedürfnis, ein Gespräch
anzufangen. Er wollte nur wissen, warum Akira wie ein Zombie gewirkt
hatte. Da er aber bezweifelte, dass sein Freund das wusste, sprach er
es nicht an. Nach der Tankpause ging es weiter die Schnellstraße
entlang.
Als sie sich Stunden später einer großen Abzweigung nach Osten, in
Richtung Arequipa, näherten, zeigte Akira auf ein Hinweisschild auf
die Stadt mit Kilometerangabe. Danach wurde er langsamer und hielt
auf dem Standstreifen an. Kei stoppte neben Akira und sah ihn an –
fragend. Der kramte die Karte heraus und breitete sie zwischen ihnen
auf den Lenkern aus.
„Die Panamericana zweigt hier nochmal ab, wie bei San Juan. Wenn
wir durch Arequipa fahren, kommen wir, wenn wir bei Puno am See hier
weiter nach Osten statt nach Norden fahren, direkt nach Bolivien.
Wenn wir hier weiter nach Süden fahren, kommen wir nach Chile. Das
können wir noch vor Morgen schaffen, wenn wir irgendwie über die
Grenze kommen. Ich weiß nicht, wofür unsere Visa gelten. Aber jetzt
können wir uns zwischen Meer und Dschungel mit Steppe entscheiden.“
Kei dachte kurz nach, wo er lieber hinwollte. „Ans Meer,“ sagte
er. Zwar wusste er nicht, wo ihn das hinführen würde, aber raus aus
Peru und ans Meer waren sicher zwei sehr gute Ideen. Er sah kurz in
seinen Ausweis. „Wir haben nur'n Visum für Peru, aber wir kommen
auch so über die Grenze.“
„Willst du uns ein Paar Schlepper suchen, oder was?“ Akira war
skeptisch. Er wollte sich die Art der Grenzbefestigung erst einmal
ansehen, bevor er irgendeine Entscheidung traf.
„Nein. So kommen wir nie dahin, wo wir hinwollen. Das klappt auch
so.“ Zwar war der Vampir sich dessen nicht sicher, aber über die
Grenze kamen sie sicher... wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeiten.
„Wie denn?“ Akira packte die Karte wieder ein und startete den
Motor.
„Weiß ich noch nicht.“ Kei fuhr los.
Etwa vier Stunden später kamen Kei und Akira an der Grenze an, an
der es ein großes Polizeiaufgebot und viele Kontrollen gab. Dort gab
es Herbergen und Motels, Wachtürme und massenhaft Fahrzeuge, in der
Hauptsache Laster der größeren Kragenweite aber sonst jeglicher
Art, und alle warteten nur. Es war Das Große Warten, das sich auf
Parkplätzen und in langen Schlangen vor dem Grenzübergang völlig
ereignislos ereignete.
In eine kleine Nische zwischen all der Warterei, die wohl als
Rastplatz gedacht war, steuerte Akira zuerst. Kei fuhr ihm nach und
blieb irgendwann stehen.
„Das kann dauern.“ Kei wollte nicht warten. Denn das hier sah aus
als würden sie hier morgen noch stehen. Er stieg von seinem
Motorrad. „Ich rede mal mit dem Wachmann da hinten.“ Der Vampir
zeigte auf einen der Grenzdurchgänge an dem keine Wagen, sondern nur
ein paar Fußgänger und einige zum Teil schwer bewaffnete Polizisten
standen. Es war eine heftige Auseinandersetzung im Gang.
„Soll ich gleich mitkommen?“ Akira wusste nicht, was Kei unter
‚ich rede mal‘ verstand.
„Nein, warte hier. Ich vertraue den Leuten hier nicht.“ Kei ging
zu den Polizisten hinüber.
„Hey you!“ rief er ihnen zu und unterbrach ihre Diskussion mit
den Leuten, die dort herumstanden. Einer drehte sich um. Kei nahm
seine Sonnenbrille ab und ging zu ihm. „My friend and I want to
cross this border,“ teilte er den Polizisten in seinem wunderbaren
Japanerenglisch mit und deutete in Richtung Akira, während er den
jungen Mann einfach nur ansah, der ihm sagte, dass er erst durch die
Kontrolle müsse, wenn er passieren wollte. „I don't think so.
You'll let us pass and you won't have any trouble.“ Kei sah dem
Typen direkt in die Augen.
„Okay... okay,“ sagte der junge Mann, nachdem er und Kei sich
eine Weile angestarrt hatten.
Wow... das war einfach... Er schlenderte zu Akira zurück.
„Auf! Bevor er es sich anders überlegt!“ Der Vampir stieg auf
sein Motorrad und startete den Motor. Akira folgte auf dem Fuß und
nahm sich vor, seinen Freund über diese Szene genau auszufragen,
sobald sie außer Sichtweite der Gewehrträger wären.
CHILE
In Arica, der ersten vernünftigen Stadt hinter der Grenze, nachdem
sie schwer gesichertes Gebiet durchquert hatten, wurden sie Keis
letzte Nuevo Sol für mehr Benzin und ein deftiges Burgeressen in
einer Kneipe los.
„Wir sind offiziell pleite,“ verkündete der Vampir nach dem
leckeren Essen, bei dem er Akira nur zugesehen hatte und lehnte sich
in seinem Stuhl zurück. Einen kleineren Teil seines letzten Geldes
hatte er schon an der letzten Tankstelle für Zigaretten ausgegeben.
Davon hatte er jetzt genug für die nächste Weile. Was er sich in
der Bar gegönnt hatte, war ein Glas des lokalen Alkohols gewesen,
von dem er noch nie etwas gehört hatte. Er hatte die Jacke
ausgezogen und über den Stuhl gehängt. Akira hatte zum Essen seine
Haare zu einem zerzausten Pferdeschwanz gebunden und seine weiten
Ärmel etwas hochgekrempelt. Nun putzte er sich nur noch die Finger
und den Mund, die in so effizienter Kooperation das fettige, salzige
und vor allem fleischige Mahl verschlungen hatten, mit einer
Papierserviette ab.
„Das macht nichts. Das ist sowieso nicht die richtige Währung
gewesen.“ Er grinste zufrieden und trank von seinem kalten Keche-
Quechu- Pexe- Wasauchimmer. Es schmeckte dezent zitronig und sehr
erfrischend. Nun waren sie nicht nur aus Japan raus, sondern hatten
es unbehelligt wochenlang in Peru ausgehalten und es da auch ohne
jeglichen Schluckauf durchgeschafft.
Da fiel ihm wieder der Grenzübergang ein und er beugte sich mit
hochinteressiertem Blick über den Tisch vor. „Was war das da an
der Grenze? Was hast du gesagt?“
„Dass wir die Grenze passieren wollen und ich nicht denke, dass er
uns kontrollieren muss,“ sagte Kei, als würde das einfach so
gehen. Akira hob eine einzelne Augenbraue.
„Ernsthaft. Ehrlich jetzt. Wie ist das abgelaufen?“
„Ich hab ihm in die Augen geschaut und gewartet... dann hat er uns
passieren lassen,“ erklärte Kei, der nicht ganz verstand, was so
interessant daran war. Akira runzelte nun ernst die Stirn. Langsam
sah er sich im Raum um. Kei folgte seinem Blick kurz und wendete sich
dann seinem Glas zu.
„Was ist so interessant daran?“ fragte er nach, während er sein
Getränk vernichtete. Akira bedachte ihn mit einem finsteren,
nachdenklichen Blick.
„Es ist unwahrscheinlich. Es ist so unrealistisch, dass es äußerst
verdächtig ist, dass wir einfach so durchgewunken wurden, ohne
irgendeine Kontrolle, bloß weil du nett gefragt hast,“ sagte er
leise und eindringlich. „Sowas passiert einfach nicht. Es sei denn,
man wollte uns durchlassen, und wer sollte warum ein Interesse
daran haben? Könnte es sein, dass wir beschattet werden, ist dir was
aufgefallen? Oder hast du ihn irgendwie bestochen?“
Kei entgegnete: „Nö, ich hab ihn nicht bestochen. Ich kann mir
selbst nicht ganz erklären, warum er uns durchgelassen hat. Fakt
ist, wir sind durchgekommen.“
„Aber ist uns jemand hinterhergefahren? Oder werden wir hier drin
beobachtet?“ Akiras neue Lieblingssorge schien Paranoia zu sein.
Und schon war er wieder unruhig.
„Nein. Uns ist keiner gefolgt,“ versicherte Kei ihm, der sich
dieser Tatsache sehr sicher war. Ihnen war niemand gefolgt und
beobachtet wurden sie auch nicht. Trotzdem hatte der Polizist ihn
durchgelassen – warum auch immer.
Er wurde von Akira ausgiebig gemustert, erst fast misstrauisch, dann
immer ruhiger, aber immer ernst. Kei erwiderte seinen Blick die ganze
Zeit ruhig. Zwischendurch trank Akira ein bisschen, entschied dann
dass Kei das milchig aussehende Getränk besser mundete als ihm
selbst und schob es seinem Freund hinüber, ohne den Blick von seinem
Gesicht mit den glühenden blauen Augen abzuwenden.
Der Vampir nahm das Getränk an sich – er mochte es wirklich und
schaute sich ein wenig im Lokal um. „Wo gehen wir nachher hin?“
Zaghafte Enttäuschung darüber, dass Kei den Moment so salopp
beendet hatte und wachsende Hoffnung bezüglich des Nachher
wechselten sich in Akira ab, der sich erst einmal räuspern musste,
ehe er nonchalant antworten konnte.
„Wo es uns gefällt,“ bot er an, womit er eigentlich meinte Egal,
kommt wohl darauf an, wie weit wir kommen, bis ich dir die Kleider
runterreiße.
Kei nickte. Da beide kein Geld mehr hatten, konnten sie wirklich
überallhin. Ein Motel konnten sie sich nicht leisten. Der Vampir zog
einen fremden Geldbeutel aus der Tasche und schob ihn zu Akira über
den Tisch. „Das hab ich dem Typen an der Plantage in Peru
abgenommen, hab noch nicht reingeschaut.“ Daran hatte der Vampir
gar nicht gedacht, nachdem sie aufgebrochen waren. Akira zog das
Portemonnaie zu sich und öffnete es, als gehöre es ihm oder seinem
Freund. Es war nicht sehr viel darin, aber genug für mindestens zwei
Tankfüllungen inklusive Reservekanister. Die Ausweise und Karten
darin ignorierte er. Akira schloss die Geldbörse wieder und hielt
sie hoch.
„Das ist Treibstoff. Für die Räder.“
„Ja. Den Rest lassen wir den Bullen zukommen – ich hab's
gefunden.“ Kei leerte sein Glas und wendete sich dem von Akira zu.
Alkohol hatte nur in sehr großen Mengen einen Effekt auf seinen
Körper und seit er gestorben war, war seine Toleranz noch höher
geworden. Nicht nur gegenüber Alkohol. Man konnte ihn mit Schüssen
durchsieben und er spürte es nicht einmal. Kei hatte das Gefühl,
überhaupt nicht mehr viel zu spüren. Zumindest, wenn er sich gerade
im toten Zustand befand, ohne Puls. Das war häufiger der Fall als
die Alternative. Leben tat er nur, wenn Akira in unmittelbarer Nähe
war.
Und die stellte der Junge auch augenblicklich her, indem er seinen
Stuhl eilig um den runden Tisch herum näherrückte, während er noch
darauf saß, und sich dicht zu Kei beugte, um eindringlich zu
flüstern: „Die Polizei, bist du verrückt? Du hast den Besitzer
umgebracht. Wir müssen das Teil fingerabdrucksfrei beseitigen.“ Er
war nicht paranoid, oh nein, sir, er war bloß vernünftig. Kei hatte
davon keine Ahnung.
„Gut, dann verbrennen wir's halt,“ meinte Kei dazu und spürte
einen Moment später einen langsamen Herzschlag einsetzen. Akira
nickte nur. Er blieb so dicht vorgebeugt bei ihm sitzen und sah ihn
weiter an. Das schien ihm gar nicht sonderlich bewusst zu sein. Dafür
war er zu stark darauf konzentriert, sein Blut, das sich wieder in
Bewegung gesetzt hatte, nicht zu rasch komplett nach Süden, also in
seine Hose, rauschen zu lassen. Das war ihm schon zu häufig
passiert, fand er, und führte meistens zu nichts als Peinlichkeit.
Trotzdem glotzte er Kei einfach weiter an. Kei musterte seinen Freund
und kommentierte seinen Blick nicht, dafür lauschte er dem
Herzschlag des Kleineren.
Der milde interessierte Blick des im-Moment-gar-nicht-so-Wahnsinnigen
ließ Akira ein winzigkleines Bisschen erröten und unbewusst
lächeln. Kei leerte Akiras Glas und sah ihn weiter an. Mit einer
Mischung aus eindeutigem Interesse und einigen anderen Dingen.
„Lass uns das Portemonnaie verbrennen,“ sagte er schließlich.
In Akiras Ohren klang der Vorschlag wie ein Code für Lass uns v-
Langsam nickte er. Hastig stand er auf. Zu hastig, wie ihm peinlich
bewusst wurde. Er war froh, dass die Körperstelle, die er Kei nun
durch seine Eile versehentlich entgegenreckte, wenigstens durch sehr
viel Stoff von Keis Gesicht abgeschirmt war. Kei erhob sich
ebenfalls, etwas langsamer, und schulterte seine Tasche. Den fremden
Geldbeutel steckte er in eine Hosentasche.
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