Sich die Lippen leckend, schulterte Akira seinen dicken Rucksack und
ging zum Ausgang. Kei ging ihm nach, nach draußen an die frische
Luft. Dort zündete er sich eine Zigarette an und behielt das Zippo
gleich in der Hand. Akira ging weiter, über die Straße zu einer
Grünfläche, die fast im Dunkeln lag. Auf einer niedrigen,
lehnenlosen Bank lagen zwei Gestalten zum Schlafen oder Ausnüchtern
oder beides.
Kei zündete den Geldbeutel an, nachdem er die Geldscheine
herausgenommen hatte, und warf ihn brennend in den nächstbesten
Mülleimer. Akira beobachtete das Ding eine kurze Weile beim Schwelen
und Lodern, bis er sich sicher war, dass es noch lang weiterbrennen
würde. Erst dann nahm er Kei beim Arm – oder machte Anstalten, das
zu tun, ehe er verlegen wurde und seine Hand wieder zurückzog. Der
Vampir bekam das nicht wirklich mit, er sah dem Ding beim Verbrennen
zu und schlenderte dann weiter bevor ihn irgendwer bei dem Feuer sah.
Nach ein paar Schritten drehte er sich zu Akira um. Die Sonnenbrille
hatte er abgenommen und in den Kragen seines Shirts gehängt. Akira
war still hinter ihm hergestiefelt. Mit den Händen in der
Bauchtasche. Neben Kei ging er aus zwei Gründen nicht. Erstens, weil
er gerade gegenüber dem Adonisvampir vor sich etwas schüchtern war,
und zweitens, und das sagte er sich war natürlich der einzig wahre
Grund, weil er hier im Dunkeln den Untergrund und was auf ihm
herumlag nicht gut genug sehen konnte um sicher herumzuspazieren. Als
Kei sich plötzlich zu ihm umwandte, stutzte er also und sah ertappt
auf.
„Lass uns die Räder holen. Hier zu bleiben gefällt mir nicht.“
Es ist zu laut und hier sind zu viele Menschen...
Akira nickte seine Zustimmung und sie gingen gemeinsam zu den Rädern
zurück.
Wir sollten uns ein ruhiges Plätzchen am Stadtrand suchen,
dachte er, aber fand seine Stimme nicht, um den Vorschlag laut
auszusprechen. Sie waren sowieso immer noch ‚am Stadtrand‘, und
dass sie sich an einem unbeobachteten Ort niederlassen würden, sah
Akira als garantiert an. Also sprach er weiterhin kein Wort.
Kei hatte dieselbe Idee und fuhr mit Akira an einen ruhigeren Ort
einige Straßen weiter. Dort war ein leerstehendes Gebäude, an dem
er hielt.
„Ich glaube, hier kommt keiner vorbei,“ sagte er ruhig, als er
auf das Gelände fuhr. Hier stört keiner...
Na hoffentlich, dachte der paranoide- nein, der vernünftige
Teil von Akiras Gehirn. Der größte Teil allerdings war
kurzgeschlossen und konnte nicht mehr denken.
Sie stellten ihre Räder in eine etwas sichtgeschützte Nische hinter
dem Haus und fanden die Hintertür verschlossen, jedoch schön morsch
vor, sodass sie schon verheißungsvoll wackelte und knirschte, als
Akira sie vorsichtig zu öffnen probierte.
„Ich mach auf,“ sagte Kei und trat die Tür ein.
Drinnen war es natürlich staubig und voller Trümmer, aber
glücklicherweise roch es nicht nach Pisse oder Verwesung. Die
Vordertür war verrammelt, ebenso sämtliche Fenster auf der
Vorderseite, also würde selbst bei Tag nicht viel Licht in die Räume
fallen. Nun, in der Nacht, war es hier beinahe stockdunkel. Akira
konnte schemenhaft ein paar Möbel ausmachen.
„Alter geht vor Schönheit,“ bot Akira an. Allerdings ohne
besonders frech zu klingen.
„Wer von uns ist laut Pass älter?“ fragte Kei und trat trotzdem
ein.
Drinnen standen einige alte Möbel. Sogar ein Sofa. Das war nicht
einmal wirklich klein – im Gegenteil. Die Fenster waren dicht und
es schien seit Langem niemand hier gewesen zu sein. Nicht einmal
Flaschen lagen herum. Akira folgte ihm und ging an ihm vorbei, als
sich seine Augen etwas an diese staubverschleierte Dunkelheit gewöhnt
hatten.
„Ach, werden wir jetzt offiziell, ja?“ Er sah sich um und fand,
dass das Haus einmal ziemlich hübsch gewesen sein musste. Es war
überhaupt nicht ärmlich eingerichtet gewesen, als die Einrichtung
noch vollständig und intakt gewesen war. Es gab sogar einen großen
Kamin im geräumigen Wohnzimmer, das dieser Raum mit dem Sofa einmal
gewesen sein musste. Ein paar Schritte vor dem schwarzen Kamin
stellte Akira unter kleinen Staubwolken seinen Rucksack auf den
nackten Bodendielen ab. Kei stellte seinen daneben und setzte sich
dann auf das alte Sofa. Seine Augen hatten kein Problem mit den
Lichtverhältnissen in dem alten Haus.
„Ich wollte nur wissen, ob du jetzt älter bist als ich.“ Akiras
US-Amerikanischer Pass wies ‚Angel Everett Wallace‘ als neunzehn
aus. Immerhin war der Pass echt, wenn auch gestohlen. Keis
vollständig gefälschter Pass für ‚Kaito Kageyama‘ log ihn nur
ein paar Monate älter und ließ ihn seine wahren achtzehn Jahre alt
sein. Bei dem Gedanken schmunzelte der Vampir ein wenig.
Akira zog sich den Pullover aus und ließ ihn auf den Boden fallen.
Das hatte für ihn keinen sexuellen Hintergrund. Er war einfach froh,
dieses Ding, dass er jetzt tagelang am Stück auf der Straße, im
Gras und beim Schlachten getragen hatte, endlich loszuwerden. Er
streckte sich und kratzte sich irgendwo am Rücken.
„Bin ich. Um ungefähr ein Jahr. Wird kein Schwanz glauben, dass
ich neunzehn sein soll, aber was solls.“ Er zuckte mit den
Schultern. Das Foto auf dem Pass dieses unbekannten Amerikaners, den
Akayas Yakuzakollegen ihm ausgehändigt hatten, zeigte das Gesicht
eines Jungen mit verblüffender Ähnlichkeit mit Akira. Mit Colin.
Colin Hammerer digitiert zu Akira digitiert zu Angel Everett
Wallace. Was für ein Witz.
„Ich glaub's auch nicht,“ sagte Kei dazu und zog seine Jacke aus,
um sie als Kissen zu nutzen. In der Dunkelheit beobachtete er Akira.
Der ging gemächlich zum Sofa und wischte mit einer Hand über das
Sitzpolster. Seine Handfläche war nun etwas grauer. Hoffentlich ohne
eine Miene zu verziehen, hockte er sich vor seinen Rucksack und
knotete seine Konstruktion aus Riemen und Schlaufen auseinander, um
die dünne, weite Flugzeugdecke herauszuziehen, die er speziell für
ihren Roadtrip besorgt hatte. Dass Keis Blick ihm aufmerksam folgte,
versuchte er zu ignorieren. Gleichzeitig hoffte er aber auch, dass
sein nackter Oberkörper den Vampir auf nette Ideen bringen würde.
Kei befand die Flugzeugdecke als erste nette Idee.
„Du kannst die Decke aufs Sofa legen, dann sterben wir nicht an
Staubvergiftung,“ schlug er vor, während er seinen Freund
aufmerksam beobachtete. Es war praktisch, auch im Dunkeln jede noch
so kleine Bewegung sehen zu können. Und eine kleine Bewegung war nun
zu sehen, nämlich im Zucken von Akiras Mundwinkeln.
„Das müsste schon extrem mörderischer Staub sein, der uns noch
umbringen kann.“ Er stand auf und breitete die Decke dort auf dem
Sofa aus, wo Kei sich nicht schon ausgebreitet hatte. „Gibt es
Staubvergiftung überhaupt?“ Ihm kam noch ein dringlicherer
Gedanke. „Wie ist es seitdem für dich? Fühlst du dich anders?“
fragte er ernst. Er blieb stehen, direkt neben Kei, sodass ihre Knie
sich beinahe berührten. Kei stand kurz auf um die Decke unter sich
und seiner Jacke auszubreiten.
„Es ist anders, ja. Ich fühle mich meistens tot. Keine Schmerzen,
keine Kälte, Hitze... Alles weg,“ erklärte der Vampir leise. Nur,
wenn Akira in seiner Nähe war und er am Leben spürte er all das.
Das einzige, was er immer wahrnahm, war das dumpfe Verlangen nach
Blut, egal ob tot oder lebendig.
Nun war Akiras Atem hörbar. Er sah Kei sehr ernst an und
verschränkte langsam die Arme.
Das ist es, dachte er, genauso. Er selbst hätte mehr
schicke Worte benutzt um dasselbe auszudrücken, aber wenn man
zwischen Keisuke Sakais inhaltsangabenartig servierten Stichworten
lesen konnte, verstand man, was alles für Bedeutungen hinter ihnen
stecken konnten.
„Es ist vielleicht falsch, aber genau jetzt bin ich froh, dass du
auch fast-gestorben bist,“ flüsterte er. Er klang ein bisschen
überwältigt. „Warum?“ fragte Kei beinahe genauso leise. Das war
sicher unnötig, weil niemand da war, der sie hören konnte, aber es
war mitten in der Nacht und da flüsterte man nunmal.
Weil wir jetzt etwas gemeinsam haben. Jetzt gibt es eine
Verbundenheit zwischen uns. Jetzt haben wir etwas, das –
Sowas konnte er doch nicht aussprechen. Ach scheiß drauf. Das
Bisschen Sentimentalität würde den Wahnsinnigen schon nicht
umbringen. Pun intended.
„Weil ich mich dir damit verbunden
fühle. Wir sind immer so fremdartig gewesen... Ich verstehe dich und
du verstehst mich jetzt auch... besser,“ murmelte Akira. Dass er
dabei rot wurde, spürte er zwar, doch er hoffte, dass Kei das in
dieser Finsternis nicht sehen konnte.
Unangemessenerweise, aber merkwürdig
passend begann nun die Kelly Family in seinem Kopf Musik zu machen.
Fell in love with an alien, fell in love with her eyes, I'm
in love with an alien, I'm tellin' you no disguise.
Umbringen tat sie Kei nicht, nein, aber er wusste deshalb noch lange
nicht, wie man damit umgehen sollte. Was erwiderte man darauf? Er
vermutete, dass sie einander nie ganz verstehen würden. Das würde
wahrscheinlich nie der Fall sein. Dafür müsste man reden und das
war etwas, das Kei nur sehr, sehr ungern tat. Der Vampir murmelte
eine leise, unverständliche Zustimmung und zog sich das dreckige
Tanktop über den Kopf.
Träumst du anders seit du tot bist? Haben sich deine Gefühle
verändert? Erinnerst du dich an alles? Akira
brachte es nun nicht mehr fertig, diese ihm wirklich unter den Nägeln
brennenden Fragen zu stellen, denn er hatte keine besondere Lust,
halbherzige Antworten darauf zu hören, von einem Kei, der sich nun
halb auszog. Es gab drängendere Sachen zu erledigen, erinnerte ihn
sein sehr zielstrebiger Blutfluss. Er kaute auf seiner Lippe herum.
Kei saß gemütlich auf dem Sofa herum – er lag halbwegs auf seiner
Jacke und hatte das dreckige Shirt zu den Taschen geworfen. Er nahm
Akira bei einer Hand und zog ihn zu sich aufs Sofa. Mit seinen Knien
aus Pudding und Limonade blieb Akira auch nichts anderes übrig, als
sich zu ihm auf das Polster zu knien. Wenigstens schaffte er es, den
Atem, den er vor lauter Kribbeligkeit ausstieß, nicht zu einem
ausgewachsenen Seufzer werden zu lassen.
I'm acting like such a fanboy.
„I'm your number one fan,“
raunte er plötzlich, obwohl er das nur hatte denken wollen. Ganz
selbstironisch. Gut gemacht. Gar nicht merkwürdig oder peinlich.
Kei grinste süffisant und ein
bisschen versaut, was Akira aber kaum sehen konnte. „I know.“
Bevor sein Freund noch irgendetwas erwidern konnte, küsste er ihn.
Etwas beschämt erwiderte Akira den
Kuss, der von Kei nicht allzu lange aufrecht erhalten aber dazu
ausgenutzt wurde, ihm die Hose auszuziehen. Akira stockte der Atem
und er begann plötzlich, sich für alle möglichen Dinge zu schämen,
die er sich bisher und mittlerweile ganz verwegen einfach geleistet
hatte. Dass er vor Kei gekniet und seine Beine umschlungen hatte,
nachdem der ihn niedergeschlagen hatte, dass er freiwillig ohne jede
Bedenken einem alten Mann den Schwanz gelutscht hatte, um dafür ein
altes Motorrad zu bekommen, dass er überhaupt mit den Männern in
die Schwulenbar in Shinjuku mitgegangen war und was er danach dort
mitgemacht hatte, die Umstände und Zustände, in denen Kei ihn immer
wieder erlebte... trotzdem war er längst hart und reagierte auf jede
Berührung wie auf eine statische Entladung. Er selbst hielt gerade
nur die Sofalehne fest, auf die er sich stützte. Mit einer winzigen
Bewegung hätte er sein Gesicht in Keis Schopf vergraben können,
aber das traute er sich nicht.
Dem Vampir blieb nicht ganz
verborgen, dass sein Freund alles war, aber nicht ganz bei dem, wo er
ihn gern hätte.
„Was ist los?“ erkundigte er sich ruhig, hielt ihn aber da fest,
wo er war.
„Was?“ Akira klang, als würde er gerade vom Träumen im
Klassenzimmer aufschrecken. Nur ein bisschen atemloser.
„Du bist irgendwo anders mit den Gedanken... wo?“ Draußen war
eine Verfolgung zu hören. Schüsse, Blaulichtsirenen.
Aus dem Augenwinkel sah Akira die
starke Wölbung seiner Unterhose über den geöffneten Reißverschluss
seiner Jeans schauen. Das machte es ihm nicht leicht, überhaupt
etwas zu sagen, geschweige denn zu gestehen, für was er sich in
diesem Moment gesammelt schämte. Er sah Kei an und schien wieder
gedanklich abzuschweifen, denn sein Blick wurde glasig. In der langen
Parade all der Momente, die er bedauerte, die ihm immer noch ohne
sein Zutun durch den Kopf zog, war er nun endlich an dem Abend
angekommen, an dem er, meinte er, bestimmt wahnsinnig geworden war.
Heiligabend.
Er kniff die Lippen zusammen und
bewegte den Kiefer, während seine Augen rot und nass wurden. Während
es draußen weiter ballerte und sich auch noch Rufe und Schreie unter
die Geräusche mischten, nahm Kei Akira in den Arm – hauptsächlich,
weil er nicht damit umzugehen wusste. Er selbst schaute an die Decke
und wartete einfach.
Schaudernd atmete Akira durch, dann wischte er sich die ersten Tränen
ab. Die Umarmung war schön, aber kaum tröstend. Er wartete ein paar
Sekunden, bevor er das Kinn von Keis Schulter hob und sich
aufrichtete. Er machte Anstalten, aufzustehen.
Der Vampir ließ ihn nicht wirklich los, aber er lockerte seine
Umarmung und sah ihn ruhig an. Akira wich seinem Blick aus und
versuchte, seine Arme hinunterzuschieben, damit er aufstehen konnte.
Kei ließ ihn aufstehen.
Kaum auf den Beinen, schloss Akira seine Hose wieder, wischte sich im
Umdrehen noch einmal über eine Wange und ging zu dem verrottenden
Türrahmen zum Flur, durch den sie gekommen waren. Kei ging ihm
langsam nach, blieb aber einen guten Meter hinter ihm stehen und
beobachtete ihn indirekt. Er wartete noch immer.
Akira versuchte zu ignorieren, dass Kei ihm nachging. Er wollte ihn
zurückschicken, traute aber seiner Stimme nicht, diesen Wunsch
deutlich genug zu äußern, ohne noch mehr preiszugeben, das Kei nur
auf die Nerven gehen würde. Er hatte sich schon lange gefragt, warum
er so wenig zu trauern schien. Seit er sich im Schlaf erinnert hatte,
hatte er nicht mehr um seine Familie geweint. Jetzt kamen ihm die
Tränen und die Schuldgefühle und er wollte sie nicht unterdrücken,
nur um Kei nicht lästig zu werden. Er weinte geräuschlos weiter und
ging finster dreinblickend zur Hintertür zurück.
Kei ging ihm in einigem Abstand nach, hatte aber den Blick auf den
Boden gerichtet. Seine Gedanken waren an vielen Orten zur selben
Zeit. Bei allem, was bisher passiert war und bei vielem von dem Akira
nichts wusste und am besten auch nichts wissen sollte.
Irgendwann muss ich ihm alles erzählen... Das verwarf der
junge Vampir allerdings gleich wieder. Trotz der Tatsache, dass er
seine eigenen Leichen im Keller behalten wollte, wollte er die von
Akira ausgraben.
Dem wurde dabei noch etwas unwohler, dass Kei ihm weiter folgte. Er
konnte sich auch nicht vorstellen, warum. Der Vampir ging gewöhnlich
den einfachsten und direktesten Weg zu allem, das er erreichen wollte
und interessierte sich nur sehr bedingt für die Befürfnisse
anderer, selbst wenn ein solcher Anderer Akira war.
Keis Nähe heizte wie ein gegensätzlicher Pol seinen Körper an und
das konnte er nun nicht gebrauchen. Er hatte den starken Eindruck
gewonnen, dass er ohne sie nicht nur nicht lebte, sondern
quasi nicht einmal richtig existierte. Dann war er nicht nur kühl
und still sondern dachte auch kaum noch. Wenn sie sich körperlich
näherkamen, kamen Akiras Stimmungen und impulsiven Emotionen zurück,
und zwar mit wehenden Fahnen und einem erdrückenden Bewusstsein für
seine Versäumnisse.
Wie er sich am Ausweiden des freundlichen Peruaners geweidet hatte.
Wie er die meiste Zeit an seine Eltern dachte, nämlich ohne
besonders erschüttert zu sein.
Er trat auf die Terrasse hinter dem Haus, vor der sie die Räder
abgestellt hatten, und ließ die klapprige Tür hinter sich zufallen.
Beim Hinuntergehen in das trockene, hohe Gras horchte er darauf, ob
sie sich wieder öffnen würde.
Kei blieb hinter der Tür stehen und spürte langsam seinen Körper
abkühlen, während er lauschte. Ohne sich zu bewegen oder sonst
etwas zu machen stand er einfach nur so da. Er hob den Blick auf die
Tür.
Glaub ja nicht, dass ich dir nachlaufe, wenn du gehst...
Kei konnte sich nicht erklären, wo dieser Gedanke herkam, aber er
war da.
Ein wenig erleichterter stellte Akira fest, dass Kei die stumme,
langsame Vefolgung anscheinend aufgegeben hatte und erlaubte es sich
endlich, noch einmal durchzuatmen, diesmal ohne sein Schluchzen zu
unterdrücken, das endlich richtig herauswollte. Er ging noch ein
paar Schritte weiter, bis er durch die Dunkelheit dieser kaum
beleuchteten Nachbarschaft und seine Tränen so gut wie nichts mehr
sehen konnte, und sich an Ort und Stelle hinkniete. Die Gräser
ragten ihm nun zum Teil über den Kopf. Nicht, dass er das bewusst
wahrnahm. Er sah nur wieder seine Mutter und die Hunde und Hiroki an
Heiligabend im Wohnzimmer liegen. Er nahm auch die Polizeigeräusche,
die Rufe und all das, was da aus einer Nachbarstraße herüberschwoll,
nicht wahr. Vielleicht auch deswegen, weil er sich die Hände über
die Ohren legte und einen kurzen, frustrierten Vezweiflungsschrei
ausstieß, bevor er sich vorbeugte und die Stirn auf den staubigen,
harten Untergrund legte. Dort schrie er noch einmal.
Kei hörte ihm zu.
Von dort, wo er stand, und lehnte sich nach ein paar Minuten an die
dreckige Wand neben sich, wobei er sich den Arm an einem Stück
rostigem Stahlträger aufriss. Er spürte es nicht, hörte aber das
Geräusch, das verriet, dass seine Haut gerissen war und spürte Blut
an seinem Arm herunterlaufen. Ganz langsam. Draußen war noch immer
die Polizeischlacht im Gange.
Und es wurde ein wenig windiger. Das Rascheln um ihn herum ließ
Akira verstummen, soweit sein zuckendes Zwerchfell das zuließ, und
er wippte nur ein kleines bisschen vor und zurück. Seine Augen
brannten und sein Puls pochte langsam und unregelmäßig, aber stark
durch seinen Körper. Es war beides unangenehm, wie das verkrampfte
Übelkeitsgefühl, das nicht in Akiras Magengegend, sondern in seiner
Brust saß. Daran hielt er sich fest, weil es seine Erinnerung und
das, was er für seine Menschlichkeit hielt, in seinem Bewusstsein
verankerte, ohne dass er sich berauscht und verzweifelt vor Geilheit
an Kei klammern musste.
Kei ging zum Sofa zurück und legte sich darauf. Er rollte sich
zusammen und benutzte seine Jacke als Decke. Er fror nicht, aber das
fühlte sich trotzdem gut an. Ich bin tot... Was soll der Scheiß
mit den Erinnerungen?
Ungefähr analog zu der sich allmählich beruhigenden Situation auf
der Straße ließ auch Akiras Aufgewühltheit nach. Dumpf kam ihm der
Gedanke, dass er nichts beschlossen, geklärt oder verarbeitet hatte,
und einfach nur gleichgültiger wurde, während seine
Körperfunktionen wieder nach und nach einschliefen. Sein Herz machte
am längsten weiter und ließ ihn noch still weiter weinen.
Schließlich wischte er sich die Nässe aus dem Gesicht, so wie es
mit den nackten Handrücken und Unterarmen möglich war, und ging
langsam in das Haus zurück.
Dort lag Kei geistesabwesend unter seiner Jacke und hing toten
Erinnerungen nach, die irgendwann mal schlimm gewesen waren.
Akira blieb kurz in der Tür stehen und betrachtete die schwarze Form
im dunkelgrauen Raum für ganze fünf Sekunden. Seine Augen waren vor
Anstrengung etwas zusammengekniffen, aber davon abgesehen war sein
Gesicht nicht besonders emotionsgeladen. Er ging leise zu den
Rucksäcken und zog das Gras aus der Bauchtasche seines Pullovers.
Kei beachtete den Kleineren kaum. Er nahm lediglich wahr, dass er
wieder da war. Seine Augen waren geschlossen und in seinem Kopf lief
ein alter Film...
Mit seinem aus Blättchen, Marijuanatüte und Feuerzeug bestehenden
Bausatz setzte Akira sich vor das Sofa und lehnte sich mit dem Rücken
daran. Er hatte im Drehen keine Erfahrung und wusste auch nicht, dass
ein Filter eine kluge Idee wäre. Er kam noch nicht einmal dazu, es
überhaupt richtig zu versuchen, denn er konnte kaum etwas sehen.
Also stellte er sein Rascheln und Knistern ein, um zu Kei zu schauen
und sein Gesicht zu mustern. Er schien zu schlafen.
Das versetzte Akira einen dumpfen Schlag irgendwo in der Brust. Es
überraschte ihn nicht, dass Kei sich gelassen schlafen legen konnte,
nachdem er Akiras Zustand miterlebt hatte. Aber scheinbar hatte er
noch irgendeine alberne, romantische Hoffnung gehegt.
Er warf seine nutzlosen Drogenspielsachen neben seine Füße und
betrachte weiter Keis Gesicht. Oder zumindest das, was er davon
erkennen konnte. Das war nicht viel. Der Vampir sah etwas mehr
gestorben aus als schlafend, aber immerhin war er tot. Sein Gesicht
war absolut frei von jeglichem Ausdruck. Mit einer kleinen Bewegung
zog er seine Jacke ein Stückchen höher, sodass sein Gesicht kaum
noch zu sehen war.
Wieder schossen Akira Tränen in die Augen, vor Beleidigung brennende
diesmal. Fine. Be like that! Fucker.
Er stand auf, mit voller Absicht schön geräuschvoll, versetzte dem
Sofa dabei noch einen dezenten Tritt mit der Sohle, und kramte Keis
Zigaretten aus dessen Rucksack.
Kei ignorierte das einfach. Auch dass Akira seine Zigaretten nahm,
war ihm egal. Zum ersten Mal fühlte er sich richtig tot.
Noch auf dem Weg aus dem Raum zündete Akira sich die erste Zigarette
an. Die Packung steckte er daraufhin in eine Hosentasche, ehe er sich
daran machte, das Haus zu erkunden.
Kei drehte sich irgendwann um und starrte an die Decke.
Die Fenster, die nach vorn zur Straße hinausblickten, waren allesamt
mit Brettern vernagelt. Nur nach hinten hinaus fand Akira in der
zweiten, der obersten Etage unter dem Dachboden, freie Fenster. Die
waren allerdings auch schon vor Ewigkeiten eingeschmissen worden. Die
Treppe zum Dachboden war schmal, steil und ziemlich morsch, hielt
sein Gewicht aber aus. Beim Austreten der Zigarettenstummel achtete
er darauf, dass er nichts in Brand steckte, obwohl er die platten
Stummel ohne weitere Bedenken liegenließ. Bei der dritten Zigarette
hatte er die Dienstbotenkammern unter dem Dach grob durchstöbert und
dabei Überreste von Tieren gefunden. Und lebende Tiere. Er fand eine
Dachluke, die sich noch öffnen ließ und kletterte mit Hilfe einer
halben Holzkiste hindurch auf das Dach. Es war kein Spitzdach,
sondern nur zu einer Seite hin abschüssig. Er kletterte um die
Löcher und offensichtlich losen Ziegel herum zur höchsten Kante des
Daches. Dort krabbelte er zum Kamin und setzte sich.
Kei machte weiter damit, an die Decke zu starren und spielte mit
seiner Münze herum.
Oben auf dem Dach rauchte Akira mit den Ellenbogen auf die Knie
gestützt noch ein bisschen weiter und betrachtete den Himmel. Hier
konnte man trotz all der Schwerindustrie mehr Sterne sehen als jemals
in Tokyo.
Akiras Stimmung besserte sich nur marginal, beruhigte sich aber
deutlich, während er friedlich nach oben blinzelte. Nach einer Weile
schloss er die Augen.
Kei ging nach draußen und setzte sich vor die Tür, welche er offen
ließ, und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte noch ein volles
Päckchen in der Hosentasche gehabt.
Nach wenigen Minuten löste sich ein zerbrochener Dachziegel und
rutschte mit einem schabenden Geräusch auf der Straßenseite
hinunter, bis er mit einem dumpfen Klirren auf dem festgetreten
Staubboden vor dem Haus zerbrach.
Akira stand unsicher auf dem First, knappe zwei Meter vom Ende
entfernt, und zog langsam und ruckelig seine viel zu glatten
Gummisohlen über die runden Ziegel. Sein Blick war starr geradeaus
gerichtet.
Der Vampir horchte auf und sah nach oben, nachdem er das Klirren des
Ziegel gehört hatte. Er blieb jedoch wo er war.
Da bist du...
Langsam aber sicher pirschte sich Akira, der vor Anspannung zu
zittern schien und dessen Augen ernst starrten, zur Kante des Daches
vor. Dort blieb er mit einem kleinen Ruck stehen. Einer seiner Füße
rutschte weiter vor und zuckte dann wieder zurück, er wankte, zuckte
wieder vorwärts, rückwärts... das ging noch ein paarmal so.
Kei schaute nach oben, während er an seiner Zigarette zog und
wartete, was passieren würde. Beinahe rutschte Akira aus, während
er scheinbar versuchte, die Balance zu halten - oder vielmehr, er
rutschte aus, fing sich wieder, wonach sich seine Muskeln sichtbar
entspannten. Aber nur für zwei oder drei Sekunden, denn dann sprang
er plötzlich vom Dach und fiel mit angespannten, ausgebreiteten
Armen die vier Stockwerke hinunter auf einen in Beton gegossenen
Stahlzaun zu.
Kei sah aus dem Augenwinkel seinen Freund vom Dach fallen, oder
springen? Blitzschnell stand er unter dem Zaun und fing ihn kurz vor
dem Zaun auf.
„Was machst du?!“ rief er und schaute Akira verständnislos an.
Akira starrte ihn erschrocken an und schlang zitternd die Arme um
Keis Nacken. Sein Herz raste.
„Das war ich nicht!“ flüsterte er.
„Wer war's denn dann? Du warst alleine da oben,“ erwiderte der
Vampir.
Akira sah ihn ungläubig an. Glaubst du, ich verarsche dich?!
„Ich war das nicht!“ Er flüsterte immer noch, mit einer Ahnung
von einem furchterfüllten Quietschen dahinter. Wenn Kei obenrum
irgendetwas angehabt hätte, hätte Akira ihn dafür am Kragen
gepackt. Und wenn er sich nicht gerade mit den Armen an ihm
festhielte.
„Dein Körper springt von allein vom Dach?! Unwahrscheinlich.“
Kei fiel ein, dass Akira sich am See bei der Plantage ähnlich
benommen hatte und es auch dafür keine Erklärung gab. Irgendetwas
war da.
Akira wollte Kei nicht loslassen, er traute sich nicht. Aber er
konnte es auch nicht ertragen, ihn weiter festzuhalten. Wieso fing er
ihn auf und beschuldigte ihn daraufhin sofort? Arschloch.
Akira weinte wieder, aber diesmal aus Wut und Enttäuschung darüber,
dass Kei ihm nicht glaubte. Er ignorierte die Tränen aber und er
hielt Kei auch weiterhin fest.
„ICH WOLLTE NICHT SPRINGEN!“
Das glaubte Kei ihm sogar, sonst würde der Junge sich nicht so
anstellen. Er schaute ihn ruhig aber ernst an. „Irgendwas stimmt
mit dir nicht. Das ist das zweite Mal, dass du sowas machst.“
„Ich mache das nicht, ich versuche, es zu verhindern!“
„Sehr erfolgreich bist du dabei nicht,“ merkte Kei an.
Akira biss die Zähne zusammen und ließ Kei los, um ihm eine
Ohrfeige zu geben. Glaub mir, du Wichser!
Kei hielt seine Hand fest und schaute ihn an, direkt in die Augen.
„Was ist das mit dem Zombieding, das dich suizidal werden lässt?“
Akira sah ihn wieder wild und ungläubig an. Werden? Das war ich
doch schon immer!
„Hast du vergessen, wie ich gestorben bin?“
„Nein, aber das war Absicht. Das hier nicht. Deine Worte.“
Akira musste Luft holen.
„Ich will jetzt nicht mehr sterben,“ gab er in vernünftiger
Lautstärke zu. „Jetzt habe ich keinen Grund mehr dazu. Ich habe
nur noch Gründe, um weiterzu- ... leben.“ Er erwiderte Keis Blick
standhaft. Seine Hand, die von Keis festgehalten wurde, entspannte
sich.
„Das ist gut.“ Sagte Kei leise. Das bestätigte seine Vermutung,
dass da irgendwas nicht stimmen konnte.
„Ja,“ stimmte Akira zu. „Und leben kann ich nur mit dir.“ Das
hätte er nicht sagen müssen, aber irgendwie war ihm das überhaupt
nicht peinlich, obwohl er Kei immer noch direkt ansah. Wenigstens
weinte er nicht mehr.
Kei erwiderte den Blick. Er wusste nichts zu sagen, aber das war egal
bis gut so, denn sonst hätte er irgendwas dummes gesagt oder etwas,
das er nicht sagen wollte.
„Ich kann nicht mehr denken. Wenn du weg bist, schaltet sich mein
Gehirn einfach ab, und wenn du da bist... kann ich auch nicht
denken,“ schloss Akira lahm.
„Dafür denkst du ganz schön viel.“
„Und du zu wenig!“ warf Akira automatisch zurück.
„Fresse!“
Akira sah ihn an, als habe er ihn gerade geohrfeigt. Irgendwie
finde ich, du solltest in so einem Moment netter zu mir sein.
„Arschloch!“
„Erzähl mir was neues,“ sagte Kei schmunzelnd.
„Was neues...“ Akira hatte den trotzigen Einfall, Kei beim Wort
zu nehmen und ihn mit irgendeiner Aussage zu verblüffen. Nach
wenigen Sekunden scharfen Nachdenkens beschloss er, nicht etwas zu
sagen, das Kei noch nicht wusste - da gab es nicht viel, das ihn
überraschen würde - sondern einfach etwas deutlich auszusprechen,
das er nie gesagt hatte und unter normaleren Umständen auch nie
sagen würde.
„Es - Dass du so ein sadistisches Arschloch bist, macht mi-“
Nein, vergiss es. Sowas konnte man nicht aussprechen. Und das nur für
ein patziges Comeback. Akira schüttelte den Kopf und zog seine Hand
zurück, die Kei noch immer am Handgelenk hielt. Kei ließ ihn aber
nicht los, sondern hielt Akiras Handgelenk noch etwas stärker fest.
„Ich weiß.“ Das war nichts neues. Das wusste er schon seit dem
Konzert auf dem sie sich zufällig begegnet waren. Er hatte den
Kleineren noch nicht auf dem Boden abgesetzt. Mit einem Arm hielt er
seinen Freund so, wie er ihn aufgefangen hatte.
Akira wurde rot. Fick dich, fuhr ihm durch den Kopf. Er musste
die Lippen zusammenkneifen, um das nicht laut auszusprechen. Kei
würde daraus machen, was er wollte, und er würde es genauso
verstehen, wie Akira es eigentlich meinte. Er kniff die Augen
zusammen. Manchmal taten ihm seine eigenen verqueren Gedanken vor
Lächerlichkeit fast weh. Und Kei starrte ihn an.
Ich werfe mich dir jetzt nicht an den Hals.
Dass er ihm zufällig schon am Hals hing, fiel ihm dabei nicht auf.
Keis Grinsen wurde angesichts der Tatsache, dass Akira rot wurde
etwas sichtbarer. Sein Blick lag auch noch immer auf seinem Freund.
Der provoziert mich nur. So leicht kann ich nicht zu durchschauen
sein. Mutig entschlossen traf er
Keis Blick wieder.
„Gut, du bist dran. ‚Erzähl mir was neues.‘“
Kei dachte nach. All das, was Akira von ihm nicht wusste, sollte
ungewusst bleiben. Das wäre besser so. „Etwas neues, ja?“
Akira nickte langsam. „And it better be something relevant,“
warnte er finster, wobei er das Wort ‚relevant‘ so langsam und
deutlich aussprach, dass Kei es verstehen musste.
Kei dachte nach. Was kann ich ihm erzählen? Es kam wirklich
nicht viel infrage, das tatsächlich relevant und gleichzeitig
erzählbar war. Er wollte nicht. Da gab es zu viel. Vergangenheit
sollte besser tot bleiben... „...What do you want to know?“
fragte er stattdessen ruhig.
Als er sah, dass Kei offenbar tatsächlich ernsthaft darüber
nachgedacht hatte und nun scheinbar bereit war, offen! mit ihm zu
reden! lächelte Akira ein bisschen.
„Lass mich runter,“ bat er ruhig.
Kei setzte Akira ab und sah ihn an.
„Danke fürs Auffangen.“ Akira blieb so dicht bei Kei an diesem
alten Eisenzaun stehen, wie er ihn hingestellt hatte. Er wischte sich
kurz mit den Händen über das Gesicht und sah seinen Vampir dann
wieder an, nicht mehr verzweifelt aber etwas erschöpft, und lächelte
leise.
„Ich kann dich nicht einfach so sterben lassen. Wenn dann richtig,“
erwiderte der Vampir und lächelte fast unmerklich. Er stand an den
Zaun gelehnt und zündete sich eine Zigarette an. Den Rauch blies er
nach oben.
„Wenn, dann durch deine Hand, meinst du.“ Akira winkelte ein Bein
an und legte das Knie auf die niedrige Betonmauer am Fuß des Zauns.
„Ja.“ Niemand außer ihm selbst durfte ihm Akira wegnehmen.
Akira gab dem plötzlichen Drang nach, seinen Kopf an Kei zu lehnen.
Seine Schultern waren dafür ein bisschen zu hoch, aber er war über
der Gürtellinie nackt, also war es Akira gleich, ob sein Gesicht für
ein paar Sekunden auf dessen Arm oder Brust lag - das genehmigte er
sich auch wirklich nur ein paar Sekunden lang.
Kei schaute zwischen Akira und seiner Umwelt hin und her, bis er mit
dem Blick an der Kante des Daches von dem sein Freund sich
hinuntergestürzt hatte - wenn auch unabsichtlich, hängenblieb. Fast
unmerklich strich Keis Hand, die einfach seitlich herunterhing, über
Akiras Arm, bevor er sie in die Hosentasche steckte.
„Es gibt nichts neues, das ich dir gern erzählen würde,“
beantwortete er die Frage, die Akira ihm zuvor gestellt hatte.
„Warum nicht,“ fragte Akira leise. Er drehte sich etwas, sodass
er dicht neben Kei stand, und setzte sich auf die Mauer.
„Aus Gründen, aus denen man nicht gern über Vergangenes
spricht...“ begann Kei leise, führte das aber nicht weiter aus.
Akira musterte ihn von unten.
„Musst du auch nicht. Aber wenn du mal das unerwartete Bedürfnis
haben solltest...“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Manche
Leute haben nicht gern Geheimnisse vor denen, die sie...“ Er
räusperte sich und schob sich die Hände in die Hosentaschen.
Das war wohl ein Bedürfnis, das Kei niemals verspüren würde, aber
man wusste bekanntlich nie. Der Vampir am wenigsten. Trotzdem blieben
manche Geheimnisse und manche Ereignisse besser unerwähnt. Auch wenn
sie wichtig zu wissen wären, um ihn zu verstehen.
Er nickte leicht. Er mochte seine Geheimnisse nicht.
„Stört es dich übrigens, dass ich mitteilungsfreudiger bin als
du?“ Akira brachte es fertig, dieses ehrliche Anliegen in einen
leichtherzigen Ton zu verpacken.
„Nein. Das heißt immerhin nicht, dass ich's auch sein muss,“
entgegnete Kei ruhig. Den Blick vom Dach auf Akira gerichtet.
„Richtig...“ Akira hatte zu ihm hinaufgesehen und fand sich nun
nicht mutig genug, diesem ernsten, leuchtend blauen Blick zu
begegnen, und sah unwillkürlich auf die fleckigen und mittlerweile
fransigen Knie seiner Jeans. „Diese Blödheiten... ich mache diese
merkwürdigen Sachen nicht mit Absicht. Ich will sie nicht machen.
Weißt du das?“
Vielleicht konnte Kei ja ein bisschen hellsehen und damit erraten,
dass Akira damit alles von seinen unfreiwilligen Selbstmordversuchen
über das Schwanzlutschen bis hin zu seinen Gefühlsausbrüchen
meinte.
„Ich gehe einfach mal davon aus, dass du das sonst nicht als
Dummheiten betiteln würdest,“ mutmaßte Kei. Er wusste, dass Akira
diese Dinge nicht absichtlich tat. Jedenfalls nicht böswillig. Das
glaubte er ihm auch.
Er nickte. Beging er seine eigenen Dummheiten doch auch nicht alle
absichtlich.
Akira blickte auf die Zigarette. „Kannst du Tüten drehen?“
„Ja, wieso?“
Akira musste ein bisschen lachen. „Wieso? Weil wir Gras haben.“
Er stand auf.
Das hatte Kei beinahe verdrängt. Kaum zu glauben, aber wahr. „Haben
wir Tabak und Blättchen?“
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