Monday, December 19, 2016

Kei + Colin LXXXVI: Wir waren mehr als Freunde

Als sie den Raum betraten, machte Colin große Augen. Er wohnte nun schon ein Weilchen hier in Ruperts Schloss und hatte diesen Raum noch nie gesehen.
„Warum weiß ich nichts davon?“ staunte er. „Hier gibt‘s ja alles.“
„Weil du‘s vergessen hast. Such dir was aus.“
„Äh.“ Colin drehte sich im Raum, um sich umzusehen. Dann zuckte er zum x-ten Mal mit den Schultern und zeigte auf die riesige Musikanlage. „Musik und Darts?“
„Klar. Hast du Musikwünsche? Hier gibt's alles mögliche an Musik.“
„Äh. Keine Ahnung, mir egal?“
Kei ging zur Musikanlage und suchte Musik aus, die Colin kannte. „Meinst du, man kann hier Playlists bauen?“ fragte er.
Auf einmal gingen Colin wie in plötzlicher Erkenntnis die Augen auf. „Darum wart ihr nie beim Essen dabei,“ sagte er.
„Weil wir kein normales Essen brauchen, ja.“ Kei machte weiter an der Anlage herum, bis er sich für eine CD von den vielen, die ihm sofort einfielen, entschieden hatte. „Komm mal her. Hier ist noch was, das du in den letzten zwei Jahren gemacht hast.“
Colin taperte zu ihm an den Schrank. Kei trat zur Seite. „Schau mal. Das hast du getrieben, als wir ‘ne Weile nicht zusammen unterwegs waren.“
„Was, CDs gesammelt?“ fragte Colin doof, bis er feststellte, dass Kei ihm nicht die aufgereihten Plastikhüllen zeigte, sondern die Türinnenseite, die mit Postern und Fotos aus Magazinen beklebt war. Mit den Händen in den Hosentaschen betrachtete er sie näher. Jedes einzelne.
„... Wer ist das?“ fragte er schließlich leise, immer noch draufstarrend. Aber er wusste natürlich längst, was Kei ihm antworten würde.
„Dein böser Zwilling,“ scherzte Kei monoton.
„Ich habe einen-“ Colin sah zu Kei und verstummte. „Arschloch,“ sagte er mit strafendem Blick.
„Gern.“
„Wessen kranke Idee war das, mich Angel zu nennen?“ fragte er, wieder die Bilder betrachtend. Es war merkwürdig, sich selbst auf Fotos zu sehen, an deren Umstände man sich nicht im Geringsten erinnern konnte.
„War der Name auf deinem falschen Ausweis.“
„Warum hatte ich einen falschen Ausweis? ... War ich gut?“ Interessante Kostüme...
„Wir mussten unerkannt aus Japan raus. Ja, warst - bist du. Du kannst das immer noch.“
Mit einem schelmischen Seitenblick von unten, immer noch zu den Bildern hingebeugt, sagte Colin: „Warst du mein Fan?“
„Ich hab‘ manchmal im Fernsehen gesehen, was du so treibst. Deine Musik war und ist wirklich gut.“ Das konnte man auch als Ja verstehen, wenn man wollte.
„... Wie die Poster hier beweisen,“ sagte Colin mit dreistem Schmunzeln und richtete sich wieder auf.
„Ja. Es war nicht einfach, dich zu finden, obwohl du ständig irgendwo in den Medien warst.“
„Wir haben Japan zusammen verlassen?“
„Ja.“
„Warum?“
„Wir wurden verfolgt.“
„Warum?“
„Wir wurden von mächtigen Vampiren entführt, sind gestorben und irgendwann sind wir da rausgekommen und mussten abhauen.“
„Wir sind ge- bist du als Vampir nicht sowieso tot?“ Colin bewegte sich zum Sofa und rollte sich lässig über die Lehne auf die Sitzfläche, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.
„Nein, ich bin als Vampir geboren. Ich bin nicht untot. Ich lebe nur anders. Naja mittlerweile bin ich beides. Untot und anders lebendig.“
„Also... Vampire werden geboren, und wenn sie sterben, erstehen sie untot wieder auf?“
„Ich kann kaum sterben. Diese Pisser, von denen ein paar mittlerweile tot sind, haben an uns versucht, Unsterblichkeit möglich zu machen. Da du ein Mensch bist, ist das nicht ganz so glimpflich ausgegangen und deshalb kam es irgendwann dazu, dass Dennis dein Gedächtnis löschen musste.“ Kei sammelte die Dartpfeile zusammen.
Auf der Erläuterung kaute Colin erstmal ein bisschen herum. Dabei starrte er blind auf den schwarzen Fernsehschirm vor sich, in dem er sich dumpf spiegelte. Es war alles ziemlich unglaubwürdig, aber die leuchtenden blauen Augen von Dennis, Kei und Delilah, die rasante Spucke-Heilung von Dennis‘ Arm, diese Gelassenheit, mit der er die Verletzung hingenommen hatte, Colins Fotos im Musikschrank und seine zwei verlorenen Jahre waren zweifellos echt. Seine eigene rätselhafte Spontanheilung ebenfalls. Egal, was die Wahrheit war, sie musste seltsam sein. Warum dann also nicht einfach diese Geschichte akzeptieren?
„Hat diese Bindung, von der Dennis gesprochen hat, was damit zu tun? Ich meine, ist das... ist das diese Unsterblichkeitsgeschichte? Sind wir darum zwei Jahre lang zusammen unterwegs gewesen?“
„Das hängt auch miteinander zusammen. Ich bin zum Beispiel klinisch tot, wenn du zu weit weg bist.“
„Wow, okay... oh, sollte ich darum heute nacht nicht türmen? Damit du nicht stirbst?“
„Ich sterbe nicht im Sinne von richtig tot sein. Ich hab keinen Herzschlag mehr und man kann mich sogar umbringen.“ Du sollst nicht türmen, weil ich nicht will, dass du gehst. „Oh, das funktioniert auch andersherum.“
„Ah... und darum hast du mich gesucht, als wir zwischendurch getrennt waren? Als ich Sänger war?“ Colin drehte sich etwas auf dem Sofa und schaute über die Lehne. „Warte mal, warum sind wir dann nicht tot?“
„Und, weil ich irgendwann nicht mehr sauer war.“ Kei zielte sorgfältig und warf einen Pfeil in die Dartscheibe. „Weil wir, warum auch immer, nicht ganz draufgehen. Ich bin sowas ähnliches wie unsterblich, halbtot und umbringbar, wenn du nicht da bist.“
„Du warst sauer? Auf mich? Warum?“ Colin lehnte sich auf die Rückenlehne und stützte das Kinn auf die Fäuste. „Lagerkoller, weil wir wegen der Geschichte immer zusammenhocken mussten?“
„Nein. Ich war wegen was anderem sauer und ja, deinetwegen.“
Colin grinste. „Nein aber ja?“
„Nein, ich hatte keinen Lagerkoller, aber ja, ich war sauer. So.“
„Ooh, was hab‘ ich gemacht?“ Colin grinste immer noch.
„Es gab Streit und dann bin ich weitergefahren.“
„Weitergefahren?“
„Wir waren in Südamerika und hatten gerade in einem alten Haus Station gemacht. Ich wollte weiter. Du bist dann nach Bolivien gefahren.“
„Wussten wir nicht, dass wir davon sterben können?“
„Wir sterben da nicht dran. Wir sterben wahrscheinlich endgültig, wenn man uns dann umbringt. Klinisch tot und richtig tot sind unterschiedlich.“
„Aber das ist doch normal... also für Menschen zumindest.“ Colin kniete sich hin, weiter auf die Rückenlehne gestützt. „Cool, dass du auch Roxette magst.“ Er nickte zur Musikanlage, die gerade ‚Fading Like A Flower‘ abspielte.
„Ich kenn‘ das erst, seit ich deine Version mal gehört habe.“
„Oh, ich habe das gecovert? Cool.“ Colin lächelte breit.
„Das müsste auch bei den ganzen CDs von dir dabei sein.“
„Hatte ich viele?“ Sein begeistertes Grinsen fand kein Ende.
„Schau doch nach, da sind alle.“
Eilig kletterte Colin wieder zurück über die Lehne, um die CD-Sammlung zu inspizieren.
„Wow... Das ist so cool...“ Er nahm die zwei CDs heraus, die Studioalben waren, und reichte sie Kei. „Mach die an.“
Kei fand es amüsant, dass die Reaktionen nicht die gleichen waren wie das erste Mal als Colin Ruperts Sammlung entdeckt hatte. Kei nahm die CDs und legte sie in die Anlage.
„Oh, die zuerst!“ Er hielt ihm noch ein Live-Album hin. Kei wechselte die CDs und machte das Live-Album an. Derweil zog Colin aus allen Hüllen die Booklets heraus und sah sie sich fasziniert an. Kei betrachtete ihn dabei und bewarf weiter die Dartscheibe. Mit immer verlegenerem Grinsen hörte Colin sich selbst zu und fragte sich, ob es ihm leicht fallen würde, Spanisch zu lernen, wenn er das mal (wieder) versuchen sollte.
„Ein bisschen viel Gekreisch zwischendurch, meinst du nicht?“ sagte er zwischen Lied zwei und drei. Kei verneinte das.
„Das würde ich nicht Gekreisch kennen.“
„Das Publikum? Aber hallo.“
„Oh nein, das ist kein Gekreisch. Das sind Teenieweiber mit Herzanfall.“
Colin lachte.
„Konnte ich richtig Spanisch?“ fragte er.
„Du hast das sehr schnell gelernt.“
„Japanisch war am Anfang ziemlich schwer.“
„Englisch auch.“
Colin lachte. „Hast du ein bisschen von mir gelernt?“
„Viel sogar.“
„Alright? Care to prove it?“
„Nope.“
Und wieder lachte Colin. „Ooh, das ist gut.“ Gerade kam ein E-Geigensolo.
„Ja.“ Kei gingen die Dartpfeile aus. Auf der Scheibe war ein Stern aus Pfeilen zu sehen.
„... Warum ist da nichts Japanisches drauf? Ich sehe hier nur Spanisch und Englisch.“
„Ich glaube, weil niemand wissen sollte, dass du du bist.“
„Ach ja, wir wurden verfolgt.“ Sein Blick klebte weiter auf den CD-Zetteln. „Was meinte Dennis mit der unterbrochenen Bindung? Wir sind doch beide nicht... klinisch tot, oder?“
„Du nicht, ich nur, wenn ich mehr als zwei Meter von dir weg stehe.“ Er zeigte Colin die vom Pflaster befreite Wunde. „Siehst du das?“
Colin schaute über die Sofalehne. „Ja?“
„Eben. Das wäre eigentlich schon lange weg.“
„Warum ist es das nicht? Du stehst doch direkt neben mir.“
„Ja, und deshalb bin ich nicht eiskalt.“
„Oh, ich glaube eiskalt bist du trotzdem,“ sagte Colin trocken mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Aber ich habe einen Herzschlag, ich bin körperlich warm.“ Eiskalt... vielleicht. Wenn du nicht da bist.
„Okay, warum heilt sich dein Körper aber nicht, und meiner schon? Er hat was von einseitiger Verbindung gesagt?“ Colin kletterte wieder auf die Knie, um sich mit den Ellenbogen auf die Lehne zu stützen.
„Du kannst mich nicht sonderlich gut ausstehen. Ich dich schon.“
„Hä.“
Dennis hätte dir ein paar Details lassen sollen... dachte Kei bei sich.
„Also, ich hab‘ nichts gegen dich. Glaube ich.“ Colin zuckte mit den Schultern. Kei lächelte leicht. Das war ein Anfang.
„Oh, du wirst mich hassen. Manchmal. Manchmal auch das Gegenteil.“
Damit wusste Colin nichts anzufangen.
„Wir müssen uns also anfreunden, damit du dich wieder spontan regenerieren kannst?“ fragte er.
„Das wäre ein netter Nebeneffekt,“ sagte Kei. Colins Lächeln wurde etwas schmaler.
Der will sich mit mir anfreunden?
„Wir waren Freunde, ja?“
„Wir waren mehr als Freunde.“ Kei malträtierte wieder die Dartscheibe und Colin hörte mit seinem leichten Wippen auf.
„... und was war das?“ fragte er mit leichtem Stirnrunzeln und geneigtem Kopf.
„Beziehung.“
„Äh. Ja... schon klar. ... Aber was für eine?“
„‘Ne Mischung aus Liebe, Sex und Chaos.“
Colins Gesichtszüge entgleisten etwas. „... Hä?“ fragte er.
„Ist das so unvorstellbar?“
Colin merkte nicht, dass er rot geworden war. Nur, dass er verlegen lächelte. „Also... ich weiß nicht... irgendwie... schon... Wer von uns ist denn bitte schwul?“ fragte er intelligent.
„Wie viele gehören zu einer Beziehung?“
Colin sog Luft ein. „Also... du kannst mich doch auch nicht leiden!“ Nun wippte er wieder etwas vor und zurück, aber nur aus Verlegenheit, und räusperte sich. „Mir fehlen die letzten zwei Jahre, da kann ja viel passieren, glaube ich, oh scheiße, ich bin ja sechzehn... oder so... ähm... aber-“
„In den letzten Jahren ist sehr viel passiert, ja.“ Kei schmunzelte amüsiert. Und wieder stellte Colin das Wippen ein. Dafür fummelte er an einer Lederfalte an der Kante herum.
„Du verarschst mich auch nicht?“
„Wirklich nicht.“
„... Du hast echt mit mir geschlafen?“ Der eine verzogene Mundwinkel sah sehr skeptisch aus. Kei nickte.
„Ja.“
„Oh my god.“ Colin drehte sich um und rutschte auf die Sitzfläche. Kei musste grinsen und amüsierte sich nonverbal. Der verwirrte und schockierte Ausdruck blieb auf Colins ziemlich warmem Gesicht, so oft er sich auch mit gnadenvoll kühlen Händen darüberwischte. „War ich wenigstens gut?“
Kei grinste ein bisschen breiter. „Interessant, dass du mich das jetzt fragst.“
„Ich habe dich das nie gefragt?“ Colin wagte es, aufzublicken.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Na, dann kann es ja keine Beschwerden gegeben haben.“
Du hast dich auch nie beschwert. Kei grinste weiter. „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“
Plötzlich fiel Colin etwas ein. Er drehte sich schnell wieder um. „Wir haben doch keine komischen Rollenspiele gespielt, oder?!“ Es klang etwas drängend, als läge ihm diese Sache sehr am Herzen. „Hatte ich darum dieses Kleid an?!“
Kei lachte. „Das Kleid hatte ‘nen anderen Grund und ich bin nicht schuld daran.“
„Ein Theaterstück? Halloweenparty? Warum hast du dann bei mir im Bett gelegen?“
„Ich hab‘ nur auf dich aufgepasst. Der Grund war eine Gala.“
„Gala? Crossdressinggala?“
„‘Ne ganz normale Gala, auch wenn ich nicht weiß, wofür die eigentlich war.“
„Ach, die hier im Schloss? Warum hatte ich dann ein Kleid an?“ Plötzlich schmunzelte Colin und musste mithilfe eines Räusperns ein Lachen unterdrücken. „Hattest du ein Abendkleid an?“
„Nein, ich habe einen Frack gekriegt.“
Colins Grinsen verschwand und machte einem flachen Todesblick Platz.
„Rupert war schuld.“
„Der kriegt morgen was zu hören,“ versprach Colin grimmig.
„Alles klar.“

Es vergingen einige Tage, in denen Kei viel trainierte und Colins Fragen beantwortete, wenn dieser denn welche stellte. Nachts war der Vampir oft in der Stadt. Ob, um sich mit Konzerten abzulenken oder sich die Beine zu vertreten, wenn er was anderes sehen wollte als das Schloss. Musterhaft benahm er sich nicht. Das tat er nie. Doch er gab sich ernsthaft Mühe, unauffällig zu bleiben. Er wusste, dass Dennis und Delilah wussten - und wahrscheinlich auch Colin - dass er nachts abhaute. Solange ihn keiner daran hinderte, war ihm das recht. Wirklich verkleidet war er nicht, aber er trug meistens bunte Kontaktlinsen, wenn er das Schloss verließ, und das schien auszureichen. Er spielte viel auf seiner Gitarre.
Zu Colin suchte er in der Form Kontakt, dass er hin und wieder neben ihm auftauchte und einfach anfing, sich mit ihm zu unterhalten.

Am nächsten Freitag folgte Kei dem Kleineren leise, nachdem der vom Mittagessen kam, welchem beizuwohnen der Japaner vermied.
„Heute ist irgendwo in der Stadt ein Konzert, kommst du mit?“
Mit einem leisen Lächeln nahm Colin Keis Anwesenheit zur Kenntnis, ohne ihn anzusehen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass der Vampir hin und wieder plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen schien und machte sich nichts mehr daraus.
„Ich darf doch nicht raus,“ gab er zu Bedenken, während er das ausgelesene Buch ins Regal zurücksortierte. Rupert war nach dem Essen in seine Praxis in Lancaster zurückgefahren und Colin hatte sich angewöhnt, die ersten Nachmittagsstunden bei Wetter wie diesem - nass und kalt - in der Bibliothek zu verbringen.
„Die Tür ist nicht abgeschlossen,“ merkte Kei an. Mit einem kleinen schmunzelnden Seitenblick gab Colin ihm zu verstehen, dass das nicht das Problem war.
„Dass du nicht rausgehen sollst, ist kein vernünftiger Grund,“ fügte Kei schulterzuckend hinzu.
„Dass die Instanz mich finden und dann den ganzen Widerstand hier zerschlagen kann, ist aber einer.“ Er ging langsam das Regal ab und las die Buchrücken.
„Ja, aber einen Abend in einem kleinen Club rumzuhängen, so, dass man uns nicht wirklich erkennt, wird schon nicht schiefgehen.“
Colin musterte ihn von der Seite und musste dabei fast grinsen. Er verstand sich mittlerweile ganz gut mit dem merkwürdigen Idioten, konnte aber natürlich nicht umhin, seine Motive zu hinterfragen.
„Charles Dickens ist immer gut,“ sagte er und nahm sich ‚A Tale of Two Cities‘ aus dem Regal.
„Ich bin kein talentierter Überreder. Wenn du was anderes sehen willst als Schloss, dann komm mit. Wenn nicht, auch okay.“ Eigentlich nicht. Kei wollte, dass Colin mitkam. Colin zuckte mit den Schultern.
„Wenn du Dennis für mich fragst und er einverstanden ist, komme ich mit,“ sagte er. Natürlich wollte er etwas anderes als das Anwesen sehen. Aber er konnte Dennis nicht selbst fragen. Der Mann war ihm unheimlich.
„Okay.“ Kei kam gut mit Dennis zurecht. Ihn zu fragen, ob Colin ausgehen durfte war weitaus weniger schlimm, als ihn um Hilfe bitten zu müssen. Kei bat nicht gern um Hilfe. In den letzten Wochen kam das viel zu häufig vor.
„Ich habe aber kein Geld für Eintritt oder sowas,“ sagte Colin.
„Egal, ich hab‘ welches.“
„Wird das dann ein Date?“ fragte Colin mit einem breiten Grinsen.
„Ja, weil ich dich einlade,“ erwiderte Kei, ebenfalls grinsend.
„Dann mache ich mich ganz besonders hübsch,“ versprach Colin wimpernklimpernd und tänzelte mit einer ausladenden Geste an Kei vorbei in Richtung Tür. Der musste lachen.
„Lass dir Zeit, das fängt erst gegen 21 Uhr an.“

Kurz nach Colin verließ er den Raum, um Dennis zu finden. Er steckte den Kopf in dessen Zimmer und fragte: „Bist du hier?“
Tatsächlich war er das. Und wie er das war. Er war gerade im Begriff, seine Motorradmontur anzulegen und hatte es vor Keis unangemeldetem Eindringen gerade noch geschafft, den Reißverschluss der engen Lederhose zu schließen und hielt nun mit leicht verdutztem Blick ein T-shirt in der Hand. Schulterzuckend öffnete er die Arme um seine Präsenz zu bestätigen.
„Darf Colin heute mit mir weggehen?“ Kei blieb in der Tür stehen. Dennis hob eine Augenbraue.
„Nein,“ sagte er unbekümmert und zog sich das T-shirt über.
„Komm schon. Ist nur ein Konzert.“
„Oh, also nur so fünfzig bis zweihundert Leute um euch herum, die ihn erkennen könnten. Klar doch,“ sagte Dennis trocken und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen doch eh verkleidet raus, also erkennt uns keiner,“ versuchte Kei ruhig.
„Vorschlag,“ sagte Dennis, während er die Jacke zuzog und sich Kei zuwandte. „Ruperts Stunt bei der Gala scheint ja funktioniert zu haben. Verkleide ihn so, bis zur Unkenntlichkeit, und ich gebe euch Delilah mit.“
„Einverstanden.“ Delilah war Keis Lieblingsverwandtschaft, wenn man das so nennen konnte. Sie mitzunehmen empfand er nicht als Bestrafung.
Für Kei hieß Verkleiden meist nur, seine Augenfarbe und Tattoos verschwinden zu lassen an denen man ihn sonst zu einfach erkennen würde. Den Rest erledigte das Geistesbeeinflussungstalent, in dem Dennis ihn in letzter Zeit ausbildete. Die Tragweite von Dennis‘ telepathischer Fertigkeit wurde ihm so erst nach und nach bewusst, und er verstand nun, warum sie beide so einfach in den Keller mit den Grubenkämpfen spazieren konnten, aus dem sie Colin befreit hatten.
„Gut. Brauchst du Geld für Ivys Verkleidung?“ fragte Dennis, indem er sich ein paar Kleinigkeiten von der Kommode nahm und sie in diversen Taschen verstaute.
„Ja. Ich bin nicht reich.“ Den Plan Colin zu unterbreiten würde noch amüsant werden. Wie vor allem sollte er es anstellen, dass Colin bei der Auswahl der Kleidung, mit der Kei - wenn man von seinen Fantastereien mal absah - völlig überfordert war, mithelfen konnte? Während Dennis so auf ihn zuging, dass es offensichtlich wurde, dass er ihn von seiner Zimmertür verscheuchen wollte, patschte er ihm einen Hundertpfundschein auf die Hand und nahm schonmal die Türklinke in die Hand.
„Dann mach mal.“
„Viel Spaß noch,“ sagte Kei dankend nickend und verschwand wieder.

Mit dem Geld ging er zu Colin, an dessen Badezimmertür er klopfte.
„Gute Neuigkeiten! Du darfst mitkommen. Dennis hat aber Bedingungen aufgestellt.“
Colin öffnete die Tür und taperte daraufhin gleich wieder zu seiner Stereoanlage die Rupert ihm hier hineingestellt hatte, um den Ton leiser zu drehen.
„Was für Bedingungen?“ Er konnte seine leichte Aufregung nicht ganz verbergen. Er durfte raus! Zu einem Konzert!
„Erinnerst du dich an das Kleid?“
„... Ich soll mich als Mädchen verkleiden.“ Colin wusste nicht, ob er laut loslachen oder angewidert sein sollte. Beides sah man auf seinem Gesicht.
„Ja. Und wir sollen Delilah mitnehmen.“
„Oh. Als Leibwächter,“ riet Colin.
HAHAHAHAHAHA! tönte auf einmal Delilahs Geistesstimme in Keis Kopf.
Dennis ist schuld. „Wohl eher als Aufpasser.“
„Ist doch das gleiche. Aber wie, bitte, soll dieses Kleid der Unauffälligkeit dienen, frage ich mich?“ Colin hob die Augenbrauen und breitete fragend die Arme aus.
Das wird ein Spaß, sagte Delilah in Keis Kopf in einem gemeinen Ton, den Kei bereits aus diversen Prügelrunden mit ihr gut kannte.
„Die Instanz hat dich als männlich auf dem Fahndungsblatt. Auf der Gala warst du sehr überzeugend.“ Lass ihn Spaß haben, entgegnete Kei seiner Schwester in Gedanken. Er hielt den Geldschein in die Höhe. „Dennis hat uns Geld gegeben. Also für dein Zeug.“
„Damit ich nicht als Alice im Wunderland rumlaufen muss. Nett von ihm...“ Colin sah den Schein misstrauisch an.
„Du musst mir sagen, was du haben willst, dann geh ich einkaufen.“ Und errege jede Menge Aufmerksamkeit...
„Äh... was überzeugendes, nehme ich an...“ Hilfloses Schulterzucken. Hilfloserer Gesichtsausdruck.
Es klopfte an der Tür.
Kei drehte sich um. „Dein Outfit, deine Entscheidung.“
„Okay okay, warte! Komm rein,“ sagte er zur Tür, durch die nun Delilah spaziert kam. Ihr Gesicht war auf den ersten Blick stoisch wie immer, doch Kei konnte darauf den Ansatz eines schadenfrohen Schmunzelns erkennen, das Colin völlig entging.
„Ich habe keine Ahnung, ich trage immer nur sowas hier,“ sagte Colin eilig und gestikulierte an seinen Jeans und Sweatshirt herunter.
„Weiß ich. Delilah. Frauenkleidung für Colin. Was würde ihm stehen?“ Und hör auf zu grinsen!
Sie machte eine Show daraus - zumindest für ihre unterbetonten Verhältnisse - Colin von oben bis unten zu betrachten, und deutete dann mit an den Oberschenkeln ausgebreiteten Händen einen Rock an.
„Aber was für einen?“ Kei sah zwischen Colin und Delilah hin und her. Ein auf dem Bein entlanggezogener Finger sagte ‚kurz‘. Dann hob sie ein Bein an und klopfte sich auf einen Motorradstiefel.
„Das verstehe ich zwar nicht, aber sie scheint bescheid zu wissen,“ bestimmte Colin nervös.
Material oder Farbe? fragte Kei mit Blick auf Delilahs Stiefel.
Alles, entgegnete sie. Sie setzte ihren Fuß wieder auf und winkte Kei zu sich, mit einer Geste, die ‚Motorradfahren‘ ausdrückte.
Alles klar, das kriege ich hin. Was als Oberteil? Kei war eindeutig damit überfordert. Sie winkte ihn wieder zu sich, nachdrücklicher, und wandte sich zur Tür. Dann blickte sie zu Colin, tippte sich dabei auf das Handgelenk und hielt zwei Finger hoch. Der Junge nickte hilflos. Kei schaute sie fragend an.
Komm! sendete sie ungeduldig beim Hinausgehen. Kaufen.
Okay, okay. „Wir beeilen uns,“ versicherte er Colin beim Verschwinden.
„Okay...“ Colin winkte kurz langsam.

Keine zwei Stunden später waren sie zurück und Kei kam sich erschöpfter vor als nach jedem Training mit Yukio oder Delilah. Sie fanden Colin wieder in seinem Zimmer, wo er in weiser Voraussicht seine Ivyperücke hervorgekramt und vorsichtig gekämmt hatte. Er schien sich von seiner eigenen Überforderung erholt zu haben und begutachtete ihre Einkäufe mit weniger Skepsis und Schrecken als befürchtet. Zu dem - wirklich sehr kurzen - Faltenrock mit schwarzer Wollstrumpfhose musste er nicht einmal ein kompromittierendes neues Oberteil anziehen, sondern einfach eins seiner engeren Sweatshirts. Mit den Bikerstiefeln und dem Lederschmuck mit Ketten und Nieten konnte er sich auch abfinden. Kei war mit den Einkäufen ziemlich zufrieden, dafür, dass er noch nie Frauenklamotten gekauft hatte, und beobachtete Colin beim Auspacken der Einkäufe. Der sagte kein Wort und sah nur auf die Uhr, um abzuschätzen, wieviel Zeit noch blieb. Genug.
Ohne Delilahs und Keis Anwesenheit über einen neutralen Blick hinaus noch weiter zur Kenntnis zu nehmen, zog er sich das Sweatshirt aus. Kei grinste leicht und beobachtete Colin ungeniert weiter. Augenbrauen hochgezogen, drehte Delilah sich auf der Stelle um und verließ den Raum. Kei bemerkte sie verschwinden, aber das kümmerte ihn nicht wirklich.
Da war noch etwas in der Strumpfhosentüte. Colin wühlte darin, hielt inne und wurde rot. Mit einem verstohlenen, unlesbaren Blick nahm er sich die ganze Tüte, Strumpfhose und Rock und marschierte brüsk ins Badezimmer. Kei musste leicht lachen, weil er sich denken konnte, was Colin gerade gefunden hatte.
„Halt die Schnauze,“ kam gedämpft durch die Badezimmertür. Was man nicht alles für ein Konzert und eine Pause vom goldenen Käfig tat...