Thursday, August 23, 2012

Die Reinigung (Kurzgeschichte)


[Kritiken und Anmerkungen sind erwünscht. Viel Spaß beim Lesen.]


Die Wolken waren so dünn, dass es blau durch sie hindurchschimmerte. Die ganze Luft schien blau und grau zu sein. Gleichzeitig war es kalt und windig, der Boden war feucht, und es fielen gelegentlich einzelne, dicke Wassertropfen vom Himmel.
Bei diesem Wetter, in der Dämmerung, kam mir die Atemluft zwischen anderen Menschen, mit ihren verbrauchten Gerüchen und gewärmten Ausdünstungen so dreckig, stinkend und verseucht vor, dass ich am liebsten gekotzt hätte. Ich wollte den ganzen Schmutz loswerden, der mich durchsickerte, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Mit dem spärlichen Sauerstoff gelangten Kaffee-Atem, Räusperpartikel und Schweiß- und Schniefluft in meine Lunge und drangen in meinen Körper ein.
Ich wollte kotzen, weinen, spucken und bluten, um mich von diesem Dreck auszuleeren.
Mitten in dieser Unerträglichkeit wurden mir, als ich sie beim Aussteigen aus dem Regionalexpress wieder bewegen musste, die Knie weich. Meine Gliedmaßen fühlten sich wabbelig an, zitterten, wenn ich versuchte, sie zu kontrollieren, und machten mich zu einem Schwächling.
Vielleicht hatte ich versäumt, zu atmen, dachte ich, und überwand mich, diese ekelhaft stinkende, menschgewärmte Perversion von Luft einzusaugen. Aber alles, was mir das einbrachte, war ein Schwindelgefühl, das in meinem Hirn hin- und herzurollen begann. Beim Gehen, das heißt, beim Voreinandersetzen meiner zitternden Füße, wankte ich etwas und befürchtete, irgendetwas oder jemanden in der Fußgängerzone anzurempeln. Meine Muskeln waren so jämmerlich schlaff, dass ich mir noch nicht einmal auf den Lippen herumbeißen konnte.
In der Buchhandlung, in der es richtig anständig roch, sodass ich bedenkenlos durchatmete, wollte ich ein bestelltes und bereits bezahltes Lexikon für englische literarische Ausdrücke abholen. Weil ich das immer so machte, benutzte ich auch dieses Mal die Treppe, obwohl ich dafür offensichtlich zu lasch war.
An der Abholtheke gelang mir ein ganz guter Witz und die Angestellte ging darauf ein. Es war lustig und sehr angenehm, das mit so zerstreutem und wattigem Kopf zu machen, dass alles ganz von alleine ging. Ich dachte nicht darüber nach und war etwas von der Szene entrückt.

Ich hatte mir ein Spanischwörterbuch gekauft und es mir unter den Arm geklemmt. Danach sah ich mir noch ein paar der Auslagen an. Nicht zu fassen, dass in der Fremdsprachen- und Lehrbuchabteilung einer renommierten Buchhandlung wie dieser Esoterikschinken mit Titeln wie Die Medizin der Engel angepriesen wurden.
Hinter mir auf der Treppe fiel etwas zu Boden und ich drehte mich danach um.
Da lag eine junge Frau auf den Stufen, die gerade eben mit einem eigenartig benebelten Blick an mir vorbeigewandert war.
Ich lief zu ihr und räumte ihre Haare aus dem Weg, um ihr aufzuhelfen, aber ihre Augen waren geschlossen. Sie schien bewusstlos zu sein. Ich zog sie an ihren Schultern in eine sitzende Position, während eine Angestellte angelaufen kam und mich fragte, was passiert sei. Wir schafften es, die junge Frau zu wecken und waren ganz schön erleichtert, als sie die Augen öffnete und "Hö?" sagte.
Aber das war auch schon das einzige, was sie herausbekam, bevor sie wieder ohnmächtig wurde.
Die arme Verkäuferin war ganz aufgekratzt. Ich bat sie, Sanitäter oder einen Arzt aufzutreiben, während ich das Mädchen festhielt. Sie nickte und dampfte zügig ab, um zu telefonieren.

Mir war schwarz vor Augen geworden und ich war auf der Treppe eingeschlafen. So hatte es sich jedenfalls angefühlt. Gleichzeitig hatte ich aber einem fremden Mann ins Gesicht gesehen und mich gefragt, wieso der mich so ernst anstarrte, und dann noch so nah vor meinem Gesicht. Dann war ich wieder eingeschlafen und es war mir egal gewesen.

Ich lehnte das Mädchen an einen meiner Arme, um mit dem anderen ihre Sachen beiseite räumen zu können, die auf der Treppe herumlagen: ihren großen Rucksack, zwei Bücher und einen Kassenzettel.
Ein Kunde bot mir dabei Hilfe an, sie zu einem der Sessel zu tragen, die auf allen Stockwerken zwischen den Regalen standen. Das taten wir ächzend, und als die junge Verkäuferin zurückkam, brachte sie den Rucksack und die Bücher mit und legte sie neben den Sessel.

Als ich dann richtig aufwachte, sah ich zuallererst einen Schlauch vor meinem Gesicht, durch den sich eine Unmenge Blut bewegte. Er begann da, wo mein Solarplexus sein sollte. Aber als ich dorthin sah, zeichneten sich weder Brüste noch Rippen auf meinem Torso ab. Ob ich noch einen Bauchnabel hatte, konnte ich nicht sehen, hinter dem Blutschlauch verschwamm meine Sicht zu sehr. Davor erkannte ich deutlich meine Haut, die genauso gewöhnlich aussah wie immer, und den fingerdicken, durchsichtigen Blutschlauch, der von mir aus aufwärts führte. Ich wollte sehen, wohin, aber er verschwand nach oben hin in weiße Luft und zerfaserte in Undeutlichkeit.
Ich senkte den Blick wieder und betrachtete die Stelle, aus der mein Blut gezogen wurde. Die Haut schloss sich sauber um den Schlauch und machte einen vollkommen unverletzten Eindruck, so als sei der Schlauch eine Art Horn, oder ein Haar.
Und es tat auch kein bisschen weh. Genaugenommen fühlte ich gar nichts.

Das Mädchen blieb weggetreten, bis zwei Sanitäter kamen. Einer maß den Puls, was ihm schwerzufallen schien, denn er runzelte die Stirn und tastete mehrere Male auf dem Handgelenk der jungen Frau herum. Der andere leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihre Augen. Er machte das so zügig und routiniert, dass er nicht bemerkte, dass sie ihre Augen offen behielt.
Ich jedenfalls bekam einen Mordsschreck.
Der Herr, der mir beim Tragen behilflich gewesen war, entschuldigte sich, er habe keine Zeit mehr, und ging. Die Verkäuferin blieb neben mir stehen.
"Können Sie mich hören?" Das Mädchen nickte langsam.
Der andere Sanitäter hielt immer noch verzweifelt seine Finger auf ihr Handgelenk.
"Kannst du das mal bitte probieren, ich kann hier nichts fühlen."
Der erste nahm die andere Hand und blickte auf seine Uhr. Die Frau sah ihm seelenruhig zu, bis sie der andere Sanitäter ablenkte: "Wie heißen Sie?"
Sie sah ihn an und sagte nichts. Er wiederholte seine Frage. Aber die Frau sah nur zurück zu dem Mann, der immer noch versuchte, ihren Puls zu finden, und sah dann abwechselnd mich und die Verkäuferin an.
Mit einer heiseren, dunklen Stimme sagte sie: "Danke, Mann."
"Sagen Sie mir Ihren Namen."
Sie sah den Mann an.
"Nein," sagte sie schlicht.
Der andere gab es auf, ihren Herzschlag zu erfühlen, und sagte sichtlich genervt: "Bitte, wenn Sie nicht wollen. Haben Sie denn irgendwelche Schmerzen?"
"Nein," sagte sie wieder völlig ungerührt.
"Können Sie aufstehen?"
"Ja." Sie richtete sich im Sessel gerade auf und stand auf, ohne sich auf ihre Hände zu stützen. Ihre Arme hingen an den Seiten herunter.
"Ich danke Ihnen für Ihre Mühe." Dann ging sie einfach zwischen den beiden Sanitätern hindurch, an uns vorbei, und die Treppe hinunter.
"Ihre Sachen," sagte die Verkäuferin irritiert.
"Was soll denn das?" beschwerte sich einer der Männer.

Bei genauerem Hinsehen stellte ich ohne jede Überraschung fest, dass der Schlauch nicht nur Blut aus mir heraustransportierte. Es war mit hellen Klumpen und Fetzen und faserigen schwarzen Flecken versetzt. Sie bewegten sich mit dem Blut lautlos durch den Schlauch nach oben.
Aus irgendeinem Grund beruhigte mich das sehr. Ich fühlte mich unglaublich erleichtert.
Die Erleichterung wurde langsam zu einem freudigen Glücksgefühl, das meinen Körper, zumindest meinen Torso, den ich sehen konnte, zum Glühen brachte. Das warme Licht anzusehen, war sehr angenehm und beruhigend. Diese Prozedur fühlte sich an wie eine Heilung, als ob ein giftiges Geschwür, das meinem natürlichen Mechanismus den Weg versperrt hatte, behutsam entfernt würde.
Eine weiße Wand brannte sich schmerzhaft in meine Sicht. Sie rammte sich so plötzlich in meinen Schädel, dass ich von der Wucht rückwärts gedrückt und der Schlauch unter grauenhaften Schmerzen brutal aus mir herausgerissen wurde. Das Loch in mir kreischte auf und wand sich krampfhaft, bis ich plötzlich gar nichts mehr spürte und mich wieder im Buchgeschäft befand.
"Können Sie mich hören?"
Ich bestätigte.
"Kannst du das mal bitte probieren, ich kann hier nichts fühlen," sagte ein Mann, der mein rechtes Handgelenk befingerte. Daraufhin grabschte sich ein anderer Mann meine andere Hand und tat es ihm gleich.
Er hatte eine kleine Lampe in der Hand. Damit hatte er mich zurückgerissen. Seinetwegen war ich zurück in der verdorbenen wirklichen Welt, wieder der Verseuchung und Verschmutzung ausgeliefert.
Der andere Mann sagte etwas, das ich nicht richtig hörte. Als er die Frage wiederholte, die er mir offenbar gestellt hatte, verstand ich sie und befand sie für irrelevant.
Zwei weitere Personen waren in der Nähe. Eine von ihnen war der Mann, der mich zuvor angestarrt hatte. Ich erinnerte mich daran, dass er mich festgehalten und damit verhindert hatte, dass ich die Treppe hinunterfalle. Mein Rachen fühlte sich alt und verbraucht an, aber ich musste das sagen.
"Danke, Mann."
"Sagen Sie mir Ihren Namen." Der gab einfach keine Ruhe.
"Nein."
Endlich ließ der andere Mann davon ab, mich anzufassen. Aber dafür nahm er sich etwas anderes heraus:
"Bitte, wenn Sie nicht wollen. Haben Sie denn irgendwelche Schmerzen?"
"Nein," ich hatte keine. Mehr. Aber vielleicht hätte ihm das gefallen, er hatte sie mir schließlich zugefügt.
"Können Sie aufstehen?"
"Ja," ich war mir sicher, dass ich das konnte. Ich fühlte mich nicht mehr so lasch und kraftlos. Wenn ich damit Recht hatte, konnte ich eigentlich auch gleich gehen und dann versuchen, meine Ruhe zu haben, soweit das nach dieser Erfahrung eben möglich sein konnte.
Also bereitete ich der Begegnung noch einen höflichen Abschluss, der Vollständigkeit halber. Dann ging ich.
Auf dem Weg zum Ausgang fiel mir auf, dass ich den Geruch der Bücher und des Holzes nicht mehr als angenehm empfand. Allerdings auch nicht als unangenehm, ich nahm einfach nur nicht mehr als seine Existenz und Beschaffenheit wahr.
Die vielen Menschen störten mich auch nicht mehr. Sie waren da, sie produzierten Gerüche, viele Geräusche und Temperaturen, aber nichts davon störte mich, obwohl ich alles wahrnahm.
Es war, als ob ein Kanal zwischen meiner Wahrnehmung und meiner Reflexion versiegelt worden wäre und nichts mehr aus ihr in mein beurteilendes Denken gelangen könnte.

Die Endlagerung (Kurzgeschichte)


[Keine Warnungen :P
Wie immer: Kritik erwünscht. Viel Spaß beim Lesen.]


Um nicht als Versager zu gelten, tun die meisten Menschen viel für die Augen der Öffentlichkeit.
Wenn ich mir nicht ständig den Arsch aufreißen würde, hätte ich kein Ansehen und wahrscheinlich auch keine Freunde. Aber tue ich das nur für mein Ansehen und um Freunde zu haben? Mittlerweile kommt es mir so vor. Die Schule interessiert mich nicht mehr, und ich brauche die guten Noten auch nicht für mein Selbstwertgefühl. Ich mache mir noch nicht mal Gedanken über meine Zukunft, für die ich die Schule brauchen könnte. Stattdessen wurmt es mich, nicht als das Lexikon der Stufe zu gelten. Das hat doch was mit Selbstwertgefühl zu tun, oder?
Wir haben einen Sitzenbleiber in unserer Stufe. Ihm scheint es herzlich egal zu sein, was man von ihm hält. Er arbeitet im Unterricht zwar mit und macht Hausaufgaben, aber was dabei herauskommt, scheint ihn nicht zu interessieren. Das ist eigenartig. Er scheint noch nicht mal Freunde an dieser Schule zu haben. Unsere Lehrer und Mitschüler können ihn offensichtlich nicht leiden.
Aber ich mag seine Einstellung. Ich hätte gern eine ähnliche. Wenn mir mein Leben schon am Arsch vorbeigeht, dann will ich auch nicht so an meinem Image hängen und jedesmal Frust schieben müssen, wenn es ein wenig zu wackeln scheint.

Zuerst habe ich versucht, ihn zu imitieren. Ich bin mir nicht sicher, ob es geholfen hat, eine Fünf habe ich jetzt schonmal. Ein bisschen wehgetan hat sie schon. Es hat mich aber überhaupt nicht bedroht. Mein Image fühlte sich nicht gefährdet an. Es war sogar aufregend, und ich konnte nur noch Grinsen. Mein gleichgültiges Vorbild sah mich merkwürdig an, als ich ihn angrinste.
Aber als mich der gute Mann an der Tafel nach vorn bat, flatterte es doch ein wenig in meinem Magen.
„Warum arbeitest du nicht mehr mit?“ Das war ein sehr ernster Blick, und ich bekam sofort kalte Füße und zuckte nur mit den Schultern. Eine Rechtfertigung hatte ich mir noch nicht ausgedacht.
„Liegt es am Stoff? Ist es dir zu langweilig geworden, oder...“ Er beendete den Satz nicht, sondern wartete auf eine Antwort. Aber ich hatte leider keine, die gleichzeitig wahr gewesen wäre und ihm gereicht hätte.
„Weißt du, warum du die Fünf bekommen hast?“
Ich riss mich zusammen und schüttelte den Kopf. So laut, dass alle es hören konnten, sagte ich: „Nein, ich selbst hätte mir `ne Sechs gegeben.“
Mein Lehrer wirkte irgendwie ratlos. Er seufzte und sagte: „Dann komm` doch bitte heute nachmittag in meine Sprechstunde. Okay?“
Aus alter Gewohnheit nickte ich, anstatt gleichgültig mit den Schultern zu zucken.

Er ist der stellvertretende Direktor und hat sein eigenes Büro. Ich muss hier auf ihn warten. Als er zurückkommt, ist mein neues Vorbild bei ihm. Letzterer begrüßt mich und setzt sich an einen Tisch in einer Ecke, auf dem ein paar Papierstapel liegen. Er beginnt, die Zettel einzeln zu falten.
Und unser Lehrer fängt an, zu sprechen. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und ich davor, sodass ich dem Zettelfalter den Rücken zuwende und seine Anwesenheit bald vergessen habe.
„Sooo,“ sagt der stellvertretende Direktor, „jetzt sag mal, was los ist.“
„Na, nichts. Nichts, von dem ich wüsste.“
Er sieht mich ungläubig an, und jetzt fülle ich meine Rolle richtig aus. Es stört mich, hier zu sitzen und sein Gesichtsausdruck nervt. Der Ausdruck ‚Scheiß drauf’ fährt mir durch den Kopf.
„Na komm schon. Vielleicht kann ich helfen.“
Ich überlege, was ich antworten könnte, und beschränke mich darauf, aus ehrlicher Frustration in Ermangelung eines guten Einfalls genervt die Augen zu rollen und zur Seite zu blicken. Es passiert nichts weiter, man kann nur das Papierknicken hinter mir hören.
Der stellvertretende Direktor fängt jetzt an, zu reden. Dabei sehe ich aus dem Fenster hinter ihm in den Himmel. Man kann nicht besonders viel davon sehen, weil dieses Büro zum Innenhof weist. Es sind nur die schmutzigen Platten, ein paar Fenster und ein Stück Teerdach von der Schule sichtbar. Auf der obersten Kante hat bis eben eine Krähe gesessen. Hinter ihr sieht man ein blasses blaues Dreieck von Himmel, in das jetzt statt des Vogels ein dünner Wolkenstreifen hineinzieht. Durch das Fenster höre ich jetzt die Krähen, und leider macht mich das auch für andere Geräusche empfänglich. Was der stellvertretende Direktor erzählt, wandert in mein Bewusstsein. Seine Stimme stört.
„Ruhe,“ murmele ich. Aber der stellvertretende Direktor redet einfach weiter. Vielleicht habe ich das auch nur gedacht und nicht ausgesprochen. Also sage ich etwas lauter: „Ruhe...“
Doch der Mann redet einfach weiter. Er stellt mir Fragen, auf die ich nicht reagiere. Ich glaube, er verliert jetzt die Geduld. Ich sehe ihn an.
Sein Gesicht wirkt sehr verwirrt und ärgerlich. Aber er hat endlich aufgehört zu reden. Das Papierfalten hat auch aufgehört.
„Ruhe,“ stelle ich fest.
„Hast du mir nicht zugehört?“ sagt der Mann vor mir mit einer äußerst scharfen Stimme. Sie jagt mir leichte Furcht ein, aber das beeinträchtigt meine Antwort nicht. Ich schüttele wahrheitsgemäß den Kopf. Es gelingt mir, das langsam und bedächtig zu tun. Dabei starre ich auf sein gespaltenes Kinn. Er hat sehr große Poren. Der Anblick seiner glänzenden Haut widert mich an. Ich lenke mich damit ab, den funktionslosen Briefbeschwerer vom Schreibtisch zu nehmen und zwischen den Händen zu drehen. Ich wage noch einen Blick.
Jetzt verzieht sich sein Gesicht wieder zu einem verärgerten Ausdruck. Er steht auf, räuspert sich auf eine Art, als sei ihm etwas peinlich, und geht um den Schreibtisch herum. Genau vor mir setzt er sich auf die Tischplatte, sodass mir sein Reißverschluss in der Sicht hängt. Unwillkürlich lehne ich mich zurück.
Mit einem säuerlichen Blick beugt er sich zu mir vor. Er öffnet den Mund. Er ist zu nah, also kneife ich die Augen zusammen und schiebe meinen Stuhl mit den Füßen rückwärts. Es geht aber nur ein paar Millimeter, weil hier Teppich ausgelegt ist, also kann ich nicht verhindern, dass er mir heiß und feucht und bestimmt unangenehm riechend irgendetwas ins Gesicht sagt. Ich umklammere den Harzwürfel mit der einen Hand, und mit der anderen die Armlehne. Plötzlich spüre ich etwas beängstigend Warmes auf meiner Schulter und zucke zusammen.
Der Lehrer sagt meinen Namen.
Und irgendwie, ich weiß nicht, warum, bekomme ich dadurch eine Scheißangst und schreie mit immer noch zugekniffenen Augen.
„Aaaaaaaaaahh!!!!“ Und schlage gleichzeitig so schnell und so fest wie ich kann mit dem Briefbeschwerer auf seinen Kopf.
Noch während ich mir die Kehle wund brülle, höre ich es vor mir stöhnen und knirschen, und hinter mir fällt etwas um.
„Was zum-?!“
Mein Arm wird brutal zurückgerissen, woraufhin ich den klebrigen Würfel fallen lasse. Meine Hände zittern. Ich sehe den Mann vor mir an. Seine linke Schläfe ist ein matschiger roter Fleck, aus dem Blut in den Teppich sickert. Mein Mitschüler lässt meine Hand los und beugt sich über ihn. Der Mann öffnet den Mund und stöhnt leise. Ich glaube, ich gebe auch einen Laut von mir, als Dominik dem Kopf unseres Lehrers urplötzlich einen harten Tritt versetzt. Es knackt laut und danach ist alles ruhig. Ich habe aufgehört zu atmen. Dominik betrachtet seelenruhig und völlig ausdruckslos den kaputten, blutenden Schädel.
Ich sehe auf meine Hand. Es ist nicht so viel Blut an ihr, wie ich angenommen hatte.
„Wieso hast du ihn getreten?“ frage ich verblüfft. Dominik sieht mich entgeistert an.
„Damit er stirbt.“
„Achso.“ Ich bin nicht dazu in der Lage, geradeaus zu denken, und sehe nur zu, wie er seinen Stiefel am Jackett der Leiche abwischt.
„Warum du? Ich verstehe das nicht,“ fragt er ruhig.
Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und sehe wieder aus dem Fenster. Die schwarze Form der Krähe, die wieder vor dem hellblauen Himmel sitzt, wirkt beruhigend. Erleichtert seufze ich.
„Ich habe einfach keine Lust mehr,“ murmele ich.
„Scheiße, du tickst jetzt nicht nochmal aus und bringst mich auch noch um, oder?“ Er hört sich vorsichtig an. Das werte ich als erste Gefühlsregung seinerseits, die ich miterlebe. Ich ignoriere die aufsteigende Übelkeit und versuche, zu lächeln.
„Ich habe ihn nicht alleine umgebracht.“
„Das habe ich doch nur gemacht, damit – mann, weißt du, was passiert, wenn sie dich am Arsch kriegen?!“ Er scheint ziemlich nervös zu sein. Abgesehen von meiner leichten Übelkeit geht es mir jedoch blendend. Warum habe ich keine Angst? Vielleicht hilft das kleine Stück Himmel, zu dem ich immer wieder hinsehe.
„Scheiße... scheiße. Wir müssen ihn verschwinden lassen.“
Er fängt an, herumzugehen und gelegentlich zur Leiche hinunterzusehen, während ich dasitze und aus dem Fenster sehe. Es wäre schön, die Krähen wieder zu hören, also öffne ich das Fenster. Hier sind sie nicht abgeschlossen wie in den Klassenzimmern. Ich öffne es weit und genieße den Wind und die Geräusche, die er und die Krähen machen.
„Verdammt, verdammt,“ murmelt er vor sich hin.
„Dominik.“
„Was? Nenn mich Nick.“ Ich sehe ihn an, wie er mit einer Hand am Kinn neben dem Toten steht und zu überlegen scheint.
„Ich weiß, was wir mit ihm machen.“
„Was?“
Ich sehe mich um, um in diesem Büro geeignetes Material auszumachen. Unter dem Tisch, an dem Dominik vorhin saß, steht ein großer Pappkarton, der noch mit Stapeln ungefalteter Flugblätter gefüllt ist. Er ist groß genug, nehme ich an. Ich hocke mich davor und halte meine Hände an die Kanten.
„Wie soll er denn da reinpassen?“
Nick scheint nicht dumm zu sein.
„Wir falten ihn zusammen.“ Mit einem Blick auf den Tisch füge ich hinzu: „Du bist doch gut im Falten.“ Das scheint ihn etwas zu entspannen, denn er grinst fast. Dann verschränkt er die Arme und betrachtet die Leiche nachdenklich von oben. Während er hinter mir denkt, ziehe ich die Kiste hervor und packe das Papier ordentlich auf den Tisch.
„Okay,“ sagt er, und durchsucht die Jacketttaschen des Mannes.
„Was tust du da?“
„Ich suche nach den Schlüsseln. Es wäre nicht so prima, wenn jetzt jemand dazukommen würde.“ Er zieht einen dicken, klimpernden Schlüsselbund aus einer der Taschen und geht damit zur Tür. Beim Ausprobieren der Schlüssel beobachte ich sein Gesicht und seine Gestik. Er wirkt so lässig wie immer. Gleichzeitig stellen wir eine To-Do-Liste auf:
„Wir müssen den Teppich sauber bekommen.“
„Das sollte eine Weile dauern,“ stellt Nick fest.
„Der Harzwürfel muss abgewaschen werden.“
„Dein Ding,“ sagt Nick, „Du hast ihn benutzt.“
„Wir müssen die Kiste stabilisieren, damit er nicht unten rausfällt.“
„Und ich muss noch seine Brieftasche an mich nehmen. Da schau her, es ist der richtige.“
Dominik schließt ab und stopft den Schlüsselbund in seinen Rucksack, der neben dem Tisch mit den Flugblättern steht. Danach macht er sich sofort wieder daran, die Taschen zu durchsuchen und nimmt noch ein Portemonnaie, eine Brieftasche, einen Montblanc-Kuli und Kleingeld an sich. Währenddessen habe ich in einem Schrank eine Rolle Paketklebeband gefunden und wende es auf die Pappkiste an. Das dürfte sie für eine Weile am Zerreißen hindern.
„Okay, wie machen wir das jetzt?“
„Ich schätze, wir werden ihm was brechen müssen. Vielleicht ist ja die Leichenstarre schon eingetreten,“ sagt Nick achselzuckend.
Ich hebe probeweise eins der toten Beine hoch. Es ist etwas schwer, aber nicht steif.
Ihn in eine Fötusstellung zu falten, ist nicht sehr schwierig, nur klappt er immer wieder auseinander. Der Karton wölbt sich an den Stellen, an denen der Kopf und die Beine gegen die Wände drücken. Der Rest des Klebestreifens behebt das Problem.
In diesem Büro gibt es auch ein Waschbecken, aber leider keine Reinigungsmittel. Ich finde nur eine kleine Tube mit irgendwas gegen Flecken, die ich mit etwas Wasser auf dem dunklen Fleck auf dem Teppich ausleere. Dominik zieht unserem Lehrer die Socken aus und bearbeitet die Stelle damit, während ich den Harzwürfel am Waschbecken einseife und abspüle. Er wirft mir eine Socke zu, mit der ich den Würfel abtrocknen kann.
Wir betrachten den schaumigen, schwarzen Fleck auf dem Teppich.
„Das wird nichts.“
Plötzlich werde ich wieder nervös. Meine Stimme zittert und klingt viel zu hoch:
„Wir kippen einfach irgendwelche Flüssigkeiten dazu, Wasser und Saft, was wir so hier haben.“ Dominik sieht mich an, als hätte ich was Dummes gesagt und wartet.
„Was?“
„Verlier jetzt nicht die Nerven.“
„Nein.“
Aber ich merke, dass der Sauerstoff auf einmal weniger wird und schnappe nach Luft. Ich komme mir selber erbärmlich vor, aber ich mag Atmen nun mal. Keuchend setze ich mich auf den Boden und lege meine Stirn auf die Knie, aber auf einmal reißt es mich nach oben, genauer gesagt, Nick reißt mich am Hemd hoch und zerrt mich vor das offene Fenster.
„... Entschuldige.“
„Kein Ding. Wenigstens hast du nur hyperventiliert, und bist nicht noch auf mich losgegangen.“
Wir grinsen uns an. Draußen hocken jetzt zwei Krähen auf dem Dach.

Nachdem wir eine Flasche Orangensaft auf dem Fleck ausgeleert haben, sehen wir uns noch nach Dingen um, die wir gebrauchen könnten. Nick bleibt bei dem, was er bereits eingesteckt hat, und ich begnüge mich mit ein paar Papieren, die ich im Schreibtisch finde, ohne sie mir näher anzusehen. Man kann ja nie wissen.
Ich sehe mich im angrenzenden Lehrerzimmer und im Sekretariat um, um sicherzugehen, dass wir niemandem begegnen, wenn wir ihn raustragen.
„Auf dem Flur ist eine Putzfrau, aber die ist gleich fertig. Sonst ist keiner mehr da.“
„Hätte mich auch gewundert.“ Nick sieht auf seine Uhr, „wir werden alles hinter uns abschließen.“ Ich nicke. Sein geschäftsmäßiger Ton macht die Sache wieder ein bisschen unangenehm. Zum Glück haben wir das Fenster noch nicht geschlossen.
Die Krähen helfen mir mit ihrem Anblick dabei, nicht unsicher zu werden. Außerdem reden sie mir gut zu. Sie klingen sehr gelassen und scheinen mich anzusehen.
„Alles klar?“
„Warum hast du eigentlich nie Angst? Nicht, dass ich welche hätte.“
Nick grinst und stellt sich neben mich ans Fenster, das er achselzuckend schließt.
„Vor was sollte ich denn Angst haben?“
„Vor Konsequenzen.“
„Wieso? Wenn ich nur das tue, was ich vor mir selbst verantworten kann?“
„Was ist, wenn du mal einen Fehler machst, wenn du irgendwas bereust, das du zuerst für richtig gehalten hast?“
Immer noch lächelnd, schüttelt er langsam den Kopf. Er sieht nachdenklich aus dem Fenster.
„Ich denke nach, bevor ich handle. Und wenn ich etwas für richtig halte und es tue, denke ich nicht an die Konsequenzen von außen.“
„Wie kannst du das? Wie kannst du nicht daran denken?“ Wahrscheinlich klinge ich wieder hysterisch, denn Nick legt kurz eine Hand auf meine Schulter.
„Das ist keine bewusste Entscheidung. ... Ich denke eben einfach nicht daran.“
Er wirkt so ruhig und gelassen und so verdammt friedlich, dass ich fast wieder indirekt auf mich stolz bin, weil ich ihn mir als Vorbild ausgesucht habe.
Nach einer Weile sieht er mich an.
„Können wir gehen?“
Langsam und feierlich nicke ich.
Wir schultern unsere Rucksäcke und machen uns an die Kiste. Plötzlich grinst Nick blöde. Unwillkürlich grinse ich zurück.
„Du findest das klasse, was?“ Er schüttelt den Kopf und kichert.
„Heute ist der erste Tag, an dem ich mein Board nicht dabeihabe. Ausgerechnet. Jetzt könnten wir es wirklich gebrauchen.“

Die Schule ist so leer, dass wir uns beim Schleppen und Schieben gar keine Mühe mehr geben, leise zu sein. Nicht mal eine Putzfrau ist irgendwo zu sehen.
Wir machen exzessiven Gebrauch vom Schlüsselbund des stellvertretenden Direktors und schließen alle möglichen Türen ab, damit wir nicht überrascht werden können. Nach über einer halben Stunde haben wir es bis in den Keller geschafft.
„Und wo ist jetzt der Bunker?“ flüstert Nick. Er klingt lustlos und erschöpft.
„Ganz hinten.“
Hier unten ist es ziemlich dunkel, weil wir kein Licht anmachen wollten, aber trotzdem kann ich sehen, wie er genervt die Augen rollt. Beim Schieben knurrt er:
„Wozu hat diese Schule überhaupt einen Bunker?“ Es war wahrscheinlich bloß eine genervte rhetorische Frage, aber ich lasse mir die Gelegenheit, Klugscheißer zu spielen, nicht entgehen.
„Für Atomschläge. Die Schule wurde dreiundsiebzig gebaut.“
„Ach, darum ist sie so hässlich.“
Wir lachen so leise wie möglich, während er die Tür aufschließt. Die Tür ist schwer und ungeölt, aber mit etwas Anstrengung und lautem metallischem Kratzen kriegen wir sie fluchend aufgestemmt.
Der Gedanke an Ohrenzeugen, der mir flüchtig kommt, amüsiert mich eher, als mir Angst einzujagen. Nur mit Mühe kann ich meinen Enthusiasmus bremsen und mich davon abhalten, einen Witz darüber zu reißen. Das würde die adrenalingetränkte Fröhlichkeit sofort zerstören, die gerade zwischen uns herrscht, und die ist mir zu kostbar.
Wir brauchen eine ganze Stunde, um staubige Europaletten, kaputte Möbel und anderen Kram aus einer Ecke zu räumen, die Kiste hineinzuschieben, und sie mit allem zuzustellen.
Nach getaner Arbeit legt sich Nick demonstrativ auf den Boden.
„Ich brauch ne Kippe.“
Mit den Ärmeln wische ich mir das Gesicht ab. Ich fühle mich wie ein Bauarbeiter kurz vor Feierabend. Jedenfalls wie jemand, der einem körperlich anstrengenden, ehrlichen Beruf nachgeht und am Abend, wenn er nach Hause geht, das Gefühl hat, etwas geleistet zu haben.
Ich glaube nicht, dass es immer noch das Adrenalin ist, aber ich bin zufrieden und gut gelaunt.
„Komm. Raus hier.“ Ich halte ihm eine Hand hin und helfe ihm auf.

Ill Or Nothing [Prose-poetry]


I remember how I used to look up at skies red like bloody sick. So crimson, and glowing like a pest blain, it seemed to call out to me in a fever, waiting for death to cut open its skin and release the blood and pus to spill out over the whole world. When it looked like this it never rained. My eyes would droop and my mouth drop open, and smoke and sweaty steam would creep into my nostrils until their tang began to sicken me, and all I could smell was that rotten grease. The entire city was coated in it. The grime, and sick. And the sky even was sick, we’d damned the sky. I waited for it to die.

That was why I never smiled. The city was a stinking pit of darkness. The people there were pitted black strips of tar smeared with ash, and filled to the brim with despair, and fear. They lashed out at anything blacker than they, slunk into darker shadows when night fell, and devoured everything that smelled clean and innocent enough to not give them smallpox. Everyone, and I was no exception, lived in fear and futile anger. I was too calm, too reserved, to succumb to the fever. I only watched. And waited. For the sky to break open and drown us all in purulence and wound water, I used to think. But no, I didn’t really wait for anything. Now I think, would it have been better if it had stayed that way forever?

Smiling used to be impossible and now I can’t stop. The sky is dark blue and clear, with white stars brilliantly blinking down. And the occasional wisp of a cloud is ghosting swiftly across that vast noble space. My smile began today. Today began a year ago, or an aeon back in the past. My serene and stony face never moves. Now I know. I know I could not have known better. I exchanged fear of the future with the knowledge of nothing more to come.

Under the red sky time seemed tedious and endless, now it does not exist anymore. My eyes never close, my mouth never opens and my nose is a pit with ragged edges, and the long slender curved blade that I hold up by two handles throws a dull slash across the empty sky, forever.

Light (prose)


With a tinkle and a buzz the naked lightbulb is flickering to life. While it is warming up and gaining in golden brightness, the chamber is gradually becoming more real. The whitewash is still actually white, but it has black and brown spots where the walls, ceiling, and floor are slightly damaged. Small and large chunks chipped off of them over the decades make the time it has endured obvious. These dark holes relieve the light and drain the cell’s brilliance somehow, make it less present. It is easier to miss the fact that it has no windows.
“You’ve become old.”
My young friend’s voice sounds both awed and hateful as he mutters this into the room.
I eye the lightbulb and follow the cables across the ceiling and down the wall to the switch. I lean back against the wall and look at the boy’s back. He’s not moving.
Save for the lamp, and a shapeless bundle of reeking rags in the corner he’s facing, the cell is empty. And except for us both, of course. I knock on the heavy steel door.
He whips around and squints at it.
“This looks pretty solid. And it has a good lock. How did you escape?”
His eyes go out of focus and he frowns.
“I don’t remember.”
I nod slowly.
I hate doing this.
Old people are easy. Even children are easy. Accidents are okay, illnesses can be annoying, but stories like this get to me. I have to swallow a few times before I can ask him more. It is important to always appear calm to them.
“For how long have you been out now?”
“Um ... about ...” His eyes are darting everywhere and he starts chewing on his tongue. “Erm. ... I don’t remember, okay?!” He’s rubbing his head and staring into space with a slightly panicked expression.
“Please try to. It won’t let you go before you do.”
The hinges creak, and with a pained, polyphonic squeal, the heavy metal door swings shut, and the loud rusty bang makes him jump and look up in panic. His horror-stricken face then is drowned in black as the light is dimming and going out silently.
“Turn it back on! Turn on the light! Where’s the switch?! Where’s the switch, why isn’t it there, help me find it, the light!” He’s frantically groping and scratching at the walls in the dark. This is ugly business. With a hand on his shoulder, I turn him around and nudge him toward the corner with the silent heap of stinking cloth resting in it.
“There,” I say.
“What?” He approaches it blindly and uncertainly until his feet connect with it and it sags a little. It rustles softly, and with a crumble, his head lolls to one side, his large tongueless mouth with the dried puckered lips gaping up at me.
“How did you escape?”
He stares at me.
“You fell asleep.”