Tuesday, March 22, 2016

Kei + Colin LXXII: Der Empfang

TEIL IV
ENGLAND

Drei Tage später waren Kei und Colin in London Heathrow angekommen, wo der Vampir seinem Freund seine Hypnosefähigkeiten an den Flughafenbeamten demonstrierte und sie so ohne gültiges Visum problemlos einreisen konnten. Kei fragte sich, ob das bei allen Menschen funktionierte oder ob es bestimmte Bedingungen gab, die dazu führten, dass Menschen sich manipulieren ließen.
Vor dem Flughafen sah er sich prüfend um. „Was machen wir jetzt?“
Colin gähnte. Er war müde und hatte dunkle Augenringe in seinem blassen Gesicht. In Havanna war er zuletzt mit dem Gesicht über der eingeschalteten Grillplatte in der Küche ihrer Unterkunft aufgewacht. Seine schlafwandlerischen Selbstmordversuche waren manchmal richtig kreativ.
Kei hatte davon scheinbar nichts mitbekommen, aber Colin hatte seitdem auf Schlaf verzichtet. Seit dem Yakuza, den er gehäutet hatte – daran zu denken, jagte ihm nun einen übelkeiterregenden Schauer über den Rücken – hatte er kein frisches Fleisch mehr gegessen. Er wusste, dass er es brauchte, sein Körper gierte danach und keine andere Nahrung brachte ihm eine ähnliche Befriedigung, aber irgendwie wollte er nicht mehr. Er hatte Hunger. Jedes sichtbare Stück Haut hypnotisierte ihn geradezu und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber gleichzeitig bescherte ihm der bloße Gedanke daran, sich an dem weichen Fleisch darunter gütlich zu tun, deutliches Unbehagen. Als hätte er noch moralisches Empfinden übrig, oder es wiederentdeckt.
„Ist mir egal,“ murmelte er. „Schlafen wär gut.“ Mittlerweile war ihm auch fast egal, ob er sich währenddessen umbrachte. Vielleicht wäre das einfach eine Erlösung. Er zog den Riemen der Umhängetasche auf seiner Schulter hoch.
Schlafen hielt Kei in der Tat für eine sehr gute Idee. Kei brauchte fast keinen Schlaf, aber es war gut, einfach mal abzuschalten und einfach nichts zu tun.
„Das hast du dringend nötig. Und du solltest essen,“ sagte der Vampir ruhig und steckte seine Hände in die Jackentaschen. Erst einmal mussten sie einen Schlafplatz finden, aber das sollte sich in einer Stadt wie London als sehr einfach erweisen und nicht allzu lange dauern.
„Lass uns da lang gehen,“ schlug Kei vor, indem er in irgendeine Richtung zeigte und marschierte los. Hier am Flughafen herumzustehen war sicherlich die schlechteste Idee.
Colin ging ihm wie ein Gespenst hinterher. Ihm war zwar vage bewusst, dass er sich hier um Längen besser auskannte als der Japaner, aber darum konnte er sich in diesem Moment überhaupt nicht scheren. Er hatte genug damit zu tun, nicht im Gehen einzuschlafen und dann besinnungslos eine irreparable Dummheit anzustellen.
Als sie zu den Shuttlebussen kamen, traf ihn ein rauschender Windzug ins Gesicht. Er wankte etwas und blieb blinzelnd stehen. Nur für eine Sekunde. Jemand, der hinter ihm gegangen war, streifte seinen Oberarm und zog seinen kleinen Rollkoffer ratternd an ihm vorbei. Es war der braungebrannte Arm eines Urlaubsheimkehrers, der nackt und nur spärlich behaart aus einem weißen T-shirtärmel schaute. Mehr brauchte es nicht.
Mit einem leisen Ausruf, der fast wie ein verzweifeltes Ächzen klang, packte er den jungen Mann beim Arm und zog ihn mit einem Ruck zu sich. Vor Überraschung wehrte der sich auch gar nicht.
„Wha- oi!“
Kei drehte sich zu der sich ihm auf offener Straße darbietenden Szene um. „Mach das da wo dich keiner sieht, oder willst du gleich am ersten Tag gesucht werden?!“ sagte er und versetzte Colins zukünftiger Mahlzeit einen Schlag, der ihr das Bewusstsein nahm, damit sie nicht herumschrie. Colin beachtete ihn kaum und kniete sich nur eilig hin während der junge Mann zu Boden sank, um seine Zähne gierig in dessen Arm zu versenken, den er immer noch festhielt.
Irgendjemand rief etwas auf Arabisch, jemand anders auf Englisch, ein Funkgerät knackte und ein paar Autotüren knallten und Menschen kamen teils neugierig, teils alarmiert, herangelaufen.
Colin bemerkte sie nicht. Mit geschlossenen Augen grub er angestrengt seufzend sein dafür recht ungeeignetes Gebiss tief und hart in die warme Armbeuge. Allmählich fühlte er die Haut und das Fleisch darunter etwas nachgeben. Es machte ein liebliches, weiches Geräusch. Er spürte auch den Puls darin und roch ein kleines bisschen sauberen Schweiß.
„Shit! Nimm den mit, wir sollten sehr schnell verschwinden!“ Kei packte Colin und dessen Mahlzeit und warf sich beide über die Schulter. War er schon immer so leicht? Er machte einen Satz über die Menschen, die allmählich zu einer Traube wurden und lief mit seinem Rucksack, Colin, dessen Gepäck und dessen Mahlzeit über den Schultern zum nächsten Zaun.
Vor lauter Ungläubigkeit und schierer Verblüffung darüber, wie schnell und mit welcher Leichtigkeit dieser scheinbar schmächtige junge Mann sich zwei Menschen packte und mit ihnen auf dem Rücken über ihre Köpfe sprang, glotzten die Umstehenden nur und machten ihm teilweise sogar Platz. Der einzige, der unbeeindruckt blieb, war Colin selbst, der halbherzig strampelte, als Kei an seinem Oberarm zerrte, und in seinem Griff, selbst als er längst rannte, eine Hand und Schulter des Bewusstlosen griff und irgendwo dazwischen wild in ihn hineinnagte.
Kei ließ auch den Zaun hinter sich und rannte noch ein gutes Stück weiter. Als er sich in sicherer Entfernung zum Flughafen wähnte, ließ er Colin und dessen Mahlzeit unter einer Brücke wieder hinunter. Colin, der dem jungen Mann jetzt bereits mehrere tiefe, dunkle Bissspuren vom Bizeps bis zum Handgelenk zugefügt hatte, kroch eilig über ihn, bis er rittlings auf ihm hockte, und schaffte es nun, dessen Haut mit den Zähnen zu durchtrennen. Ein dickes Stück Haut mit etwas Muskel löste sich unter einem schmalen Blutschwall und einem nassen Reißgeräusch langsam aus dem Unterarm.
Kei ließ sich neben Colin auf den Boden fallen und nahm sich den anderen Arm des Mannes. Ein bisschen Blut konnte nicht schaden. Er trank eine große Portion davon und wischte sich danach den Mund an der Jacke des mittlerweile Toten ab. Colin kaute derweil mit leerem Blick auf einem weiteren Fetzen aus dem Arm herum. Weniger gierig, aber scheinbar mit großem Genuss. Seine Kapuzenjacke, das T-shirt und seine Hose waren genau wie seine Hände und Unterarme, und besonders sein Gesicht, blutgetränkt.
Kei betrachtete ihn äußerst fasziniert und dachte nicht daran, dass das ganze Blut auf Colin nur Aufmerksamkeit auf sie ziehen würde, wenn man sie entdeckte. Nach kurzer Zeit schluckte Colin geräuschvoll. Als der unzerkaubare Batzen weg war, hob er den aufgerissenen Arm etwas und vergrub sein Gesicht von der Nase bis zum Kinn in der tiefen Wunde. Es gurgelte gedämpft, während er nagte und saugte, aber es war nicht festzustellen, ob das Geräusch von dem glitschenden Blut in der Wunde herrührte oder aus Colins Kehle kam.
Nachdem Kei sich nach einigen Minuten vom Anblick seines Freundes gelöst hatte, begann er damit, sich umzusehen. Keine Menschenseele war zu sehen, aber das konnte sich bald ändern. Immerhin befanden sie sich in einer Millionenstadt. Unter der Brücke und aus nächster Entfernung schienen sie jedoch unbeobachtet. Nach seinem Sprung über den Zaun war ihnen niemand nachgelaufen. Wer wusste, wie lange die Leute brauchten, um Sicherheitskräfte auf zwei junge Männer und einen Toten aufmerksam zu machen. „Wir sollten bald verschwinden.“
Colin ignorierte ihn und aß unter leisem Grollen gemächlich weiter. Zwischendurch schloss er wie in höchster Konzentration die Augen und atmete tief durch.
„Beeil dich einfach,“ fügte Kei hinzu und sah sich weiter um. Er wollte Colin nicht sein Essen wegnehmen müssen. Wahrscheinlich würde das aber notwendig werden, denn der Junge zeigte kein Anzeichen dafür, dass er Kei überhaupt gehört hatte, geschweige denn seinen Rat befolgen würde, sondern blieb genüsslich darin vertieft, den Arm des Mannes, auf dem er saß, stückchenweise zu verzehren.
Der Vampir hörte entfernte Schritte auf sie zukommen, was ihn noch ein wenig ungeduldiger werden ließ. Er nahm den anderen Arm des Mannes und riss ihn aus der Leiche.
„Beweg dich! Bullen!“ rief er dem Kleineren zu und deutete in Richtung des Flughafengeländes. Beide Taschen schulternd nahm er Colins Handgelenk und zog ihn von der Leiche weg, deren noch fleischigen Arm er in der anderen Hand hielt. „Iss unterwegs weiter.“
Mit einem erbosten Knurren riss Colin seine Hand zurück, wurde aber dennoch auf die Beine gezogen und musste den Arm gehen lassen. Als er nicht von Keis Hand loskam, fixierte sein hohler Blick den noch intakten Arm in dessen anderer Hand und er griff danach. Er machte keine Anstalten, mit Kei mitzugehen.
„Reiß dich zusammen!“ Der Vampir trat Colin die Füße wieder weg und hob ihn hoch.
„Hrrmf!“ ließ Colin grimmig verlauten, während er fiel und wieder gepackt wurde.
Wenn er nicht laufen wollte, wurde er halt getragen. Kei hatte keine Lust auf Polizei oder andere unerwünschte Aufmerksamkeit, davon hatten sie dank Colins Fressattacke schon genug gehabt.
Halbherzig wehrte Colin sich, doch als er den Arm wieder zu fassen bekam, war es ihm egal, dass er halb in der Luft baumelte und vergrub nur die Zähne in der zerrissenen Bruchstelle der Schulter. Als Kei zu Laufen begann und er dabei ein bisschen wippte, musste er kurz lachen, wie ein Kind, das herumgeworfen wird.
Kei rannte durch kleine Seitenstraßen um nicht gesehen zu werden und ließ Colin nach einer guten Stunde wieder herunter. In einer offensichtlich nicht mehr genutzen Lagerhalle. Er war in ein Industriegebiet gelaufen, welches sich unweit des Flughafengeländes vor ihm aufgetan hatte. Der ideale Ort, um mit Leichenteilen und einem menschenfressenden Halbtoten für kurze Zeit unentdeckt zu bleiben.
Der Menschenfresser saß auf dem staubigen Betonboden. Er ließ nun seinen halb abgegessenen Arm fallen und leckte dafür das trocknende Blut von seinen Händen. Er sah zufrieden aus, wenn auch weiterhin in das vertieft, was er da gerade tat. Während er sich mit den Unterarmen das Blut von Wangen und Kinn wischte und dann wieder ableckte, legte er sich langsam auf die Seite.
Kei blieb wach und aufmerksam neben ihm sitzen und lauschte auf eventuelle Verfolger, die ihnen bis hierhin hinterhergelaufen sein mochten. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Sich seine Jacke ausziehend und selbige in den Rucksack stopfend sah Kei zu Colin.
Wenigstens ist er satt...
Das war er tatsächlich, und innerhalb von Sekunden, nachdem er sich hingelegt hatte, war Colin auch schon fest eingeschlafen. Das ging so schnell, dass ihm noch ein blutiger Zeigefingerknöchel zwischen den Lippen hing.
Dieses Bild war seltsam – skurril und idyllisch zugleich. Kei schaute kurz leicht verwirrt und wendete sich dann wieder dem Wachesitzen zu. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete rauchend darauf, dass sein Freund wieder aufwachen würde.
Die folgenden Stunden waren ruhig. Die Menschen schienen sie mit ihrer Gesellschaft zu verschonen. Draußen fuhr zwischendurch brummend ein Lastwagen vorbei und aus der Ferne konnte man ab und zu das Rauschen der Eisenbahn vernehmen. In der unbeleuchteten Halle blieb es still. Während der Nachmittag fortschritt, wurde das Licht, das durch die dreckigen Scheiben hoch in den Wänden drang, zwielichtig. Colin atmete ruhig und langsam, wenn er atmete.
Nach über zwei Stunden regte er sich. Schwerfällig zuckend setzte er sich etwas auf.
Kei saß gegen eine Wand gelehnt auf dem Boden und sah zu Colin. „Ausgeschlafen?“ fragte er ruhig.
Colin entgegnete nichts, doch seine Augen öffneten sich. Ohne Kei zu beachten, wandte er sich steif einer Wand zu, an der hoch oben ein Catwalk entlangführte. Ungelenkig stand er auf und stolperte langsam in diese Richtung. Kei sah ihm nach.
Wie ein rostiger Roboterzombie näherte Colin sich wankend der Aluminiumtreppe. Als er sie erreichte, konnte er nicht mehr sehen, was vor ihm lag. Seine Augen tränten zu stark. Aber das war auch egal, denn sein Körper machte sowieso wieder alles allein.
Kei ging ihm nach, als er sah, dass Colin den ganzen Weg wie ein betrunkener Untoter zurückgelegt hatte und stellte sich ihm in den Weg.
„Nicht schon wieder... Du sollst dich doch nicht umbringen.“
Will ich auch gar nicht.
Colins Körper hielt nicht an. Er hatte überhaupt keine Kontrolle mehr über ihn. In Südamerika hatte er ihn wenigstens mit großer Anstrengung ein bisschen bremsen können, aber das funktionierte nun nicht mehr. Er konnte nur weinen, aber dazu entschied er sich ja auch nicht mit Absicht. Ohne sein Zutun griffen seine Hände nach dem Geländer und zogen ihn daran hoch. Seine Füße stellten sich von selbst darauf. Was, gerade vorwärts gehen ist nicht, aber Balancieren soll okay sein?!
Kei zog ihn von dort wieder herunter, zerrte ihn von der Treppe und drückte ihn auf den Boden, wo er ihn festhielt. Schnaufend versuchte Colins Körper, wieder aufzustehen, aber der Vampir war viel zu stark für ihn. Doch Colin war verblüfft darüber, wie hartnäckig er war. Minutenlang stemmten sich seine Arme und Knie gegen den Betonboden, selbst als alles schmerzte und sich wie formloser Pudding anfühlte. Der hellgraue Boden unter seinem Gesicht wurde allmählich feucht. Keis Knie und Arme blieben einfach wie tonnenschwere Ambosse unbeweglich auf ihm liegen.
Schließlich ließ seine Kraft doch nach und Colins sich windende Muskeln beruhigten sich nach und nach.
Endlich. Au. Jetzt muss ich nur noch aufwachen.
Kaum ließ die unerwartet heftige Gegenwehr nach, ließ Kei den Kleineren los und erhob sich. „Dein komischer Suizidinstinkt ist echt hartnäckig.“
Das sagst du mir? Scherzkeks. Er blinzelte und kam sich nach einem blinden Gefühl des Fallens vage so vor, als hätte er die Macht über seinen Körper zurück. Er konnte sich trotzdem nicht bewegen. Keis Gewicht war weg, dafür fühlte er sich zu schwer und verbogen an, um aufzustehen.
„Au...“ brachte er nur leise heraus.
Kei hob Colin hoch und stellte ihn auf die Beine, hielt ihn aber fest, sodass er nicht umfiel.
„Dass dein Körper sich wehrt, ist neu.“
Gegen dich... Er lernt dazu,“ ächzte Colin leise. Er schaffte es, die Arme zu heben und sich ein bisschen an Keis Jacke festzuhalten. Dabei fiel ihm auf, wie blutverkrustet seine Hände und Unterarme waren, und als er an sich hinuntersah, wie dunkel durchtränkt sein ehemals graues T-shirt war.
„... Was ist los?“
„Erzähl mir nicht, dass du nicht mehr weißt, weshalb du so aussiehst." Der Vampir sah ihn an. Colin sah zurück. Er versuchte, sich zu erinnern. Bevor er hier aufgewacht war...
„... Der Mann von Heathrow?“ Nachdem er ihn gerochen hatte... gab es nichts mehr.
Er schnaubte verächtlich und ließ Keis Jacke los.
„Genau der. Die Reste seines Arms liegen dahinten noch. Du wolltest dich nicht ohne Mittagessen bewegen lassen,“ erklärte Kei gelassen. Colins Blick folgte seinem Kopfnicken dorthin, wo das abgenagte Glied in einem Matschfleck auf dem Boden an der Stelle lag, wo er aufgewacht war.
Er musste blinzeln, denn plötzlich schoss ihm wieder heißes Wasser in die Augen.
Er hatte am Flughafen in aller Öffentlichkeit einen Passanten angegriffen. Kei hatte ihn in besinnungslosem Zustand mit einem Arm des Mannes in diese unbenutzte Halle gebracht. Er fragte sich, wo der Rest sein mochte. Und er versuchte, ihn sich bildlich vorzustellen, mit starrem, fasziniertem und angeekeltem Blick auf den zerfetzten Arm geheftet.
„Seine Leiche müsste heute Abend in allen Nachrichten zu sehen sein. Die Sicherheitskräfte waren sicher kurz nach uns da.“ Kei dachte laut. Er ließ sich nichts davon anmerken, dass er es nicht gut fand, dass er Colins Babysitter spielen musste, während der besinnungslos gefressen hatte. Ein solcher Zustand war ihm nicht ganz fremd – nur konnte er sich an seine eigenen Ausfälle erinnern und er vermied es, sie herbeizuführen.
„Ist-“ Colin wurde etwas übel. Er wollte gar nicht wissen, wo der Mann lag und wie seine Leiche aussah. Trotzdem schlichen sich Bilder vor sein inneres Auge, aber sie hatten nichts mit Flugplätzen zu tun, sondern spielten sich in einem Wohnzimmer in Tokyo ab, und es gab da nicht nur eine Leiche... Hastig wischte Colin sich über die Augen und wandte sich ab.
Kei musterte ihn kurz und sagte dann anstatt ‚Ja, ist er, und ihm fehlen beide Arme, weil du verfressen warst‘ lieber gar nichts. Das Verhalten seines Freundes überforderte ihn ein wenig. Dass Colin wirklich menschliche Gefühlsregungen gezeigt hatte, war so lange her, dass es ihm fast fremd vorkam. Er musste sich daran erinnern, dass Colin ein Mensch war – untoter Menschenfresser hin oder her – ursprünglich war er ein Mensch gewesen. Vielleicht kam Menschlichkeit nach einigen Jahren des Totseins zurück. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Etwas hilflos enthedderte der Junge gerade seine Arme und die blutigen Kleidungsstücke, was sich am Ende auf alles bis auf Boxershorts, Socken und Schuhe belief. Letztere zog er dennoch eilig auf dem Boden sitzend aus, um mit spitzen, zitternden Fingern die Jeans loszuwerden. Dann wischte er sich wieder mit dem Unterarm über das Gesicht, um etwas besser sehen zu können, bevor er mit einem sauberen Teil eines Hosenbeins über seine Hände rubbelte. Kei betrachtete die Szene schweigend und leise schmunzelnd bis er sich irgendwann zu den Taschen bewegte.
Hast du saubere Kleidung dabei?“
Du musst duschen, um das Blut loszuwerden. Kei hatte in den Stunden, in denen er sich in der Halle umgesehen hatte, keine Wasserquelle oder irgendetwas anderes nützliches gesehen. Sie mussten hier weg.
In Colins Seesack befanden sich an Kleidungsstücken ein paar Teile Unterwäsche, vier T-shirts und die Cargoshorts, die er schon seit Brasilien besaß. Seine Bastsandalen und die Strickmütze waren ihm irgendwo abhanden gekommen.
Er antwortete jedoch nicht, obwohl er die Frage verstanden hatte. Er konnte bloß nicht den Mund bewegen, um Laute herauskommen zu lassen. Er erinnerte sich an das Gefühl von warmer Haut auf den Lippen und weichem Fleisch, das unter seinen Fingern und Zähnen nachgab. Und das Bild dazu war seine Mutter, wie sie mit Schnitten und Blutergüssen auf dem weißen Rücken unter ihrem zerrissenen Abendkleid mit aufgerissenen Augen und Mund vor ihm lag.
Er schniefte und blinzelte noch einen Schwall Tränen weg. Das Reiben brachte nicht viel, nur gerötete Haut. Er hörte auf.
Kei steckte die Zigarettenschachtel, die neben seinem Rucksack auf dem Boden gelegen hatte, wieder in seine Hosentasche und setzte sich. Schweigend sah er zu Colin und fragte sich, was gerade in dessen Kopf vor sich ging.
Er sah zu Kei auf, aber nur aus Reflex. Dass ihm plötzlich Skrupel gewachsen waren, würde der Vampir nicht verstehen. Also wandte Colin seinen Blick wieder hinunter auf seine Hände. Anstatt sie abzureiben, zog er das Hosenbein nun zu seinem Gesicht, um den Mund abzuwischen. Er wusste nicht, wie es aussah, aber wenn er diesen ganzen Arm gegessen hatte und seine Unterarme schon so blutverschmiert waren, konnte sein Gesicht nicht sauber sein. Es schien ein bisschen besser zu funktionieren, denn seine Wangen waren deutlich nasser als seine Hände, und der Jeansstoff bekam ein paar dunkle Flecken.
„Ich gehe dir Wasser zum Waschen organisieren,“ kommentierte Kei Colins Reinigungsversuch schließlich.
Danke, dachte Colin, ohne Kei anzusehen, und hielt wieder inne. Und es tut mir Leid, dass du dich immer um mich kümmern musst.

Kei ging nach draußen, ohne seine Jacke anzuziehen. Wasser. Wo kriege ich hier welches her? Er ging einfach los. Lief bald darauf durch unbekannte Straßen, bis er einen Supermarkt gefunden hatte. Dort kaufte er einige Flaschen Wasser und in einem angrenzenden Geschäft saubere Kleidung für Colin. In seinen blutigen Sachen konnte er nicht raus.
Nach etwas über einer Stunde kam Kei wieder zurück in die Lagerhalle geschlendert. „Wasser und saubere Kleider!“ verkündete er, als er die Tüten neben seinem Rucksack abstellte. Der Arm in seinem Matschfleck und ihre Taschen lagen alle noch da, wo sie vor einer Stunde gelegen hatten. Colins Kleider auch. Nur Colin nicht mehr. Der saß nun an eine Wand gelehnt und hob den Kopf von seinen Knien, als Kei hereinkam. Sein Gesicht war fast sauber, aber seine Augen und der Mund gerötet, und er blickte noch äußerst verloren drein. Kei stellte die Wasserflaschen vor ihn und ließ ein leichtes Lächeln vermuten.
„Hier.“ Er gab ihm noch ein Tuch - ein Handtuch hatte er nicht bekommen - das als Waschlappen dienen konnte.
„... Danke,“ sagte Colin leise und rührte sich nicht weiter, nachdem er das neue Halstuch auf seinem Knie abgelegt hatte.
„Was is?“ Kei sah ihn fragend an.
„Keine Ahnung.“ Ich fühl mich beschissen. I want to go home. I want my mum.
Er wischte sich kurz über das Gesicht und sah hilflos zu Kei auf. Kei setzte sich neben Colin und lehnte sich einfach gegen ihn. Er war mit Hilflosigkeit und Gefühlen überfordert. Vor allem, wenn er nicht wusste, was los war. Colin drehte sich etwas, legte die Arme um Kei und vergrub sein Gesicht in dessen T-shirt. Umständlich legte Kei einen Arm um ihn und drehte sich ein kleines bisschen. Leise weinte Colin in sein Hemd, knapp unterhalb der Schulter.
I've eaten PEOPLE. I killed them and ATE them. Not even eighteen and I've had at least seven cocks up my arse. Sein Griff in Keis Shirt zog sich auf seinem Rücken etwas fester zusammen. And why the fuck does it bother me NOW?
Kei hielt ihn fest und atmete ruhig. Er verstand nicht, weshalb Colin jetzt plötzlich davon entsetzt war, was er getan hatte. Immerhin war es nicht das erste Mal gewesen, dass er einen Menschen zerfetzt hatte.
Nach ein paar Minuten atmete Colin auf und ließ Kei los. Seinen Kopf behielt er aber, wo er war, an Kei gelehnt.
„Ich liebe dich,“ murmelte er.
Kei murmelte eine Erwiderung und steckte seine Hand locker in Colins Hosenbund.
„Es tut mir Leid,“ flüsterte Colin.
„Was meinst du?“ fragte der Vampir leise.
„Mich. Dass ich so bin.“ Colin hob den Kopf und sah Kei besorgt an.
Warum jetzt? „Ich kann damit leben.“ Dem Menschenfressen. Nicht den Nervenzusammenbrüchen... Mach das nicht.
„Gut, dass du auch wahnsinnig bist.“ Colin setzte sich etwas auf, aber blieb dicht bei Kei, damit dessen Hand nicht aus seinen Boxershorts rutschen musste, und legte einen Arm wieder um ihn.
Draußen fuhren weiter Lastwagen und Vans vorbei. Ein paar Fahrzeuge schienen in der Nähe anzuhalten.
„Wir könnten Gesellschaft bekommen,“ informierte Kei seinen Freund, bewegte sich aber nicht. „Hier sind Menschen in der Nähe.“
Colin ließ ihn los und horchte. Es waren keine Schritte oder Stimmen zu hören, auch keine zuklappenden Autotüren.
„Autos haben in der Nähe gehalten. Ich weiß nicht, ob die herwollen. Sie sind noch weit weg.“
„Nicht weit genug. Steht auf, wir müssen hier weg,“ sagte ein junger Asiate auf Japanisch von über ihren Köpfen. Er hockte auf dem Catwalkgitter entlang der hohen Wand unter einer rechteckigen Öffnung im Dach. Er trug enge, gepolsterte Lederkleidung und eine schwarze Kapuze.
Kei sah ihn an. „Wer bist du?“ Er mochte diesen Typen auf Anhieb nicht. Colin stand auf.
„Jemand, der euch nicht ans Leder will. Könnte mir vorstellen, dass ihr sowas nicht häufig trefft. Ihr habt jetzt die Wahl zwischen mir und den dutzend Vampiren, die euch einfangen und umbringen wollen. Eure Entscheidung, aber wenn die Tür da aufgeht, bin ich hier weg, mit oder ohne euch.“


Tuesday, March 8, 2016

Kei + Colin LXXI: Reise in die Vergangenheit


HAVANNA
 
Kei fuhr nicht gerade verkehrsregelgerecht durch die Straßen, aber das schien auf Kuba nicht wirklich erforderlich zu sein. Die Hauptstadt war größer als er erwartet hätte, voller Menschen und noch mehr Touristen.
„Ich denke nicht, dass man uns hier so schnell finden wird.“
Um uns ständig zu finden müssten die uns seit Japan gefolgt sein und das glaube ich nicht...
„Nicht, solange so viele Touristen hier sind,“ stimmte Akira hinter ihm zu. Er hatte in den letzten Tagen, in denen sie hier heraufgefahren waren, kontinuierlich bessere Laune bekommen. Sein einst durchgeblutetes T-shirt war ausgewaschen, der Tequila ausgetrunken und die Zigarillos aus Santiago aufgeraucht, und sie waren weder verfolgt noch abgefangen worden. Seine Erklärung für das Häuten des Yakuza hatte Kei nicht nur gereicht, sie hatte ihn scheinbar auch amüsiert.
Er hatte den Mann nämlich unkenntlicher machen wollen. Sein Oberkörper war voller bunter Tattoos gewesen, schön einzigartig und schön offensichtlich Yakuza, also hatte Akira Kei und sich einen Gefallen tun wollen, indem er die Hautfetzen, die er dem Japaner abgerissen hatte, in irgendeinen Mülleimer in einer anderen Straße gestopft hatte. Dass Kei dann einfach offen zugab, den Mann zu kennen und ihn gleich ohne Aufforderung mit der Yakuza in Verbindung brachte, machte all die Arbeit zunichte, aber wenigstens hatte Kei ihnen mit seinem mysteriösen Hypnosetalent doch noch den Arsch gerettet.
Es war dennoch idiotisch von Kei gewesen.
„Wir haben Sommer, die werden noch lange hier sein,“ versicherte der Vampir und sah sich um. Er kam sich vor wie auf einer Zeitreise. „Wir sind in der Vergangenheit gelandet.“
Auf Kuba schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Die lange Reise durch Südamerika hatte den Japaner daran gewöhnt, dass nicht alles so sehr nach dem 21. Jahrhundert aussehen konnte wie Tokyo, aber Kuba war wirklich eine Art Zeitblase. Sämtliche Fahrzeuge sahen alt, aber sehr gut instandgehalten aus, und standen und fuhren wie selbstverständlich durch die Straßen. Das Straßenbild in Santiago war ähnlich gewesen, doch hier gab es mehr davon, mehr Menschen auf den Straßen und mehr alte Gebäude. Es waren keine verglasten Hochhäuser aus Stahlbeton oder glattglänzende Designerhallen zu sehen, doch all diese altmodischen Häuser wirkten fast wie neu. Auch die Menschen wirkten wie aus einer anderen Zeit. Männer trugen Hüte und weite Hosen mit Hosenträgern und viele Frauen bunte Kleider mit ausgestellten Röcken. Allein die jüngeren Menschen, die Touristen und die Produkte in Schaufenstern und Ladenfronten ließen vermuten, dass das 20. Jahrhundert vorbei war.
Als sie in einer weniger belebten Straße gerade an einem Kaffeehaus oder etwas ähnlichem vorbeigefahren waren, auf dessen Veranda ein paar alte Männer Zigarren rauchten und mit Dominosteinen spielten, patschte Akira Kei auf die lederbekleidete Schulter, um ihm zu bedeuten, anzuhalten. Das tat er auch.
„Hm?“ Er fuhr an den Straßenrand und hielt das Motorrad an, das das einzige an ihnen war, das in diese Welt hineinzupassen schien.
„Hörst du das?“ Mit dem Daumen zeigte Akira zurück zu den Männern. Hinter ihnen drangen Gitarrenmusik und Gesang aus dem mit bunten Glühbirnen behängten Gebäude. „Da gibt‘s freie Zimmer, steht im Fenster.“
Das war Kei im Vorbeifahren entgangen. „Dann lass uns ein paar Tage hier bleiben. Ich will mir die Stadt ansehen.“
Begeistert lächelnd stieg Akira kurzerhand ab. Er selbst wollte auch mehr von Havanna sehen und mindestens die John-Lennon-Skulptur besuchen. Wo auch immer die war.
Er zog die Schlaufen seiner Taschen zurecht und ging über die Straße zu der Taverne. Die Männer lächelten und nickten ihm freundlich zu, als er vorbeiging und auf Spanisch grüßte.
Kei ging ihm hinterher und beließ es bei einem Nicken als Gruß als er an den Männern vorbeikam. Hinter Akira betrat er die Taverne.
„Wir können uns ganz touristisch einen Plan mit Sehenswürdigkeiten besorgen. Da stehen bestimmt einige interessante Orte drauf.“ Keis in Bolivien erstandenes Handy nutzte er hauptsächlich zum Fotos schießen, wenn sich sich das mal anbot – immerhin kamen Akira und er häufiger an Sehenswürdigkeiten vorbei. Kaum jemand hatte die Nummer, weil der Vampir nicht viel Wert darauf legte, gefunden zu werden.
Akira reagierte darauf, indem er an der schmalen Empfangstheke auf ein paar Plastikfächer zeigte, die neben ihnen an der Wand hingen. Darin standen Stapel von Postkarten, Stadtplänen und Veranstaltungsankündi-gungen.
Mit dem Geld des gehäuteten Yakuza bezahlte Akira 3000 Pesos für das Zimmer für vier Tage und 100 Pesos für einen Stadtplan. Die freundlich grinsende Dame im Blumenkleidchen erklärte ihnen auf Englisch, dass in dem Preis auch eine Mahlzeit pro Tag inbegriffen sei und dass alle drei Tage eine Reinemachfrau käme, wenn man wolle. Akira nickte sein Einverständnis und nahm den Schlüssel an sich, nachdem er Angels Unterschrift in das große Buch gesetzt hatte.
Kei ging mit ihm auf das leicht zu findende Zimmer und legte seinen Rucksack mitsamt Schwert aufs Bett. Wie schon in Santiago war der Raum nicht groß, und ein Bad beziehungsweise eine Dusche gab es diesmal nicht. Sie würden sich mit den anderen Gästen ein Bad teilen müssen, aber das war besser als gar kein Bad zu haben.
„Es wird bald dunkel. Wo gehen wir zuerst hin?“ fragte Kei beim Ausziehen der Lederjacke.
„Egal, einfach raus. Zigarren holen,“ bestimmte Akira, indem er seinen Rucksack auch aufs Bett warf. Er nahm seine Strickmütze ab, um sie auszuklopfen. Nach ein paar Stunden Motorradfahrt war sie immer voller Staub. „Und ich will mich in der Gegend umsehen.“
Kei zog sich ein sauberes Tanktop an und stopfte das dreckige Shirt in seinen Rucksack. Eine Pistole steckte er in seine Hose und schnürte seine Stiefel vernünftig. Beim Rausgehen nahm er seine Jacke wieder mit. „Hier ist sicher viel los.“

Beim Hinausgehen grüßte Akira wieder die dominospielenden Alten auf der Terrasse. Sie wiesen ihnen den Weg zu einem nahen Geschäft, das Lebensmittel, Tabakwaren und Getränke verkaufte.
Auf dem Weg in die ihnen bedeutete Richtung kamen sie in eine breitere, belebtere Straße. Kei sah sich beim Gehen um und merkte sich einige Eckpunkte zum Orientieren – nur für den Fall, dass er mal schnell abhauen musste. Vor der schmalen Wand zwischen zwei bunt beleuchteten Cafés saß ein dünner alter Mann mit hellgrauem Bart und kleinem Hut und spielte mit seinen knochigen braunen Fingern sehr versiert und schnell Gitarre.
„Das mache ich morgen auch,“ kündigte Akira mit einem Kopfnicken in seine Richtung an.
„Mach das, die Leute scheinen was für gute Musiker übrig zu haben,“ sagte Kei mit einem Lächeln in Richtung des gut gefüllten Hutes und der handvoll Menschen, die dem Gitarristen zuhörten. Der Vampir hielt nach dem Laden Ausschau, von dem die älteren Männer ihnen erzählt hatten.
Der stellte sich als rummelige Kammer voller Obstkisten heraus, zwischen denen eine Theke und ein hohes Regal aus Glas und dunklem Holz standen, in denen Zigarren, Tabak, Feuerzeuge, Pfeifen und Zubehör ausgestellt waren. In einer Ecke stand auch noch ein Kühlschrank mit Glastür, hinter der man Bier- und Brauseflaschen sehen konnte.
Im Vorbeischlendern, während er sich umsah, nahm sich Akira eine Limette aus einer Kiste. Er grüßte die junge Frau, die auf einem Barhocker hinter der Theke saß, und fragte sie etwas auf Spanisch.
„Si, claro! Tenemos todo,“ antwortete sie mit einem selbstzufriedenen Schmunzeln. In der Zeit, in der Akira durch die Regale gegangen war, hatte Kei sich drei Schachteln Zigaretten und eine Flasche Whisky gekauft. Am Ende hatten sie dazu noch Limetten, Eis, Cola und Rum, die Akira in seinem umgehängten Strickbeutel unterbrachte. Das Geld des Gehäuteten ging allmählich zur Neige. Er hatte viel Bargeld bei sich gehabt, doch nun war nur noch eine handvoll kleiner Scheine übrig.
Keis Geldbörse war etwas besser gefüllt als die seines Freundes, aber auch er besaß nicht mehr so viele Scheine wie am Anfang des Ausflugs nach Havanna. „Irgendeinen Wunsch, wohin wir als nächstes gehen?“ fragte er Akira beim Verlassen des kleinen Geschäfts.
„Ich will zu John Lennon. Er sitzt hier irgendwo auf einer Bank herum.“
„Ja?“ Kei stutzte ein wenig. „Weißt du, wo genau?“ Er steckte sich eine Zigarette an und das Päckchen wieder in die Hosentasche. Akira sah ihm zu und griff dann in genau diese Tasche. Dabei hielt er mit der anderen Hand Keis Hosenbund fest. Die Hosentasche war ziemlich eng.
„Keine Ahnung, ich muss jemanden fragen.“
Kei blieb stehen um Akira das Herummachen an seiner Hosentasche zu erleichtern. „Schaffst du‘s?“ kommentierte er grinsend. Akira schmunzelte ein bisschen und nahm zwei Zigaretten heraus, ohne die Schachtel aus der Tasche zu ziehen. Er klappte sie zu und schob sie wieder hinein. Eine Zigarette wanderte zu seinen Locken hinter das rechte Ohr und die andere zwischen seine Lippen, während er dichter an Kei herantrat. Der küsste Akira kurz und widmete sich der eigenen Kippe zwischen den Fingern seiner rechten Hand. Mit der anderen bugsierte er die Whiskyflasche in Akiras Stoffbeutel. Akira wartete, bis Kei an seiner Kippe zog, bevor er sich zielsicher dorthinbeugte, um seine an der Glut anzuzünden.
„Lass uns da lang gehen,“ schlug Kei in eine belebte Straße deutend vor. Akira folgte seinem Blick und nickte.

Als sie die Bank mit der Skulptur gefunden hatten, stand Akira minutenlang stumm davor und betrachtete sie mit einem milden Lächeln.
Kei tat es ihm gleich – nur, dass er sich auch die Menschen und Gebäude ansah, die um die Skulptur herum zu sehen waren. Neben seinem Freund stehend steckte er sich eine Zigarette an. Gedanklich schweifte er ab. Nach Japan, Brasilien... überall mal hin, wo sie bereits gewesen waren.
Ob die immer noch hinter uns her sind?
Kei wusste es nicht sicher, aber er war davon überzeugt, dass irgendwer, der mit seiner Familie oder deren ominösen Bekanntschaften und Geschäftspartnern zu tun hatte, hinter ihnen herrannte und versuchte, sie wieder einzusammeln. Kein vernünftiger Entführer, der seine Opfer braucht, lässt sie wieder gehen, nur weil sie sich als tödlicher entpuppen als erwartet.
Die Nacht war jung, die Luft mild und die Menschen um sie herum zahlreich. Es waren viele Touristen, oder Menschen die wie Touristen aussahen, unterwegs, und Akira war bei weitem nicht der einzige, der dem John Lennon auf der Bank Aufmerksamkeit schenkte. Viele Smartphones und auch richtige Kameras waren auf ihn gerichtet. Akira schien das egal zu sein, auch fielen ihm die vielen Asiaten nicht besonders auf.
Als zwei junge Chinesen oder Taiwaner nach ihrem Foto wieder von der Bank aufstanden, nahm Akira die Gelegenheit wahr und setzte sich neben die Musikerfigur.
„Wenn man sich seine Familie selbst aussuchen könnte, wäre der hier mein Vater,“ erzählte er Kei.
„Warum?“ entgegnete er und sah Akira fragend an, während er ein Bild von der Statue und ihm machte. Akira blieb sitzen.
„Weil für ihn Liebe und Freiheit das wichtigste waren. Und Gerechtigkeit. Er war für seine Familie da.“ Und weil er ein Musiker und Genie gewesen war, aber das verstand sich für Akira von selbst und bedurfte deshalb keiner gesonderten Erwähnung, fand er.
„Um ein guter Vater zu sein, müsste er diese Werte aber auch an seine Kinder weitergeben,“ gab Kei als Kommentar ab und sah sich die Statue genauer an.
„Das hätte er bestimmt gemacht, wenn er nicht ermordet worden wäre.“ Nun stand Akira auf und entfernte sich etwas von der Bank. „Das wird mir jetzt zu deprimierend.“
„Willst du weiter?“ fragte Kei.
Akira nickte und schlenderte langsam von der Bank weg.
Der Vampir ging ihm langsam nach, die Hände in den Jackentaschen. Aus einiger Entfernung war eine lautstarke Auseinandersetzung zu hören. Offenbar hatte jemand seine Rechnung nicht zahlen wollen. Akira ignorierte das lärmende Gespräch und drehte sich nur kurz zu Kei um. Er bot ihm eine Hand an, die Kei gern annahm.
„Lass uns da lang gehen, ich hab keine Lust auf Schlägereien.“
Und die damit verbundene Aufmerksamkeit... Er deutete in die von dem Gespräch aus entgegengesetzte Richtung. Akira nickte und ging mit.
Nur wenige Meter entfernt, hinter einer Straßenecke in einer nicht weniger belebten Straße, war der Streit nicht mehr zu hören. Dafür drangen aus den offenen Türen und Fenstern Musik und Gesang und die Menschen um sie herum versorgten sie ihrerseits mit einer Geräuschkulisse aus Gelächter und Gesprächsfetzen. Akira wandte sich plötzlich zu Kei und blieb stehen. Etwas verdutzt blieb der Vampir ebenfalls stehen und musterte Akira fragend. Der lächelte leise und küsste ihn. Kei erwiderte den Kuss ebenfalls lächelnd. Überall waren fröhliche Menschen unterwegs. Einige von ihnen pfiffen, als sie an Akira und Kei vorbeikamen.

Ein paar der Worte, die Akira und die Halbstarken vor ihnen wechselten, hatte Kei schon ein paarmal gehört. Die genaue Übersetzung spielte keine Rolle, weil ihre Bedeutung sehr offensichtlich war.
Auf ihrem Weg zurück zu ihrer Herberge waren ihnen vier oder mehr junge Männer gefolgt. Auch das war offensichtlich gewesen. Ohne darüber ein Wort zu verlieren, hatten sie einen kleinen Umweg in eine enge, unbeleuchtete Straße gemacht, in der keine Tür offenstand und es kaum Fenster zu geben schien. Außerdem endete sie in einem hohen Maschendrahtzaun. Akira hatte längst sein Klappmesser in der Hand, behielt es aber noch immer in der Hosentasche. Die vier, nein, fünf jungen Männer standen nebeneinander wenige Meter vor ihnen und versperrten ihnen effektiv den Weg hinaus aus dieser Sackgasse. Nun sah Akira Kei an und schmunzelte etwas.
„Sie finden uns eklig,“ informierte er ihn. „Und der Hässliche mit dem Kopftuch da ist traurig, dass sein Schwanz zu klein ist.“ Er zeigte auf besagten Bandanaträger und vollführte eine unmissverständliche Geste mit dem kleinen Finger. Kei begann zu lachen.
„Es kann doch nicht jeder Glück mit seinen Genen haben. Aber warum ist das unser Problem?“ fragte er Akira. Seine rechte Hand hatte er um das Messer in seiner Hosentasche geschlossen. Er verfolgte jede Bewegung der jungen Männer mit den Augen.
Akira zuckte mit den Schultern. Zu mehr kam er auch nicht, denn die Männer waren nun nah genug herangeschlendert. Einer mit kurzen Dreadlocks griff nach seiner Schulter und bekam sie zu fassen, während der Bandanaträger seinen anderen Oberarm zu packen versuchte. Das misslang nur deshalb, weil Akira bereits im Begriff war, sein Messer aus der Tasche zu ziehen und es ausklappte. Die drei übrigen stürzten sich auf Kei.
Der verpasste dem ersten einen saftigen Tritt in die Magengrube, sodass er wenige Meter weiter weg hart auf dem Boden aufkam. Dem zweiten rammte er das Messer in die rechte Schulter und verdrehte ihm dabei den Arm, während ihm Nummer drei auf den Rücken sprang.
Akiras Verteidigung verlief weniger flüssig. Er verfügte nicht über Keis Kraft und Geschwindigkeit, und so schaffte es Bandana mit Leichtigkeit, ihm das Messer zu entwenden, indem er und Dreadlock ihn gemeinsam gegen die Hausmauer stießen und dort bei den Schultern festnagelten. Bandana rammte auch noch sein Handgelenk gegen die Ziegel, sodass sich seine Hand von selbst öffnete und das Messer fallenließ, bevor es zu Einsatz gekommen war. Wenige Sekunden später landete Dreadlocks Faust in seinem Gesicht. Akira hörte das Knirschen unter seiner Haut und am Hinterkopf, bevor er den Schlag und den Aufprall spürte, und lange bevor sich der Schmerz wie eine kleine Sturzflut in seinem Kopf ausbreitete. Er grunzte sachte.
Kei bekam aus dem Augenwinkel mit, was die zwei Penner mit seinem Freund machten. Er drehte sich mit seinem blinden Passagier, ließ sich fallen und rammte ihn beim Landen in den Boden. Danach nahm er sich der beiden an, die Akira in der Mangel hatten. Dreadlock bekam ein Messer in den Rücken und Bandanas Gesicht wurde von Keis Schlag mit dem Handballen beinahe zertrümmert.
„Do not do this again.“ Er hielt Akira fest, sodass der nicht zusammensackte. „Lebst du noch?“
„Hng... so weit... kann ich... nicht behaupten...“ Akiras Kopf rollte nach vorn und zuckte sofort wieder zurück, als seine gebrochene Nase Keis Schulter berührte. Dabei rutschte seine Strickmütze herunter.
„Aber auch nur das...“ Kei hob ihn hoch und ging zurück in Richtung Unterkunft. Die Mütze fing er auf, bevor sie auf dem Boden landete. Dort lagen nur ihre fünf Angreifer und was auch immer gerade von der Wand abbröckelte.

Akiras Beine bewegten sich unsicher, aber selbstständig genug, dass er nicht richtig getragen werden musste. Nur sehen konnte er nicht gut genug, um allein zu wanken. Mit der Hand, die nicht Kei festhielt, fing er das Blut aus seiner Nase auf. Dass er am Hinterkopf auch blutete, bemerkte er nicht.
In ihrem Zimmer sank er dankbar auf das bunt bezogene Bett und schloss die Augen.
Kei verbrachte die meiste Zeit der Nacht damit, neben Akira zu sitzen und aufzupassen, dass er nicht draufging. Er ließ ihn nur kurz allein um sich einen Mitternachtssnack zu besorgen.

Kurz nach Sonnenaufgang wachte Akira ächzend auf. Die Schmerzen waren weg und die Verletzungen verheilt, aber sein Kopf fühlte sich wattig an. Langsam rieb er sich das Gesicht.
Kei saß auf dem Boden neben dem Bett.
„Geht‘s dir besser?“
Akira grunzte. Er lag zusammengerollt auf der Seite. Sein Blick, als er die Augen öffnete und glücklicherweise wieder klar sehen konnte, fiel auf Kei.
„Ja. Danke. Bleib mein Leibwächter,“ brummte Akira schmunzelnd und setzte sich auf. Vorsichtiger als notwendig.
Der Vampir blieb sitzen. „Muss ich, wir scheinen prügelnde Wichser magisch anzuziehen,“ erwiderte er schmunzelnd.
„Wie gesagt, ich bin das Hirn und du die Muskeln, hehe. Bah, ich muss mich mal waschen.“ Er kratzte am getrockneten Blut auf seinem Kinn.
„Ja,“ stimmte Kei zu. „Du siehst grausam aus.“
Nach einer etwas längeren Pause sagte er: „Ich will nach Europa.“
Der im Aufstehen begriffene Akira sah ihn leicht verblüfft an. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Gerne, ich auch. Aber wie? Hier können wir uns durch die Grenzen schmuggeln, aber glaubst du, dass dein krasses Hypnosetalent an internationalen Flughäfen funktioniert?“ Er sah sich um, ehe ihm langsam wieder ins Bewusstsein sickerte, dass sie hier keine Waschmöglichkeit hatten, sondern ein Gemeinschaftsbadezimmer benutzen mussten. Immerhin lagen auf der Kommode frische Handtücher bereit. Davon nahm er sich eins.
„Entweder versuchen wir‘s einfach, oder wir schlachten uns durch den Flughafen, oder wir besorgen uns Visa. Wir müssen nur in den Flieger kommen und dann irgendwie an den Kontrollen vorbei. Das muss machbar sein... und wenn sie uns einbuchten, brechen wir halt aus...“ Kei wusste, dass er selbst sehr schwer einzubuchten war, was Akira für interessante Fähigkeiten bekommen hatte – außer sich aus Versehen umbringen zu wollen – und ob er überhaupt welche dazugewonnen hatte, wusste er nicht.
Im Augenblick schmunzelte der Junge bloß und ging zur Tür hinaus, um das Badezimmer zu suchen.
Mit Keis Einfall war er einverstanden. Wenn das Schmuggeln nicht funktionieren und Gewalt oder Ausbruch notwendig werden sollten, würde Kei sich schon darum kümmern. Er hatte Erfahrung, die körperlichen Fähigkeiten und besaß die nötige Respektlosigkeit, um sie beide ohne Rücksicht auf Kollateralschäden überall freizukämpfen.
Das Foto von Kei als blutverschmiertem Kind, das er vor ein paar Tagen in Santiago verbrannt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Er schauderte. Und das lag nicht an dem kühlen Duschwasser.
Dieses Badezimmer war geräumig und bot neben Seifen und verschiedenen Shampoos freie Regalplätze für die Gäste. Davon abgesehen sah es genau wie ein Privatbadezimmer aus.
Nach höchstens einer Viertelstunde war Akira mit Abtrocknen fertig und zog sich wieder an. Er spülte die Dusche ein bisschen aus und hängte sich das feuchte Handtuch über die Schulter, bevor er zum Zimmer zurückging.
In der Zeit in der Akira Duschen gewesen war, hatte Kei den Inhalt seines Rucksacks und die meisten der Kleider, die er getragen hatte, auf dem Bett ausgebreitet. Vier T-shirts und zwei schwarze Löcherjeans lagen zusammen mit einigen Boxershorts und Socken auf einem Haufen. Das Schwert, zwei Pistolen und sieben Messer verschiedener Größe lagen zusammen mit Keis Lederjacke, seinen Armbändern und Halsketten, Kippen und Geldbeutel auf einem anderen. Er trug ein frisches Tanktop und Jeans als Akira wieder in das Zimmer kam.
„Inventur?“ Akira hängte das Handtuch an einen Haken, der an der Tür klebte. Er selbst besaß ungefähr genauso viele Kleider, eine Geige und als einzige Waffe ein Klappmesser, das er fast immer in einer Hosentasche bei sich trug. Er nahm sich seine bunte Strickmütze von der Kommode und klopfte sie aus Gewohnheit aus, während er sich zum Zusehen auf eine freie Ecke des Bettes setzte. Der Anblick der Waffen war ihm ungewohnt unheimlich.
„Nein, aber die Sachen müssen mal gewaschen werden,“ entgegnete der Vampir. „Das können wir gut machen, bevor wir aufbrechen.“
Akira nickte. „Meine auch. Ich frage gleich nach einem Waschsalon. Dafür reicht unsere Kohle bestimmt noch. Wie spät ist es überhaupt?“ Er blinzelte aus dem Fenster in den Morgenhimmel.
Irgendetwas war merkwürdig. Sein abwesender Blick blieb auf dem Blumenmuster der Gardine hängen.
„Es ist noch früh. Sechs Uhr vielleicht.“ Kei packte Waffen und Zigaretten wieder zusammen und stopfte die Dreckwäsche in einen Stoffbeutel, den er irgendwo gefunden hatte, nachdem er Akira zurückgebracht und selbst geduscht hatte.
Gedankenverloren sah Akira ihm dabei zu. Er legte sich neben den Waffenhaufen und befingerte fasziniert eine der Pistolen.
„Lass uns losgehen,“ sagte Kei, der die Waffen wieder zusammenpackte und nacheinander in den Rucksack steckte. Die silberne Pistole ließ er Akira zum Befummeln. Er schulterte die Wäschetasche.

In der Tat gab es in nicht allzu großer Entfernung einen Waschsalon. Akira hatte unterwegs noch seine eigene Wäsche in Keis Tasche gestopft und seine Geige mitgenommen. Vor dem Salon wurden gerade, als sie ankamen, Klappstühle aufgestellt und eine alte Frau mit Blumenkittel saß bereits neben der Tür. Sie lächelte und nickte, als Akira sie auf Spanisch fragte, ob er ein bisschen spielen dürfe.
Währenddessen verfrachtete Kei die Wäsche in zwei Maschinen, ein bisschen Trennen musste sein, dafür reichte das Geld allemal und der Vampir mochte seine Kleidung sauber. Als er damit fertig war, kam er zu Akira zurück.
„Bleiben wir hier, bis das fertig ist?“
Akira saß auf einem der Klappstühle und war mit Stimmen beschäftigt. Er sah zu Kei auf und nickte.
„Ich bleibe hier.“ Er musste unbedingt spielen. Er hatte das Gefühl, dass er die Orientierung in der Realität verlieren würde, wenn er sich jetzt nicht auf die eine Sache konzentrierte, die von seiner Identität übriggeblieben war. Aber warum ihm das erst jetzt, zwei Jahre nachdem dieser ganze Wahnsinn in Japan seinen Anfang genommen hatte, passierte, konnte er sich nicht vorstellen. Er riss ein loses Haar aus dem Bogen und stimmte dann weiter.
„Gut. Ich komme in einer Stunde wieder hierhin.“ Kei schloss seine Jacke ganz und wandte sich zum Gehen. Akira blickte wieder auf. Plötzlich tat ihm irgendetwas Leid. Er wusste nicht, was.
„Ich l- bis gleich,“ sagte er leise und widmete sich wieder seinem Instrument.
„Bis gleich.“ Der Vampir zog sich die Kapuze über und verschwand in einer kleinen Seitengasse, durch die er schlenderte. Es war eine Sackgasse. Mit etwas Anlauf sprang er an das obere Ende der Mauer, die das Straßenende markierte, und schwang sich darüber. Auf der anderen Seite waren kaum Leute unterwegs, weshalb der Japaner trotz der sportlichen Einlage unbemerkt blieb.
Eine Frau Mitte Zwanzig schaute sich auf der Straße nach Leuten um. Sie hatte kaum etwas an und schien nach jemandem zu suchen.
„Who are you looking for?“ fragte Kei ruhig.
Lange würde sie nicht mehr suchen. Da konnte er auch mal so tun, als wäre er hilfsbereit.

Vor dem Waschsalon unterhielt Akira unterdessen die Betreiberin, die Passanten und die wenigen Kunden, die so früh schon unterwegs waren, mit ein paar leichten Melodien. Für sich selbst wollte er nur hirnlos dahinimprovisieren, und so achtete er nicht auf seine Umgebung und gab Versatzstücke aus Volks- und Kinderliedern mit einigen improvisierten Takten zum Besten.

Währenddessen erleichterte Kei die Frau um Blut und Geld. Sie hatte erstaunlich viel Bares dabei.
Hat wohl die ganze Nacht gearbeitet... Er schlenderte den Weg langsam wieder zurück, nachdem er die Leiche in eine Gasse gelegt hatte – vorsichtig natürlich, ohne Spuren zu hinterlassen.
Abgesehen von der Leiche selbst.

Akira hatte ein kleines Publikum angezogen. Vier Menschen, die scheinbar keine Kunden des Waschsalons waren, hatten sich zu ihm und der lächelnden Betreiberin gesellt. Drei hielten Kaffeetassen in den Händen und unterhielten sich ruhig.
Kei hatte die Hände in den Taschen der offenen Jacke. Da er nur ein Tanktop trug, konnte man erahnen, dass sein großes Tattoo noch ein wenig größer und bunter geworden war. Vom Geishabild ausgehend erstreckte sich seit Brasilien ein dekorativ verzerrter grau-schwarzer Fratzenschädel über seinen rechten Oberarm.
„Hey,“ grüßte er.
Die Herumsitzenden grüßten teilweise zurück. Die lächelnde Dame nickte freundlich. Akira hatte ihn wahrgenommen, beendete aber noch seine Melodie in aller Ruhe, ehe er die Violine sinken ließ.
„Ich glaube, irgendein Zuhälter bekommt heute kein Geld,“ informierte er Akira. Er ließ sich neben dem Kleineren auf einen freien Stuhl fallen. Akira bedachte Kei von oben bis unten mit einem prüfenden Blick.
„Kein großer Unterschied,“ sagte er schmunzeld.
„Wie meinen?“ entgegnete Kei mit fragendem Blick.
„Wärst du etwas älter und bulliger, könnte man dich auch sofort für einen Zuhälter halten,“ erläuterte Akira gelassen. Er kam sich vor, als bewege er sich gerade auf extrem dünnes Eis, mit jedem geäußerten Wort.
Aber das machte ihm nichts aus. Wenn Kei sich angegriffen fühlen sollte, würde er das schon zuverlässig an Akira auslassen. Ihm wurde nun bewusst, dass er sich wieder ein bisschen vor Kei fürchtete.
„Ich komm‘ leichter an Geld. Ich muss mich nicht mit Drecksarbeit rumschlagen,“ entgegnete der gelassen.
„Genau das machen Pimps. Die Nutten machen die Drecksarbeit und die Zuhälter kommen leicht an das Geld.“ Akira klang gutgelaunt.
„Ich zwinge sie nicht, die Drecksarbeit zu machen. Ich nehme nur das Geld. Das ist moralisch vertretbarer.“ Kei hatte ein Problem mit Sexarbeit. Den Arbeitern ihr Geld zu stehlen oder sie umzubringen – oder beides – war seiner Meinung nach anständiger.
Akiras Lächeln wurde noch dünner. Ohne sich bewusst dazu zu entschließen, stand er halb auf und beugte sich zu Kei, um ihn zu küssen. Der erwiderte den Kuss, hielt ihn aber nicht allzu lange aufrecht.
„Hast du ein Wunschziel, wo es in Europa als erstes hingehen soll?“
Nach Hause. „Großbritannien wäre nett,“ schlug Akira zaghaft vor. Er versuchte, die Blicke und Kommentare der Umsitzenden zu ignorieren.
Das konnte ein Problem werden. Der Flughafen in London war sicher riesig. Und schwer bewacht.
„Ist gut. Ist sicher schön da.“
Akira nickte. Er hatte Heimweh. Ganz klassisch, genau wie vor sechs, sieben Jahren, als er noch neu in Japan gewesen war.
„Da werden wir auch bestimmt nicht ständig von Japanern verfolgt,“ sage Colin leise.
„Vielleicht verfolgen uns da Engländer,“ mutmaßte Kei. Er war sicher, dass wer auch immer hinter ihnen her war, international organisiert sein musste. Vampire gab es nicht allzu viele. Dass man sich da über Grenzen hinaus zusammenschloss, erschien ihm sehr logisch.
„Wir gehen in die weitesten Weiten der einsamsten Gegend von Schottland. Dahin wagt sich kein Engländer,“ beschloss Colin. Er wartete nicht auf eine Entgegnung, sondern setzte sich nur ernst die Geige auf die Schulter und stand auf, um weiterzuspielen.
Kei erwiderte nichts darauf. Er war kein besonders großer Freund von einsamen, weiten Gegenden, aber er hatte ein sehr, sehr langes Leben. Es konnte ihm egal sein, wo er Teile davon verbrachte.
Colin, auf der anderen Seite, hatte sein Wankelmut wieder einmal in einen Zustand versetzt, in dem er nur Ruhe und Frieden wollte, möglichst allein und unbehelligt von den Bildern aus Japan und Bolivien. Von seiner Erinnerung.

Er spielte nun etwas klassisches, leicht aber ernst und langsam, und schien minutenlang für nichts anderes Aufmerksamkeit übrig zu haben.
Kei war das sehr recht. Er saß auf dem Boden und ging in Gedanken all die Stationen ihrer Reise noch einmal durch. Jahrelang waren sie unterwegs gewesen. Dafür an erstaunlich wenigen Orten. Erlebt hatten sie umso mehr. Außer in Brasilien waren sie nie wirklich zur Ruhe gekommen, seit sie Japan verlassen hatten. Der Vampir mochte keine Ruhe. Für ihn war es in Ordnung, kein geregeltes Leben zu haben. Er kannte es nicht anders.
Nach etwa fünf Minuten, in denen Colin sich kaum bewegt hatte, endete sein barockes Stück mit einer langen, sanften Note und er öffnete endlich wieder die Augen. Sein Blick zu Kei wurde plötzlich von einer jungen, weiblichen Stimme abgelenkt.
„You‘re Angel!“ sagte sie erstaunt und atemlos. Es war eine der Umsitzenden, derer es nun noch ein paar mehr gab. Sie hielt eine Getränkedose und einen Kaffeebecher aus Porzellan in den Händen. Ihre Begleiterin, ebenfalls so zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, tat es ihr gleich und staunte groß.
„Yeees, you are...!“ Sie besaß sogar die geistesabwesende Stirn, mit einem Finger auf Colin zu zeigen. Der blickte sie nur stumpf an und dann auf den Finger. Seit sie Bolivien verlassen hatten, war er nicht mehr erkannt worden, jedenfalls nicht so. Das war nun etwa ein Jahr her. Er hatte nicht mehr damit gerechnet.
Kei blickte gelangweilt auf, den beiden Frauen ins Gesicht, dann zu Colin. „Du hast Fans.“
Ja, hast du'n Problem damit? Entschlossen sah Colin die Frauen an und nickte.
Are you from Bolivia?“ Sie waren beide ein wenig gebräunt und hatten dicke, schwarze Haare, also hätten sie Colins Einschätzung nach überallher aus Südamerika kommen können. Tatsächlich nickte eine.
„I am, but we live in California now. Tia here is from Puerto Rico. I introduced her to you and now she‘s a fan.“
„Can I take a picture with you?“ fragte Tia und hielt bereits ihr Smartphone hoch.
„Please don‘t,“ sagte Colin hastig. Wahrscheinlich wirkte er gerade sehr schreckhaft. „I‘m trying to... lay low. Really low.“ Und er hatte geglaubt, dass ihm das bisher gelungen war. Von seiner Angelpersona hatte er sich mit seinem Weißer-Kiffer-Auftreten jedenfalls stark entfernt, sowohl mental als auch äußerlich.
Kei verfolgte die Szene nicht. Seine Aufmerksamkeit war zu einem Straßenmusiker gewechselt, der sich in einiger Entfernung niedergelassen hatte und nun anfing Gitarre zu spielen.


Monday, March 7, 2016

Kei + Colin LXX: Geistestrick


Am nächsten Morgen war Kei lange vor Akira wach geworden und aufgestanden, während der Kleinere noch schlief. Er stand nur mit Hose bekleidet am Fenster und rauchte.
Wirklich lange waren wir nicht hier... Leicht lächelnd sah er zwischen der belebten Straße und seinem Freund hin und her. Der strampelte die dünne Decke, die sowieso nicht ganz auf ihm gelegen hatte, noch ein bisschen zur Seite, bis seine Beine in ihr verheddert waren. Langsam wachte er auf.
Er kanns. Na sowas. Im Halbschlaf lächelte Akira ins Kissen, das zufällig fantastisch roch. Er steht da. Er verließ sich darauf, dass seine strähnigen Locken sein Gesicht genug verdeckten, während er sich langsam der Wärme um ihn herum und der genüsslichen Klebrigkeit an seinem ganzen Körper bewusst wurde.
Kei setzte sich zu Akira aufs Bett.
„Wir sollten hier verschwinden. Wenn die wissen, wo wir sind, wissen das vielleicht noch andere,“ sagte er leise und ließ sich nach hinten fallen, die Zigarette in der rechten Hand.
„Hm,“ brummte Akira zustimmend und öffnete die Augen. Keis Kopf lag auf seinem Oberschenkel. Er strich ihm kurz durch die Haare. „Darf ich vorher noch duschen?“
„Nein, darfst du nicht. Du musst den ganzen Tag so herumlaufen,“ entgegnete Kei mit dem Hauch eines Schmunzelns auf den Lippen. Akira hielt sein Grinsen beinahe zurück.
„Verschwitzt und voller Vampirsaft,“ kommentierte er schlafheiser, „das kriege ich hin.“ Er drehte sich auf den Rücken, sodass Keis Kopf von ihm herunterrutschen musste. Der Vampir drehte sich einmal um sich selbst, sodass er auf dem Bauch lag, und rauchte gemütlich weiter, um nicht loszulachen.
„‘Ne Idee wo wir nicht gleich gefunden werden?“
Akira sah an die Decke.
„Also, Brasilien und Kuba waren eigentlich schon richtig gute Ideen, aber irgendwie sind hier zufällig immer Japaner unterwegs, die dich kennen. Vielleicht sollten wir ganz aus Amerika verschwinden. Oder vielleicht erwarten sie das auch und es wäre schlauer, irgendwo hier zu bleiben.“ Er setzte sich auf und wischte sich über die Augen und steckte sich die Haare hinter die Ohren. „Wir könnten in Kuba bleiben oder auf eine dieser winzigen Inseln in der Nähe gehen.“ Er zog sich die verdrehte Bettdecke herunter und machte Anstalten, aufzustehen.
„Die Idee ist gar nicht schlecht. Wenn wir in der Nähe bleiben, können wir herausfinden, wie viele Penner hier noch ihr Unwesen treiben und was sie eigentlich wollen. Dir Geschichten über mich zu erzählen ist sicher nicht der Grund dafür, dass sie hier sind...“
Kei blieb liegen und widmete sich der Zigarette in seiner Hand. Akira, der gerade aufgestanden war, hielt inne und drehte sich wieder um.
Du meinst, der Kerl, der mich angequatscht hat, ist deinetwegen überhaupt hiergewesen?“ Daran hatte er nicht gedacht. Das war gruselig. „Was kann die Yakuza immer noch von dir wollen? Du hattest ewig nichts mehr mit ihnen zu tun!“ Er ging zur Dusche. Kei ging ihm nach.
„Vielleicht ist er nicht wegen der Yakuza hier gewesen. Er könnte etwas mit dieser Geschichte mit meinem Vater zu tun gehabt haben,“ schlug er vor. Sicher war er sich nicht, aber es wäre eine Möglichkeit – auch, wenn das, angesichts der Tatsache, dass der Typ etwas mit seiner Vergangenheit zu tun gehabt hatte, nicht sehr wahrscheinlich war.
Unter lauwarmem Wasser rubbelte Akira sich mit zusammengekniffenen Augen Seife in die Haare.
Yakuza und Vampire. Das klingt wie Gestapo und CIA. Sehr übermächtig und eklig.“
„Wenn sie zusammenarbeiten sollten, ja. Aber ich bezweifle, dass das der Fall ist.“ Die Vorstellung war aber auch so schon echt scheiße und so oder so war es nicht besonders gut, von einer größeren Gruppe Wichser verfolgt zu werden. „Dass die Yakuza wegen Yakuzaangelegenheiten hinter mit her ist, glaube ich nicht...“
Kei stand neben der kleinen Dusche und betrachtete Akira ungeniert bei dem, was er da tat. Der wusch sich weiter, bis der Schaum von seinem Gesicht heruntergespült war und er Keis Blick gewahr wurde. Dem begegnete er kurz, ehe er leicht errötete. Kei hatte ihn schon tausendmal nackt gesehen und ihm auch beim Aus- und Anziehen und Waschen zugesehen. Es gab also absolut keinen Grund für Verlegenheit mehr.
„Dreh dich um,“ sagte er. Zu leise für seinen Geschmack, woraufhin der Vampir zu grinsen begann.
„Ich hab‘ dich unzählige Male so gesehen. Es fällt dir wirklich früh ein, dich zu schämen.“
Du bist unverschämt genug für uns beide,“ gab Akira bissig zurück. Kei war halb angezogen, stand lässig rauchend da, redete über irgendwas mörderisch gefährliches und guckte ihm mit diesem feisten Grinsen zu, während er selbst nackt war und sich ständig selbst anfassen musste, um Keis Spuren von letzter Nacht herunterzuwaschen. Er drehte sich selbst um, damit Kei wenigstens seine Vorderseite nicht mehr sehen konnte. Also, da, wo ihm sein Körper nun allmählich einen Anlass zur Verlegenheit gab. Kei ließ das unkommentiert und ging weiter dem Beobachten seines Freundes unter der Dusche nach.
„Wenn wir noch mehr von denen begegnen, lass uns nach Europa gehen. Vielleicht haben sie da weniger Verbündete als im Rest der Welt.“ Das glaubte Kei selbst nicht, aber zumindest Yakuza im Exil oder Urlaub glaubte er dort weniger anzutreffen als auf Kuba oder im Rest von Amerika. Wo sich die Leute von Kira und wer weiß wem sonst noch verkrochen haben konnten, wusste Kei nicht. Vermutlich überall.
Als Kei sich nicht abwenden wollte, langte Akira kurzerhand nach dem Duschvorhang und riss ihn ein bisschen zu grob zwischen sie beide. Daraufhin begann Kei leise zu lachen und bleib einfach stehen.
„Halt die Fresse!“ meldete Akira sich hinter dem Vorhang.
„Was machst du, wenn nicht?“ Das Grinsen war dem Vampir förmlich anzuhören.
„Dann rate ich dir, dich noch einmal gut an letzte Nacht zu erinnern, denn das wird dann nicht so bald wieder vorkommen!“
„Darauf können wir gern ‘ne Wette abschließen – du verlierst.“
Eine Pause, die ein genervter Akira zum rigorosen Waschen benutzte.
„... Ich hab nichts mehr zu verlieren.“ Okay, das klang bescheuert und ergab wenig Sinn. Egal. Er drehte das Wasser ab und riss den Vorhang wieder weg. Er war ziemlich rot im Gesicht. Und seinen halben Ständer hatte er mittlerweile vergessen.
„Wenn das so ist...“ Kei musterte seinen Freund ausgiebig – mit leichtem Grinsen auf den Lippen – und drängte ihn rückwärts gegen die geflieste Wand hinter ihm.
Und Akira hatte eigentlich gar keine Lust, sich dagegen zu wehren. Außerdem war Kei viel zu schnell für ihn. Trotzdem riss er ein Knie und die Arme hoch, um sie zwischen sie beide zu stemmen, mehr aus Reflex und verletztem Stolz als allem anderen.
„Gah! Griffel weg!“
Das brachte den Vampir nur noch mehr zum Grinsen.
„Hmm... nö,“ entgegnete er auf Akiras nicht ernst genommenen Abwehrversuch, der mit noch ein bisschen Drücken und Schieben weiter ausgeführt wurde. Akira ächzte.
„Was wird das jetzt?!“
Der Vampir kam nicht mehr zum Antworten, da ein lautes Klopfen an der Tür seine Aufmerksamkeit von Akira ablenkte.
„Besuch? Ist dir gestern jemand hinterhergelaufen?“
„Nein,“ behauptete Akira, und nahm diese Gelegenheit wahr, sich Kei zu entwinden und zu seinem nächstgelegenen Kleidungsstück auf dem Fußboden zu gehen.
Kei ging an die Tür und öffnete sie einen Spalt breit.
„Polizei? Was woll‘n Sie?“ fragte er den grimmigen Beamten mit einem von Akzent durchsetzten Englisch.
Der Polizist musterte Kei interessiert mit ernstem Gesicht und schien seine Worte zu sortieren, ehe er sprach.
„Good morning. Sorry for the intrusion, but there has been a killing nearby, and the victim was last seen with a young man who lives here.“ Er linste durch den Spalt und erspähte Akira, der nun seine Hose trug und sich gerade ein frisches grünes T-shirt überzog. Das blutbespritzte vom vorigen Tag war nicht zu sehen.
Akira sah zu dem Mann, während er sich die nassen Haare aus dem Kragen zog und etwas ausdrückte.
„Is the victim a male Asian?“ fragte er nüchtern.
Der Polizist drückte die Tür weiter auf. Kei sah keinen Grund mehr, ihn am Eintreten zu hindern, und so öffnete er die Tür ganz und schloss sie hinter der Kollegin wieder. Wortlos und ohne jeden Gesichtsausdruck verfolgte er das Gespräch.
„Yes. Did you know him?“
„No. He just talked to me for a bit.“
„When was that?“ Der Beamte nickte seiner Kollegin zu, die sich eifrig Notizen in ihr kleines Büchlein machte.
„Last night, I don't know the exact time. It was already getting dark.“
„What's your name?“
„Angel Wallace.“
„Are you here on vacation?“
„Yes.“
„Why did the victim walk with you? What did you talk about?“
„He saw me with my friend and heard us speak Japanese, so I guess he was curious or wanted to get to know us? I‘m not sure.“ Akira setzte sich auf das Bett.
„You‘re not sure?“ Der Polizist sah misstrauisch aus. Die kritzelnde Frau runzelte sowieso schon die ganze Zeit die Stirn.
„I‘m not sure why he wanted to talk to me. Maybe he wanted to make friends or was just curious.“ Akira zuckte mit den Schultern.
„What did you talk about?“ fragte der Polizist noch einmal, vorsichtiger.
„First he offered me a light for my cigar, then he said he knew I could speak Japanese. I‘m careful around strangers, you know, so I pretended not to understand him.“ Er beäugte den Polizisten mit einem Nicken, das wohl ‚Sie wissen schon, was ich meine‘ andeuten sollte. „So he said he saw me with my friend and then he talked about Japan, about his work there, but I didn‘t really listen. I managed to shake him off in an alley by some gardens. He was creepy.“
Der Polizist hörte aufmerksam zu.
„Maybe he knew he was in danger and only wanted company to be safer?“ Akira runzelte überlegend die Stirn. Der Polizist schien ernsthaft nachzudenken und seine Kollegin schrieb immer noch eilig weiter.
„You don‘t seem surprised that he‘s dead.“
Akira öffnete etwas überrascht die Augen. Tatsache. Er hatte sich verdächtig gemacht.
„I‘ve been to Bolivia, Guyana and Venezuela... we‘ve seen shit. People die. People get abducted and killed all the time.“ Der Junge zuckte müde mit den Schultern.
Kei war dem Gespräch halbwegs folgend dazu übergegangen, sich weiter anzuziehen. „Do you know how he died?“ fragte er irgendwann reichlich desinteressiert beim Stiefelanziehen.
„Yes.“ Der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart holte ein paar Fotos hervor und hielt sie Kei hin. Es waren zwei Bilder des Gesichts des Toten, einmal von vorn und einmal im Profil. Es war eindeutig tot aber unversehrt. Nur zum Bildrand hin, zu dem der Hals führte, wurde die Haut dunkler. „Have you ever seen this man?“ fragte er Kei.
„Yes. Back in Japan. I met him once or twice at my uncle‘s company. Why?“ antwortete der Japaner ohne rot zu werden und betrachtete das Bild ausdruckslos.
Akiras Augenbrauen flogen hoch. Ist der bescheuert? Jetzt lassen die uns doch nie in Ruhe!
Der Polizist neigte interessiert den Kopf.
„What's your name? What was this company, and... do you know his name?“
„Sorry but no. I do not know his name. My name is none of your concern. I was a child back then. The company is not existing anymore. Try asking the Yakuza... But I am not sure if they like questions. Especially yours.“
Die protokollierende Polizistin sah auf und der Schnurrbärtige steckte die Bilder wieder ein, Kei sorgfältig musternd. Akira starrte ihn seinerseits stirnrunzelnd an.
„Are you saying he was involved with the Japanese mafia? How do you know that?“ fragte der Schnurrbart.
„He had Yakuza tattoos. Didn‘t you see them?“ erwiderte Kei leicht genervt. „What kind of cops are you?“
„He has been skinned from the neck downwards,“ brummte der Schnurrbart. Akira senkte etwas den Kopf und guckte sehr angespannt. „From neck to hip – we haven‘t looked under his pants yet, the rest was interesting enough.“ Er und die Polizistin tauschten Blicke aus.
„Well, then best go and have a look for yourself,“ schlug Kei vor und streifte seine Jacke über. Musstest du ihn unbedingt häuten?
„We will, don‘t worry. First, give us your name, please. Yours was Angel Wallace, correct?“ Akira nickte und der Schnurrbart wandte sich wieder Kei zu, während die Polizistin sich Angels Pass geben ließ. Sie schrieb die Angaben darin ab und stutzte beim Geburtsdatum, musterte den schmächtigen Jungen, der angeblich bald dreiundzwanzig Jahre alt werden sollte, aber gab ihm den Pass kommentarlos zurück.
„What for do you need it? To follow us around and come by uninvited? I don‘t need that, really...“
„You‘re a witness, whether you like it or not, and we need a name to put in the report, if nothing else.“
„Gib ihr einfach den beschissenen Pass,“ schnaufte Akira auf Japanisch, der seinen gerade wieder einsteckte.
Kei pulte seinen Pass aus dem Portemonnaie und reichte ihn rüber, behielt ihn dabei jedoch in der Hand. Er musterte die Beamten genau.
„Are you sure that you don‘t want to go?“ sagte er ruhig und sah dem Schnurrbärtigen dabei direkt in die Augen. Die hatten sicher besseres zu tun als Akira und ihn weiter zu belästigen. Was bei Grenzkontrolleuren funktionierte, musste auch bei Polizisten gehen. In den letzten Monaten war es Kei häufiger gezielt gelungen, Menschen dazu zu bringen, zu tun, was er wollte, auch wenn er noch nicht herausgefunden hatte, wie er das genau machte – er wusste, dass es ging.
Der Schnurrbart blinzelte.
„We will go,“ stimmte er zu, indem er Keis Pass zu nehmen versuchte.
„You don‘t need that. You‘ll just go and leave us be.“ Keis Stimme war ruhig und Genervtheit war nicht mehr zu hören.
„We‘ll just go and leave you be.“ Der Schnurrbart nickte und zog seine Hand zurück. Er nickte seiner Kollegin zu, die ebenfalls nickte und ihren Notizblock zusammenklappte und wegsteckte. Akira betrachtete die Szene voller ungläubiger Entrüstung. Fassungslos sah er die beiden Polizisten den Raum verlassen und Kei mit einer schwungvollen Geste die Tür hinter ihnen schließen.
„Was zur Hölle war das?“ forderte er.
„Plötzliche Einsicht,“ verkündete Kei, der gerade sein Schwert am Rucksack festmachte. „Erinnerst du dich an die vielen netten Grenzbeamten, die uns durchließen obwohl wir keinen gültigen Reisepass hatten? Sie scheinen alle auf blaue Augen zu stehen,“ erklärte Kei grinsend. Akira guckte ihn nur weiter ungläubig und irgendwie halbbeleidigt an.
„Unsere Pässe sind gültig. Wir haben nur keine Visa. Behauptest du gerade, dass sie alle heiß auf dich sind und darum einfach machen, was du ihnen sagst?“ Er stand auf und begann auch damit, seine Sachen zusammenzupacken.
„Nein. Aber sie machen trotzdem, was ich will, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.“ Kei wusste, dass es gut wäre, das herauszufinden, aber wie?
Akiras blutdurchtränktes T-shirt, das sich auf dem Boden hinter dem Bett dem Blick der Polizisten entzogen hatte, wanderte in eine Plastiktüte und diese mit dem Rest seiner Habseligkeiten in den Rucksack. Den Geigenkasten schnallte er darauf.
„Du kannst also hypnotisieren? Wie ein klassischer Vampir? Seit wann weißt du das?“ Er klang schnippischer als er wollte. Ein bisschen beleidigt war er dennoch. Offenbar hatte Kei diese Fähigkeit schon seit einer ganzen Weile und er hatte ihm nichts davon gesagt. Vielleicht hatte er sie sogar auf ihn angewendet. Vielleicht sogar von Anfang an.
„Noch nicht sehr lange. Dass das funktioniert hab ich bei den Grenzpolizisten in Peru herausgefunden, dachte aber, es wäre Zufall. Warum und seit wann ich das kann, weiß ich nicht,“ erklärte Kei gelassen, während er seine herumliegenden Kleidungsstücke einsammelte, lose zusammenlegte und in seinen Rucksack auf die Waffen stopfte. Akira musterte ihn skeptisch, aber nahm das so hin. Rabiat schnürte er sich die Turnschuhe zu. Er nahm an, dass es möglich war, dass sie bald rennen mussten, da würden seine Bastschlappen eher hinderlich werden, darum stopfte er sie mit in den Rucksack.
„Wohin geht‘s jetzt? Bleiben wir auf Kuba?“
Kei schulterte seinen ziemlich vollen Rucksack.
„Ja, wir fahren erstmal nach Havanna und schauen dann, wo wir hinwollen. Wenn wir schon hier sind, können wir uns auch ein bisschen das Land ansehen.“ Der Vampir bestückte auch seine Jacke mit einigen Messern und frisch geschärften Wurfsternen, die er auf der Reise durch Brasilien erstanden hatte.
„Die werden aber sicher nach uns suchen, nach diesem Gespräch gerade,“ gab Akira zu Bedenken. Nachdem er sich seinen Rucksack aufgesetzt hatte, hängte er sich noch die Tasche mit dem Tequila um die Schultern und verließ straks das Zimmer. „Den Schlüssel können wir einfach hier liegenlassen, oder?“