Tuesday, March 22, 2016

Kei + Colin LXXII: Der Empfang

TEIL IV
ENGLAND

Drei Tage später waren Kei und Colin in London Heathrow angekommen, wo der Vampir seinem Freund seine Hypnosefähigkeiten an den Flughafenbeamten demonstrierte und sie so ohne gültiges Visum problemlos einreisen konnten. Kei fragte sich, ob das bei allen Menschen funktionierte oder ob es bestimmte Bedingungen gab, die dazu führten, dass Menschen sich manipulieren ließen.
Vor dem Flughafen sah er sich prüfend um. „Was machen wir jetzt?“
Colin gähnte. Er war müde und hatte dunkle Augenringe in seinem blassen Gesicht. In Havanna war er zuletzt mit dem Gesicht über der eingeschalteten Grillplatte in der Küche ihrer Unterkunft aufgewacht. Seine schlafwandlerischen Selbstmordversuche waren manchmal richtig kreativ.
Kei hatte davon scheinbar nichts mitbekommen, aber Colin hatte seitdem auf Schlaf verzichtet. Seit dem Yakuza, den er gehäutet hatte – daran zu denken, jagte ihm nun einen übelkeiterregenden Schauer über den Rücken – hatte er kein frisches Fleisch mehr gegessen. Er wusste, dass er es brauchte, sein Körper gierte danach und keine andere Nahrung brachte ihm eine ähnliche Befriedigung, aber irgendwie wollte er nicht mehr. Er hatte Hunger. Jedes sichtbare Stück Haut hypnotisierte ihn geradezu und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber gleichzeitig bescherte ihm der bloße Gedanke daran, sich an dem weichen Fleisch darunter gütlich zu tun, deutliches Unbehagen. Als hätte er noch moralisches Empfinden übrig, oder es wiederentdeckt.
„Ist mir egal,“ murmelte er. „Schlafen wär gut.“ Mittlerweile war ihm auch fast egal, ob er sich währenddessen umbrachte. Vielleicht wäre das einfach eine Erlösung. Er zog den Riemen der Umhängetasche auf seiner Schulter hoch.
Schlafen hielt Kei in der Tat für eine sehr gute Idee. Kei brauchte fast keinen Schlaf, aber es war gut, einfach mal abzuschalten und einfach nichts zu tun.
„Das hast du dringend nötig. Und du solltest essen,“ sagte der Vampir ruhig und steckte seine Hände in die Jackentaschen. Erst einmal mussten sie einen Schlafplatz finden, aber das sollte sich in einer Stadt wie London als sehr einfach erweisen und nicht allzu lange dauern.
„Lass uns da lang gehen,“ schlug Kei vor, indem er in irgendeine Richtung zeigte und marschierte los. Hier am Flughafen herumzustehen war sicherlich die schlechteste Idee.
Colin ging ihm wie ein Gespenst hinterher. Ihm war zwar vage bewusst, dass er sich hier um Längen besser auskannte als der Japaner, aber darum konnte er sich in diesem Moment überhaupt nicht scheren. Er hatte genug damit zu tun, nicht im Gehen einzuschlafen und dann besinnungslos eine irreparable Dummheit anzustellen.
Als sie zu den Shuttlebussen kamen, traf ihn ein rauschender Windzug ins Gesicht. Er wankte etwas und blieb blinzelnd stehen. Nur für eine Sekunde. Jemand, der hinter ihm gegangen war, streifte seinen Oberarm und zog seinen kleinen Rollkoffer ratternd an ihm vorbei. Es war der braungebrannte Arm eines Urlaubsheimkehrers, der nackt und nur spärlich behaart aus einem weißen T-shirtärmel schaute. Mehr brauchte es nicht.
Mit einem leisen Ausruf, der fast wie ein verzweifeltes Ächzen klang, packte er den jungen Mann beim Arm und zog ihn mit einem Ruck zu sich. Vor Überraschung wehrte der sich auch gar nicht.
„Wha- oi!“
Kei drehte sich zu der sich ihm auf offener Straße darbietenden Szene um. „Mach das da wo dich keiner sieht, oder willst du gleich am ersten Tag gesucht werden?!“ sagte er und versetzte Colins zukünftiger Mahlzeit einen Schlag, der ihr das Bewusstsein nahm, damit sie nicht herumschrie. Colin beachtete ihn kaum und kniete sich nur eilig hin während der junge Mann zu Boden sank, um seine Zähne gierig in dessen Arm zu versenken, den er immer noch festhielt.
Irgendjemand rief etwas auf Arabisch, jemand anders auf Englisch, ein Funkgerät knackte und ein paar Autotüren knallten und Menschen kamen teils neugierig, teils alarmiert, herangelaufen.
Colin bemerkte sie nicht. Mit geschlossenen Augen grub er angestrengt seufzend sein dafür recht ungeeignetes Gebiss tief und hart in die warme Armbeuge. Allmählich fühlte er die Haut und das Fleisch darunter etwas nachgeben. Es machte ein liebliches, weiches Geräusch. Er spürte auch den Puls darin und roch ein kleines bisschen sauberen Schweiß.
„Shit! Nimm den mit, wir sollten sehr schnell verschwinden!“ Kei packte Colin und dessen Mahlzeit und warf sich beide über die Schulter. War er schon immer so leicht? Er machte einen Satz über die Menschen, die allmählich zu einer Traube wurden und lief mit seinem Rucksack, Colin, dessen Gepäck und dessen Mahlzeit über den Schultern zum nächsten Zaun.
Vor lauter Ungläubigkeit und schierer Verblüffung darüber, wie schnell und mit welcher Leichtigkeit dieser scheinbar schmächtige junge Mann sich zwei Menschen packte und mit ihnen auf dem Rücken über ihre Köpfe sprang, glotzten die Umstehenden nur und machten ihm teilweise sogar Platz. Der einzige, der unbeeindruckt blieb, war Colin selbst, der halbherzig strampelte, als Kei an seinem Oberarm zerrte, und in seinem Griff, selbst als er längst rannte, eine Hand und Schulter des Bewusstlosen griff und irgendwo dazwischen wild in ihn hineinnagte.
Kei ließ auch den Zaun hinter sich und rannte noch ein gutes Stück weiter. Als er sich in sicherer Entfernung zum Flughafen wähnte, ließ er Colin und dessen Mahlzeit unter einer Brücke wieder hinunter. Colin, der dem jungen Mann jetzt bereits mehrere tiefe, dunkle Bissspuren vom Bizeps bis zum Handgelenk zugefügt hatte, kroch eilig über ihn, bis er rittlings auf ihm hockte, und schaffte es nun, dessen Haut mit den Zähnen zu durchtrennen. Ein dickes Stück Haut mit etwas Muskel löste sich unter einem schmalen Blutschwall und einem nassen Reißgeräusch langsam aus dem Unterarm.
Kei ließ sich neben Colin auf den Boden fallen und nahm sich den anderen Arm des Mannes. Ein bisschen Blut konnte nicht schaden. Er trank eine große Portion davon und wischte sich danach den Mund an der Jacke des mittlerweile Toten ab. Colin kaute derweil mit leerem Blick auf einem weiteren Fetzen aus dem Arm herum. Weniger gierig, aber scheinbar mit großem Genuss. Seine Kapuzenjacke, das T-shirt und seine Hose waren genau wie seine Hände und Unterarme, und besonders sein Gesicht, blutgetränkt.
Kei betrachtete ihn äußerst fasziniert und dachte nicht daran, dass das ganze Blut auf Colin nur Aufmerksamkeit auf sie ziehen würde, wenn man sie entdeckte. Nach kurzer Zeit schluckte Colin geräuschvoll. Als der unzerkaubare Batzen weg war, hob er den aufgerissenen Arm etwas und vergrub sein Gesicht von der Nase bis zum Kinn in der tiefen Wunde. Es gurgelte gedämpft, während er nagte und saugte, aber es war nicht festzustellen, ob das Geräusch von dem glitschenden Blut in der Wunde herrührte oder aus Colins Kehle kam.
Nachdem Kei sich nach einigen Minuten vom Anblick seines Freundes gelöst hatte, begann er damit, sich umzusehen. Keine Menschenseele war zu sehen, aber das konnte sich bald ändern. Immerhin befanden sie sich in einer Millionenstadt. Unter der Brücke und aus nächster Entfernung schienen sie jedoch unbeobachtet. Nach seinem Sprung über den Zaun war ihnen niemand nachgelaufen. Wer wusste, wie lange die Leute brauchten, um Sicherheitskräfte auf zwei junge Männer und einen Toten aufmerksam zu machen. „Wir sollten bald verschwinden.“
Colin ignorierte ihn und aß unter leisem Grollen gemächlich weiter. Zwischendurch schloss er wie in höchster Konzentration die Augen und atmete tief durch.
„Beeil dich einfach,“ fügte Kei hinzu und sah sich weiter um. Er wollte Colin nicht sein Essen wegnehmen müssen. Wahrscheinlich würde das aber notwendig werden, denn der Junge zeigte kein Anzeichen dafür, dass er Kei überhaupt gehört hatte, geschweige denn seinen Rat befolgen würde, sondern blieb genüsslich darin vertieft, den Arm des Mannes, auf dem er saß, stückchenweise zu verzehren.
Der Vampir hörte entfernte Schritte auf sie zukommen, was ihn noch ein wenig ungeduldiger werden ließ. Er nahm den anderen Arm des Mannes und riss ihn aus der Leiche.
„Beweg dich! Bullen!“ rief er dem Kleineren zu und deutete in Richtung des Flughafengeländes. Beide Taschen schulternd nahm er Colins Handgelenk und zog ihn von der Leiche weg, deren noch fleischigen Arm er in der anderen Hand hielt. „Iss unterwegs weiter.“
Mit einem erbosten Knurren riss Colin seine Hand zurück, wurde aber dennoch auf die Beine gezogen und musste den Arm gehen lassen. Als er nicht von Keis Hand loskam, fixierte sein hohler Blick den noch intakten Arm in dessen anderer Hand und er griff danach. Er machte keine Anstalten, mit Kei mitzugehen.
„Reiß dich zusammen!“ Der Vampir trat Colin die Füße wieder weg und hob ihn hoch.
„Hrrmf!“ ließ Colin grimmig verlauten, während er fiel und wieder gepackt wurde.
Wenn er nicht laufen wollte, wurde er halt getragen. Kei hatte keine Lust auf Polizei oder andere unerwünschte Aufmerksamkeit, davon hatten sie dank Colins Fressattacke schon genug gehabt.
Halbherzig wehrte Colin sich, doch als er den Arm wieder zu fassen bekam, war es ihm egal, dass er halb in der Luft baumelte und vergrub nur die Zähne in der zerrissenen Bruchstelle der Schulter. Als Kei zu Laufen begann und er dabei ein bisschen wippte, musste er kurz lachen, wie ein Kind, das herumgeworfen wird.
Kei rannte durch kleine Seitenstraßen um nicht gesehen zu werden und ließ Colin nach einer guten Stunde wieder herunter. In einer offensichtlich nicht mehr genutzen Lagerhalle. Er war in ein Industriegebiet gelaufen, welches sich unweit des Flughafengeländes vor ihm aufgetan hatte. Der ideale Ort, um mit Leichenteilen und einem menschenfressenden Halbtoten für kurze Zeit unentdeckt zu bleiben.
Der Menschenfresser saß auf dem staubigen Betonboden. Er ließ nun seinen halb abgegessenen Arm fallen und leckte dafür das trocknende Blut von seinen Händen. Er sah zufrieden aus, wenn auch weiterhin in das vertieft, was er da gerade tat. Während er sich mit den Unterarmen das Blut von Wangen und Kinn wischte und dann wieder ableckte, legte er sich langsam auf die Seite.
Kei blieb wach und aufmerksam neben ihm sitzen und lauschte auf eventuelle Verfolger, die ihnen bis hierhin hinterhergelaufen sein mochten. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Sich seine Jacke ausziehend und selbige in den Rucksack stopfend sah Kei zu Colin.
Wenigstens ist er satt...
Das war er tatsächlich, und innerhalb von Sekunden, nachdem er sich hingelegt hatte, war Colin auch schon fest eingeschlafen. Das ging so schnell, dass ihm noch ein blutiger Zeigefingerknöchel zwischen den Lippen hing.
Dieses Bild war seltsam – skurril und idyllisch zugleich. Kei schaute kurz leicht verwirrt und wendete sich dann wieder dem Wachesitzen zu. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete rauchend darauf, dass sein Freund wieder aufwachen würde.
Die folgenden Stunden waren ruhig. Die Menschen schienen sie mit ihrer Gesellschaft zu verschonen. Draußen fuhr zwischendurch brummend ein Lastwagen vorbei und aus der Ferne konnte man ab und zu das Rauschen der Eisenbahn vernehmen. In der unbeleuchteten Halle blieb es still. Während der Nachmittag fortschritt, wurde das Licht, das durch die dreckigen Scheiben hoch in den Wänden drang, zwielichtig. Colin atmete ruhig und langsam, wenn er atmete.
Nach über zwei Stunden regte er sich. Schwerfällig zuckend setzte er sich etwas auf.
Kei saß gegen eine Wand gelehnt auf dem Boden und sah zu Colin. „Ausgeschlafen?“ fragte er ruhig.
Colin entgegnete nichts, doch seine Augen öffneten sich. Ohne Kei zu beachten, wandte er sich steif einer Wand zu, an der hoch oben ein Catwalk entlangführte. Ungelenkig stand er auf und stolperte langsam in diese Richtung. Kei sah ihm nach.
Wie ein rostiger Roboterzombie näherte Colin sich wankend der Aluminiumtreppe. Als er sie erreichte, konnte er nicht mehr sehen, was vor ihm lag. Seine Augen tränten zu stark. Aber das war auch egal, denn sein Körper machte sowieso wieder alles allein.
Kei ging ihm nach, als er sah, dass Colin den ganzen Weg wie ein betrunkener Untoter zurückgelegt hatte und stellte sich ihm in den Weg.
„Nicht schon wieder... Du sollst dich doch nicht umbringen.“
Will ich auch gar nicht.
Colins Körper hielt nicht an. Er hatte überhaupt keine Kontrolle mehr über ihn. In Südamerika hatte er ihn wenigstens mit großer Anstrengung ein bisschen bremsen können, aber das funktionierte nun nicht mehr. Er konnte nur weinen, aber dazu entschied er sich ja auch nicht mit Absicht. Ohne sein Zutun griffen seine Hände nach dem Geländer und zogen ihn daran hoch. Seine Füße stellten sich von selbst darauf. Was, gerade vorwärts gehen ist nicht, aber Balancieren soll okay sein?!
Kei zog ihn von dort wieder herunter, zerrte ihn von der Treppe und drückte ihn auf den Boden, wo er ihn festhielt. Schnaufend versuchte Colins Körper, wieder aufzustehen, aber der Vampir war viel zu stark für ihn. Doch Colin war verblüfft darüber, wie hartnäckig er war. Minutenlang stemmten sich seine Arme und Knie gegen den Betonboden, selbst als alles schmerzte und sich wie formloser Pudding anfühlte. Der hellgraue Boden unter seinem Gesicht wurde allmählich feucht. Keis Knie und Arme blieben einfach wie tonnenschwere Ambosse unbeweglich auf ihm liegen.
Schließlich ließ seine Kraft doch nach und Colins sich windende Muskeln beruhigten sich nach und nach.
Endlich. Au. Jetzt muss ich nur noch aufwachen.
Kaum ließ die unerwartet heftige Gegenwehr nach, ließ Kei den Kleineren los und erhob sich. „Dein komischer Suizidinstinkt ist echt hartnäckig.“
Das sagst du mir? Scherzkeks. Er blinzelte und kam sich nach einem blinden Gefühl des Fallens vage so vor, als hätte er die Macht über seinen Körper zurück. Er konnte sich trotzdem nicht bewegen. Keis Gewicht war weg, dafür fühlte er sich zu schwer und verbogen an, um aufzustehen.
„Au...“ brachte er nur leise heraus.
Kei hob Colin hoch und stellte ihn auf die Beine, hielt ihn aber fest, sodass er nicht umfiel.
„Dass dein Körper sich wehrt, ist neu.“
Gegen dich... Er lernt dazu,“ ächzte Colin leise. Er schaffte es, die Arme zu heben und sich ein bisschen an Keis Jacke festzuhalten. Dabei fiel ihm auf, wie blutverkrustet seine Hände und Unterarme waren, und als er an sich hinuntersah, wie dunkel durchtränkt sein ehemals graues T-shirt war.
„... Was ist los?“
„Erzähl mir nicht, dass du nicht mehr weißt, weshalb du so aussiehst." Der Vampir sah ihn an. Colin sah zurück. Er versuchte, sich zu erinnern. Bevor er hier aufgewacht war...
„... Der Mann von Heathrow?“ Nachdem er ihn gerochen hatte... gab es nichts mehr.
Er schnaubte verächtlich und ließ Keis Jacke los.
„Genau der. Die Reste seines Arms liegen dahinten noch. Du wolltest dich nicht ohne Mittagessen bewegen lassen,“ erklärte Kei gelassen. Colins Blick folgte seinem Kopfnicken dorthin, wo das abgenagte Glied in einem Matschfleck auf dem Boden an der Stelle lag, wo er aufgewacht war.
Er musste blinzeln, denn plötzlich schoss ihm wieder heißes Wasser in die Augen.
Er hatte am Flughafen in aller Öffentlichkeit einen Passanten angegriffen. Kei hatte ihn in besinnungslosem Zustand mit einem Arm des Mannes in diese unbenutzte Halle gebracht. Er fragte sich, wo der Rest sein mochte. Und er versuchte, ihn sich bildlich vorzustellen, mit starrem, fasziniertem und angeekeltem Blick auf den zerfetzten Arm geheftet.
„Seine Leiche müsste heute Abend in allen Nachrichten zu sehen sein. Die Sicherheitskräfte waren sicher kurz nach uns da.“ Kei dachte laut. Er ließ sich nichts davon anmerken, dass er es nicht gut fand, dass er Colins Babysitter spielen musste, während der besinnungslos gefressen hatte. Ein solcher Zustand war ihm nicht ganz fremd – nur konnte er sich an seine eigenen Ausfälle erinnern und er vermied es, sie herbeizuführen.
„Ist-“ Colin wurde etwas übel. Er wollte gar nicht wissen, wo der Mann lag und wie seine Leiche aussah. Trotzdem schlichen sich Bilder vor sein inneres Auge, aber sie hatten nichts mit Flugplätzen zu tun, sondern spielten sich in einem Wohnzimmer in Tokyo ab, und es gab da nicht nur eine Leiche... Hastig wischte Colin sich über die Augen und wandte sich ab.
Kei musterte ihn kurz und sagte dann anstatt ‚Ja, ist er, und ihm fehlen beide Arme, weil du verfressen warst‘ lieber gar nichts. Das Verhalten seines Freundes überforderte ihn ein wenig. Dass Colin wirklich menschliche Gefühlsregungen gezeigt hatte, war so lange her, dass es ihm fast fremd vorkam. Er musste sich daran erinnern, dass Colin ein Mensch war – untoter Menschenfresser hin oder her – ursprünglich war er ein Mensch gewesen. Vielleicht kam Menschlichkeit nach einigen Jahren des Totseins zurück. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Etwas hilflos enthedderte der Junge gerade seine Arme und die blutigen Kleidungsstücke, was sich am Ende auf alles bis auf Boxershorts, Socken und Schuhe belief. Letztere zog er dennoch eilig auf dem Boden sitzend aus, um mit spitzen, zitternden Fingern die Jeans loszuwerden. Dann wischte er sich wieder mit dem Unterarm über das Gesicht, um etwas besser sehen zu können, bevor er mit einem sauberen Teil eines Hosenbeins über seine Hände rubbelte. Kei betrachtete die Szene schweigend und leise schmunzelnd bis er sich irgendwann zu den Taschen bewegte.
Hast du saubere Kleidung dabei?“
Du musst duschen, um das Blut loszuwerden. Kei hatte in den Stunden, in denen er sich in der Halle umgesehen hatte, keine Wasserquelle oder irgendetwas anderes nützliches gesehen. Sie mussten hier weg.
In Colins Seesack befanden sich an Kleidungsstücken ein paar Teile Unterwäsche, vier T-shirts und die Cargoshorts, die er schon seit Brasilien besaß. Seine Bastsandalen und die Strickmütze waren ihm irgendwo abhanden gekommen.
Er antwortete jedoch nicht, obwohl er die Frage verstanden hatte. Er konnte bloß nicht den Mund bewegen, um Laute herauskommen zu lassen. Er erinnerte sich an das Gefühl von warmer Haut auf den Lippen und weichem Fleisch, das unter seinen Fingern und Zähnen nachgab. Und das Bild dazu war seine Mutter, wie sie mit Schnitten und Blutergüssen auf dem weißen Rücken unter ihrem zerrissenen Abendkleid mit aufgerissenen Augen und Mund vor ihm lag.
Er schniefte und blinzelte noch einen Schwall Tränen weg. Das Reiben brachte nicht viel, nur gerötete Haut. Er hörte auf.
Kei steckte die Zigarettenschachtel, die neben seinem Rucksack auf dem Boden gelegen hatte, wieder in seine Hosentasche und setzte sich. Schweigend sah er zu Colin und fragte sich, was gerade in dessen Kopf vor sich ging.
Er sah zu Kei auf, aber nur aus Reflex. Dass ihm plötzlich Skrupel gewachsen waren, würde der Vampir nicht verstehen. Also wandte Colin seinen Blick wieder hinunter auf seine Hände. Anstatt sie abzureiben, zog er das Hosenbein nun zu seinem Gesicht, um den Mund abzuwischen. Er wusste nicht, wie es aussah, aber wenn er diesen ganzen Arm gegessen hatte und seine Unterarme schon so blutverschmiert waren, konnte sein Gesicht nicht sauber sein. Es schien ein bisschen besser zu funktionieren, denn seine Wangen waren deutlich nasser als seine Hände, und der Jeansstoff bekam ein paar dunkle Flecken.
„Ich gehe dir Wasser zum Waschen organisieren,“ kommentierte Kei Colins Reinigungsversuch schließlich.
Danke, dachte Colin, ohne Kei anzusehen, und hielt wieder inne. Und es tut mir Leid, dass du dich immer um mich kümmern musst.

Kei ging nach draußen, ohne seine Jacke anzuziehen. Wasser. Wo kriege ich hier welches her? Er ging einfach los. Lief bald darauf durch unbekannte Straßen, bis er einen Supermarkt gefunden hatte. Dort kaufte er einige Flaschen Wasser und in einem angrenzenden Geschäft saubere Kleidung für Colin. In seinen blutigen Sachen konnte er nicht raus.
Nach etwas über einer Stunde kam Kei wieder zurück in die Lagerhalle geschlendert. „Wasser und saubere Kleider!“ verkündete er, als er die Tüten neben seinem Rucksack abstellte. Der Arm in seinem Matschfleck und ihre Taschen lagen alle noch da, wo sie vor einer Stunde gelegen hatten. Colins Kleider auch. Nur Colin nicht mehr. Der saß nun an eine Wand gelehnt und hob den Kopf von seinen Knien, als Kei hereinkam. Sein Gesicht war fast sauber, aber seine Augen und der Mund gerötet, und er blickte noch äußerst verloren drein. Kei stellte die Wasserflaschen vor ihn und ließ ein leichtes Lächeln vermuten.
„Hier.“ Er gab ihm noch ein Tuch - ein Handtuch hatte er nicht bekommen - das als Waschlappen dienen konnte.
„... Danke,“ sagte Colin leise und rührte sich nicht weiter, nachdem er das neue Halstuch auf seinem Knie abgelegt hatte.
„Was is?“ Kei sah ihn fragend an.
„Keine Ahnung.“ Ich fühl mich beschissen. I want to go home. I want my mum.
Er wischte sich kurz über das Gesicht und sah hilflos zu Kei auf. Kei setzte sich neben Colin und lehnte sich einfach gegen ihn. Er war mit Hilflosigkeit und Gefühlen überfordert. Vor allem, wenn er nicht wusste, was los war. Colin drehte sich etwas, legte die Arme um Kei und vergrub sein Gesicht in dessen T-shirt. Umständlich legte Kei einen Arm um ihn und drehte sich ein kleines bisschen. Leise weinte Colin in sein Hemd, knapp unterhalb der Schulter.
I've eaten PEOPLE. I killed them and ATE them. Not even eighteen and I've had at least seven cocks up my arse. Sein Griff in Keis Shirt zog sich auf seinem Rücken etwas fester zusammen. And why the fuck does it bother me NOW?
Kei hielt ihn fest und atmete ruhig. Er verstand nicht, weshalb Colin jetzt plötzlich davon entsetzt war, was er getan hatte. Immerhin war es nicht das erste Mal gewesen, dass er einen Menschen zerfetzt hatte.
Nach ein paar Minuten atmete Colin auf und ließ Kei los. Seinen Kopf behielt er aber, wo er war, an Kei gelehnt.
„Ich liebe dich,“ murmelte er.
Kei murmelte eine Erwiderung und steckte seine Hand locker in Colins Hosenbund.
„Es tut mir Leid,“ flüsterte Colin.
„Was meinst du?“ fragte der Vampir leise.
„Mich. Dass ich so bin.“ Colin hob den Kopf und sah Kei besorgt an.
Warum jetzt? „Ich kann damit leben.“ Dem Menschenfressen. Nicht den Nervenzusammenbrüchen... Mach das nicht.
„Gut, dass du auch wahnsinnig bist.“ Colin setzte sich etwas auf, aber blieb dicht bei Kei, damit dessen Hand nicht aus seinen Boxershorts rutschen musste, und legte einen Arm wieder um ihn.
Draußen fuhren weiter Lastwagen und Vans vorbei. Ein paar Fahrzeuge schienen in der Nähe anzuhalten.
„Wir könnten Gesellschaft bekommen,“ informierte Kei seinen Freund, bewegte sich aber nicht. „Hier sind Menschen in der Nähe.“
Colin ließ ihn los und horchte. Es waren keine Schritte oder Stimmen zu hören, auch keine zuklappenden Autotüren.
„Autos haben in der Nähe gehalten. Ich weiß nicht, ob die herwollen. Sie sind noch weit weg.“
„Nicht weit genug. Steht auf, wir müssen hier weg,“ sagte ein junger Asiate auf Japanisch von über ihren Köpfen. Er hockte auf dem Catwalkgitter entlang der hohen Wand unter einer rechteckigen Öffnung im Dach. Er trug enge, gepolsterte Lederkleidung und eine schwarze Kapuze.
Kei sah ihn an. „Wer bist du?“ Er mochte diesen Typen auf Anhieb nicht. Colin stand auf.
„Jemand, der euch nicht ans Leder will. Könnte mir vorstellen, dass ihr sowas nicht häufig trefft. Ihr habt jetzt die Wahl zwischen mir und den dutzend Vampiren, die euch einfangen und umbringen wollen. Eure Entscheidung, aber wenn die Tür da aufgeht, bin ich hier weg, mit oder ohne euch.“


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