Monday, December 19, 2016

Kei + Colin LXXXVI: Wir waren mehr als Freunde

Als sie den Raum betraten, machte Colin große Augen. Er wohnte nun schon ein Weilchen hier in Ruperts Schloss und hatte diesen Raum noch nie gesehen.
„Warum weiß ich nichts davon?“ staunte er. „Hier gibt‘s ja alles.“
„Weil du‘s vergessen hast. Such dir was aus.“
„Äh.“ Colin drehte sich im Raum, um sich umzusehen. Dann zuckte er zum x-ten Mal mit den Schultern und zeigte auf die riesige Musikanlage. „Musik und Darts?“
„Klar. Hast du Musikwünsche? Hier gibt's alles mögliche an Musik.“
„Äh. Keine Ahnung, mir egal?“
Kei ging zur Musikanlage und suchte Musik aus, die Colin kannte. „Meinst du, man kann hier Playlists bauen?“ fragte er.
Auf einmal gingen Colin wie in plötzlicher Erkenntnis die Augen auf. „Darum wart ihr nie beim Essen dabei,“ sagte er.
„Weil wir kein normales Essen brauchen, ja.“ Kei machte weiter an der Anlage herum, bis er sich für eine CD von den vielen, die ihm sofort einfielen, entschieden hatte. „Komm mal her. Hier ist noch was, das du in den letzten zwei Jahren gemacht hast.“
Colin taperte zu ihm an den Schrank. Kei trat zur Seite. „Schau mal. Das hast du getrieben, als wir ‘ne Weile nicht zusammen unterwegs waren.“
„Was, CDs gesammelt?“ fragte Colin doof, bis er feststellte, dass Kei ihm nicht die aufgereihten Plastikhüllen zeigte, sondern die Türinnenseite, die mit Postern und Fotos aus Magazinen beklebt war. Mit den Händen in den Hosentaschen betrachtete er sie näher. Jedes einzelne.
„... Wer ist das?“ fragte er schließlich leise, immer noch draufstarrend. Aber er wusste natürlich längst, was Kei ihm antworten würde.
„Dein böser Zwilling,“ scherzte Kei monoton.
„Ich habe einen-“ Colin sah zu Kei und verstummte. „Arschloch,“ sagte er mit strafendem Blick.
„Gern.“
„Wessen kranke Idee war das, mich Angel zu nennen?“ fragte er, wieder die Bilder betrachtend. Es war merkwürdig, sich selbst auf Fotos zu sehen, an deren Umstände man sich nicht im Geringsten erinnern konnte.
„War der Name auf deinem falschen Ausweis.“
„Warum hatte ich einen falschen Ausweis? ... War ich gut?“ Interessante Kostüme...
„Wir mussten unerkannt aus Japan raus. Ja, warst - bist du. Du kannst das immer noch.“
Mit einem schelmischen Seitenblick von unten, immer noch zu den Bildern hingebeugt, sagte Colin: „Warst du mein Fan?“
„Ich hab‘ manchmal im Fernsehen gesehen, was du so treibst. Deine Musik war und ist wirklich gut.“ Das konnte man auch als Ja verstehen, wenn man wollte.
„... Wie die Poster hier beweisen,“ sagte Colin mit dreistem Schmunzeln und richtete sich wieder auf.
„Ja. Es war nicht einfach, dich zu finden, obwohl du ständig irgendwo in den Medien warst.“
„Wir haben Japan zusammen verlassen?“
„Ja.“
„Warum?“
„Wir wurden verfolgt.“
„Warum?“
„Wir wurden von mächtigen Vampiren entführt, sind gestorben und irgendwann sind wir da rausgekommen und mussten abhauen.“
„Wir sind ge- bist du als Vampir nicht sowieso tot?“ Colin bewegte sich zum Sofa und rollte sich lässig über die Lehne auf die Sitzfläche, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.
„Nein, ich bin als Vampir geboren. Ich bin nicht untot. Ich lebe nur anders. Naja mittlerweile bin ich beides. Untot und anders lebendig.“
„Also... Vampire werden geboren, und wenn sie sterben, erstehen sie untot wieder auf?“
„Ich kann kaum sterben. Diese Pisser, von denen ein paar mittlerweile tot sind, haben an uns versucht, Unsterblichkeit möglich zu machen. Da du ein Mensch bist, ist das nicht ganz so glimpflich ausgegangen und deshalb kam es irgendwann dazu, dass Dennis dein Gedächtnis löschen musste.“ Kei sammelte die Dartpfeile zusammen.
Auf der Erläuterung kaute Colin erstmal ein bisschen herum. Dabei starrte er blind auf den schwarzen Fernsehschirm vor sich, in dem er sich dumpf spiegelte. Es war alles ziemlich unglaubwürdig, aber die leuchtenden blauen Augen von Dennis, Kei und Delilah, die rasante Spucke-Heilung von Dennis‘ Arm, diese Gelassenheit, mit der er die Verletzung hingenommen hatte, Colins Fotos im Musikschrank und seine zwei verlorenen Jahre waren zweifellos echt. Seine eigene rätselhafte Spontanheilung ebenfalls. Egal, was die Wahrheit war, sie musste seltsam sein. Warum dann also nicht einfach diese Geschichte akzeptieren?
„Hat diese Bindung, von der Dennis gesprochen hat, was damit zu tun? Ich meine, ist das... ist das diese Unsterblichkeitsgeschichte? Sind wir darum zwei Jahre lang zusammen unterwegs gewesen?“
„Das hängt auch miteinander zusammen. Ich bin zum Beispiel klinisch tot, wenn du zu weit weg bist.“
„Wow, okay... oh, sollte ich darum heute nacht nicht türmen? Damit du nicht stirbst?“
„Ich sterbe nicht im Sinne von richtig tot sein. Ich hab keinen Herzschlag mehr und man kann mich sogar umbringen.“ Du sollst nicht türmen, weil ich nicht will, dass du gehst. „Oh, das funktioniert auch andersherum.“
„Ah... und darum hast du mich gesucht, als wir zwischendurch getrennt waren? Als ich Sänger war?“ Colin drehte sich etwas auf dem Sofa und schaute über die Lehne. „Warte mal, warum sind wir dann nicht tot?“
„Und, weil ich irgendwann nicht mehr sauer war.“ Kei zielte sorgfältig und warf einen Pfeil in die Dartscheibe. „Weil wir, warum auch immer, nicht ganz draufgehen. Ich bin sowas ähnliches wie unsterblich, halbtot und umbringbar, wenn du nicht da bist.“
„Du warst sauer? Auf mich? Warum?“ Colin lehnte sich auf die Rückenlehne und stützte das Kinn auf die Fäuste. „Lagerkoller, weil wir wegen der Geschichte immer zusammenhocken mussten?“
„Nein. Ich war wegen was anderem sauer und ja, deinetwegen.“
Colin grinste. „Nein aber ja?“
„Nein, ich hatte keinen Lagerkoller, aber ja, ich war sauer. So.“
„Ooh, was hab‘ ich gemacht?“ Colin grinste immer noch.
„Es gab Streit und dann bin ich weitergefahren.“
„Weitergefahren?“
„Wir waren in Südamerika und hatten gerade in einem alten Haus Station gemacht. Ich wollte weiter. Du bist dann nach Bolivien gefahren.“
„Wussten wir nicht, dass wir davon sterben können?“
„Wir sterben da nicht dran. Wir sterben wahrscheinlich endgültig, wenn man uns dann umbringt. Klinisch tot und richtig tot sind unterschiedlich.“
„Aber das ist doch normal... also für Menschen zumindest.“ Colin kniete sich hin, weiter auf die Rückenlehne gestützt. „Cool, dass du auch Roxette magst.“ Er nickte zur Musikanlage, die gerade ‚Fading Like A Flower‘ abspielte.
„Ich kenn‘ das erst, seit ich deine Version mal gehört habe.“
„Oh, ich habe das gecovert? Cool.“ Colin lächelte breit.
„Das müsste auch bei den ganzen CDs von dir dabei sein.“
„Hatte ich viele?“ Sein begeistertes Grinsen fand kein Ende.
„Schau doch nach, da sind alle.“
Eilig kletterte Colin wieder zurück über die Lehne, um die CD-Sammlung zu inspizieren.
„Wow... Das ist so cool...“ Er nahm die zwei CDs heraus, die Studioalben waren, und reichte sie Kei. „Mach die an.“
Kei fand es amüsant, dass die Reaktionen nicht die gleichen waren wie das erste Mal als Colin Ruperts Sammlung entdeckt hatte. Kei nahm die CDs und legte sie in die Anlage.
„Oh, die zuerst!“ Er hielt ihm noch ein Live-Album hin. Kei wechselte die CDs und machte das Live-Album an. Derweil zog Colin aus allen Hüllen die Booklets heraus und sah sie sich fasziniert an. Kei betrachtete ihn dabei und bewarf weiter die Dartscheibe. Mit immer verlegenerem Grinsen hörte Colin sich selbst zu und fragte sich, ob es ihm leicht fallen würde, Spanisch zu lernen, wenn er das mal (wieder) versuchen sollte.
„Ein bisschen viel Gekreisch zwischendurch, meinst du nicht?“ sagte er zwischen Lied zwei und drei. Kei verneinte das.
„Das würde ich nicht Gekreisch kennen.“
„Das Publikum? Aber hallo.“
„Oh nein, das ist kein Gekreisch. Das sind Teenieweiber mit Herzanfall.“
Colin lachte.
„Konnte ich richtig Spanisch?“ fragte er.
„Du hast das sehr schnell gelernt.“
„Japanisch war am Anfang ziemlich schwer.“
„Englisch auch.“
Colin lachte. „Hast du ein bisschen von mir gelernt?“
„Viel sogar.“
„Alright? Care to prove it?“
„Nope.“
Und wieder lachte Colin. „Ooh, das ist gut.“ Gerade kam ein E-Geigensolo.
„Ja.“ Kei gingen die Dartpfeile aus. Auf der Scheibe war ein Stern aus Pfeilen zu sehen.
„... Warum ist da nichts Japanisches drauf? Ich sehe hier nur Spanisch und Englisch.“
„Ich glaube, weil niemand wissen sollte, dass du du bist.“
„Ach ja, wir wurden verfolgt.“ Sein Blick klebte weiter auf den CD-Zetteln. „Was meinte Dennis mit der unterbrochenen Bindung? Wir sind doch beide nicht... klinisch tot, oder?“
„Du nicht, ich nur, wenn ich mehr als zwei Meter von dir weg stehe.“ Er zeigte Colin die vom Pflaster befreite Wunde. „Siehst du das?“
Colin schaute über die Sofalehne. „Ja?“
„Eben. Das wäre eigentlich schon lange weg.“
„Warum ist es das nicht? Du stehst doch direkt neben mir.“
„Ja, und deshalb bin ich nicht eiskalt.“
„Oh, ich glaube eiskalt bist du trotzdem,“ sagte Colin trocken mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Aber ich habe einen Herzschlag, ich bin körperlich warm.“ Eiskalt... vielleicht. Wenn du nicht da bist.
„Okay, warum heilt sich dein Körper aber nicht, und meiner schon? Er hat was von einseitiger Verbindung gesagt?“ Colin kletterte wieder auf die Knie, um sich mit den Ellenbogen auf die Lehne zu stützen.
„Du kannst mich nicht sonderlich gut ausstehen. Ich dich schon.“
„Hä.“
Dennis hätte dir ein paar Details lassen sollen... dachte Kei bei sich.
„Also, ich hab‘ nichts gegen dich. Glaube ich.“ Colin zuckte mit den Schultern. Kei lächelte leicht. Das war ein Anfang.
„Oh, du wirst mich hassen. Manchmal. Manchmal auch das Gegenteil.“
Damit wusste Colin nichts anzufangen.
„Wir müssen uns also anfreunden, damit du dich wieder spontan regenerieren kannst?“ fragte er.
„Das wäre ein netter Nebeneffekt,“ sagte Kei. Colins Lächeln wurde etwas schmaler.
Der will sich mit mir anfreunden?
„Wir waren Freunde, ja?“
„Wir waren mehr als Freunde.“ Kei malträtierte wieder die Dartscheibe und Colin hörte mit seinem leichten Wippen auf.
„... und was war das?“ fragte er mit leichtem Stirnrunzeln und geneigtem Kopf.
„Beziehung.“
„Äh. Ja... schon klar. ... Aber was für eine?“
„‘Ne Mischung aus Liebe, Sex und Chaos.“
Colins Gesichtszüge entgleisten etwas. „... Hä?“ fragte er.
„Ist das so unvorstellbar?“
Colin merkte nicht, dass er rot geworden war. Nur, dass er verlegen lächelte. „Also... ich weiß nicht... irgendwie... schon... Wer von uns ist denn bitte schwul?“ fragte er intelligent.
„Wie viele gehören zu einer Beziehung?“
Colin sog Luft ein. „Also... du kannst mich doch auch nicht leiden!“ Nun wippte er wieder etwas vor und zurück, aber nur aus Verlegenheit, und räusperte sich. „Mir fehlen die letzten zwei Jahre, da kann ja viel passieren, glaube ich, oh scheiße, ich bin ja sechzehn... oder so... ähm... aber-“
„In den letzten Jahren ist sehr viel passiert, ja.“ Kei schmunzelte amüsiert. Und wieder stellte Colin das Wippen ein. Dafür fummelte er an einer Lederfalte an der Kante herum.
„Du verarschst mich auch nicht?“
„Wirklich nicht.“
„... Du hast echt mit mir geschlafen?“ Der eine verzogene Mundwinkel sah sehr skeptisch aus. Kei nickte.
„Ja.“
„Oh my god.“ Colin drehte sich um und rutschte auf die Sitzfläche. Kei musste grinsen und amüsierte sich nonverbal. Der verwirrte und schockierte Ausdruck blieb auf Colins ziemlich warmem Gesicht, so oft er sich auch mit gnadenvoll kühlen Händen darüberwischte. „War ich wenigstens gut?“
Kei grinste ein bisschen breiter. „Interessant, dass du mich das jetzt fragst.“
„Ich habe dich das nie gefragt?“ Colin wagte es, aufzublicken.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Na, dann kann es ja keine Beschwerden gegeben haben.“
Du hast dich auch nie beschwert. Kei grinste weiter. „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“
Plötzlich fiel Colin etwas ein. Er drehte sich schnell wieder um. „Wir haben doch keine komischen Rollenspiele gespielt, oder?!“ Es klang etwas drängend, als läge ihm diese Sache sehr am Herzen. „Hatte ich darum dieses Kleid an?!“
Kei lachte. „Das Kleid hatte ‘nen anderen Grund und ich bin nicht schuld daran.“
„Ein Theaterstück? Halloweenparty? Warum hast du dann bei mir im Bett gelegen?“
„Ich hab‘ nur auf dich aufgepasst. Der Grund war eine Gala.“
„Gala? Crossdressinggala?“
„‘Ne ganz normale Gala, auch wenn ich nicht weiß, wofür die eigentlich war.“
„Ach, die hier im Schloss? Warum hatte ich dann ein Kleid an?“ Plötzlich schmunzelte Colin und musste mithilfe eines Räusperns ein Lachen unterdrücken. „Hattest du ein Abendkleid an?“
„Nein, ich habe einen Frack gekriegt.“
Colins Grinsen verschwand und machte einem flachen Todesblick Platz.
„Rupert war schuld.“
„Der kriegt morgen was zu hören,“ versprach Colin grimmig.
„Alles klar.“

Es vergingen einige Tage, in denen Kei viel trainierte und Colins Fragen beantwortete, wenn dieser denn welche stellte. Nachts war der Vampir oft in der Stadt. Ob, um sich mit Konzerten abzulenken oder sich die Beine zu vertreten, wenn er was anderes sehen wollte als das Schloss. Musterhaft benahm er sich nicht. Das tat er nie. Doch er gab sich ernsthaft Mühe, unauffällig zu bleiben. Er wusste, dass Dennis und Delilah wussten - und wahrscheinlich auch Colin - dass er nachts abhaute. Solange ihn keiner daran hinderte, war ihm das recht. Wirklich verkleidet war er nicht, aber er trug meistens bunte Kontaktlinsen, wenn er das Schloss verließ, und das schien auszureichen. Er spielte viel auf seiner Gitarre.
Zu Colin suchte er in der Form Kontakt, dass er hin und wieder neben ihm auftauchte und einfach anfing, sich mit ihm zu unterhalten.

Am nächsten Freitag folgte Kei dem Kleineren leise, nachdem der vom Mittagessen kam, welchem beizuwohnen der Japaner vermied.
„Heute ist irgendwo in der Stadt ein Konzert, kommst du mit?“
Mit einem leisen Lächeln nahm Colin Keis Anwesenheit zur Kenntnis, ohne ihn anzusehen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass der Vampir hin und wieder plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen schien und machte sich nichts mehr daraus.
„Ich darf doch nicht raus,“ gab er zu Bedenken, während er das ausgelesene Buch ins Regal zurücksortierte. Rupert war nach dem Essen in seine Praxis in Lancaster zurückgefahren und Colin hatte sich angewöhnt, die ersten Nachmittagsstunden bei Wetter wie diesem - nass und kalt - in der Bibliothek zu verbringen.
„Die Tür ist nicht abgeschlossen,“ merkte Kei an. Mit einem kleinen schmunzelnden Seitenblick gab Colin ihm zu verstehen, dass das nicht das Problem war.
„Dass du nicht rausgehen sollst, ist kein vernünftiger Grund,“ fügte Kei schulterzuckend hinzu.
„Dass die Instanz mich finden und dann den ganzen Widerstand hier zerschlagen kann, ist aber einer.“ Er ging langsam das Regal ab und las die Buchrücken.
„Ja, aber einen Abend in einem kleinen Club rumzuhängen, so, dass man uns nicht wirklich erkennt, wird schon nicht schiefgehen.“
Colin musterte ihn von der Seite und musste dabei fast grinsen. Er verstand sich mittlerweile ganz gut mit dem merkwürdigen Idioten, konnte aber natürlich nicht umhin, seine Motive zu hinterfragen.
„Charles Dickens ist immer gut,“ sagte er und nahm sich ‚A Tale of Two Cities‘ aus dem Regal.
„Ich bin kein talentierter Überreder. Wenn du was anderes sehen willst als Schloss, dann komm mit. Wenn nicht, auch okay.“ Eigentlich nicht. Kei wollte, dass Colin mitkam. Colin zuckte mit den Schultern.
„Wenn du Dennis für mich fragst und er einverstanden ist, komme ich mit,“ sagte er. Natürlich wollte er etwas anderes als das Anwesen sehen. Aber er konnte Dennis nicht selbst fragen. Der Mann war ihm unheimlich.
„Okay.“ Kei kam gut mit Dennis zurecht. Ihn zu fragen, ob Colin ausgehen durfte war weitaus weniger schlimm, als ihn um Hilfe bitten zu müssen. Kei bat nicht gern um Hilfe. In den letzten Wochen kam das viel zu häufig vor.
„Ich habe aber kein Geld für Eintritt oder sowas,“ sagte Colin.
„Egal, ich hab‘ welches.“
„Wird das dann ein Date?“ fragte Colin mit einem breiten Grinsen.
„Ja, weil ich dich einlade,“ erwiderte Kei, ebenfalls grinsend.
„Dann mache ich mich ganz besonders hübsch,“ versprach Colin wimpernklimpernd und tänzelte mit einer ausladenden Geste an Kei vorbei in Richtung Tür. Der musste lachen.
„Lass dir Zeit, das fängt erst gegen 21 Uhr an.“

Kurz nach Colin verließ er den Raum, um Dennis zu finden. Er steckte den Kopf in dessen Zimmer und fragte: „Bist du hier?“
Tatsächlich war er das. Und wie er das war. Er war gerade im Begriff, seine Motorradmontur anzulegen und hatte es vor Keis unangemeldetem Eindringen gerade noch geschafft, den Reißverschluss der engen Lederhose zu schließen und hielt nun mit leicht verdutztem Blick ein T-shirt in der Hand. Schulterzuckend öffnete er die Arme um seine Präsenz zu bestätigen.
„Darf Colin heute mit mir weggehen?“ Kei blieb in der Tür stehen. Dennis hob eine Augenbraue.
„Nein,“ sagte er unbekümmert und zog sich das T-shirt über.
„Komm schon. Ist nur ein Konzert.“
„Oh, also nur so fünfzig bis zweihundert Leute um euch herum, die ihn erkennen könnten. Klar doch,“ sagte Dennis trocken und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen doch eh verkleidet raus, also erkennt uns keiner,“ versuchte Kei ruhig.
„Vorschlag,“ sagte Dennis, während er die Jacke zuzog und sich Kei zuwandte. „Ruperts Stunt bei der Gala scheint ja funktioniert zu haben. Verkleide ihn so, bis zur Unkenntlichkeit, und ich gebe euch Delilah mit.“
„Einverstanden.“ Delilah war Keis Lieblingsverwandtschaft, wenn man das so nennen konnte. Sie mitzunehmen empfand er nicht als Bestrafung.
Für Kei hieß Verkleiden meist nur, seine Augenfarbe und Tattoos verschwinden zu lassen an denen man ihn sonst zu einfach erkennen würde. Den Rest erledigte das Geistesbeeinflussungstalent, in dem Dennis ihn in letzter Zeit ausbildete. Die Tragweite von Dennis‘ telepathischer Fertigkeit wurde ihm so erst nach und nach bewusst, und er verstand nun, warum sie beide so einfach in den Keller mit den Grubenkämpfen spazieren konnten, aus dem sie Colin befreit hatten.
„Gut. Brauchst du Geld für Ivys Verkleidung?“ fragte Dennis, indem er sich ein paar Kleinigkeiten von der Kommode nahm und sie in diversen Taschen verstaute.
„Ja. Ich bin nicht reich.“ Den Plan Colin zu unterbreiten würde noch amüsant werden. Wie vor allem sollte er es anstellen, dass Colin bei der Auswahl der Kleidung, mit der Kei - wenn man von seinen Fantastereien mal absah - völlig überfordert war, mithelfen konnte? Während Dennis so auf ihn zuging, dass es offensichtlich wurde, dass er ihn von seiner Zimmertür verscheuchen wollte, patschte er ihm einen Hundertpfundschein auf die Hand und nahm schonmal die Türklinke in die Hand.
„Dann mach mal.“
„Viel Spaß noch,“ sagte Kei dankend nickend und verschwand wieder.

Mit dem Geld ging er zu Colin, an dessen Badezimmertür er klopfte.
„Gute Neuigkeiten! Du darfst mitkommen. Dennis hat aber Bedingungen aufgestellt.“
Colin öffnete die Tür und taperte daraufhin gleich wieder zu seiner Stereoanlage die Rupert ihm hier hineingestellt hatte, um den Ton leiser zu drehen.
„Was für Bedingungen?“ Er konnte seine leichte Aufregung nicht ganz verbergen. Er durfte raus! Zu einem Konzert!
„Erinnerst du dich an das Kleid?“
„... Ich soll mich als Mädchen verkleiden.“ Colin wusste nicht, ob er laut loslachen oder angewidert sein sollte. Beides sah man auf seinem Gesicht.
„Ja. Und wir sollen Delilah mitnehmen.“
„Oh. Als Leibwächter,“ riet Colin.
HAHAHAHAHAHA! tönte auf einmal Delilahs Geistesstimme in Keis Kopf.
Dennis ist schuld. „Wohl eher als Aufpasser.“
„Ist doch das gleiche. Aber wie, bitte, soll dieses Kleid der Unauffälligkeit dienen, frage ich mich?“ Colin hob die Augenbrauen und breitete fragend die Arme aus.
Das wird ein Spaß, sagte Delilah in Keis Kopf in einem gemeinen Ton, den Kei bereits aus diversen Prügelrunden mit ihr gut kannte.
„Die Instanz hat dich als männlich auf dem Fahndungsblatt. Auf der Gala warst du sehr überzeugend.“ Lass ihn Spaß haben, entgegnete Kei seiner Schwester in Gedanken. Er hielt den Geldschein in die Höhe. „Dennis hat uns Geld gegeben. Also für dein Zeug.“
„Damit ich nicht als Alice im Wunderland rumlaufen muss. Nett von ihm...“ Colin sah den Schein misstrauisch an.
„Du musst mir sagen, was du haben willst, dann geh ich einkaufen.“ Und errege jede Menge Aufmerksamkeit...
„Äh... was überzeugendes, nehme ich an...“ Hilfloses Schulterzucken. Hilfloserer Gesichtsausdruck.
Es klopfte an der Tür.
Kei drehte sich um. „Dein Outfit, deine Entscheidung.“
„Okay okay, warte! Komm rein,“ sagte er zur Tür, durch die nun Delilah spaziert kam. Ihr Gesicht war auf den ersten Blick stoisch wie immer, doch Kei konnte darauf den Ansatz eines schadenfrohen Schmunzelns erkennen, das Colin völlig entging.
„Ich habe keine Ahnung, ich trage immer nur sowas hier,“ sagte Colin eilig und gestikulierte an seinen Jeans und Sweatshirt herunter.
„Weiß ich. Delilah. Frauenkleidung für Colin. Was würde ihm stehen?“ Und hör auf zu grinsen!
Sie machte eine Show daraus - zumindest für ihre unterbetonten Verhältnisse - Colin von oben bis unten zu betrachten, und deutete dann mit an den Oberschenkeln ausgebreiteten Händen einen Rock an.
„Aber was für einen?“ Kei sah zwischen Colin und Delilah hin und her. Ein auf dem Bein entlanggezogener Finger sagte ‚kurz‘. Dann hob sie ein Bein an und klopfte sich auf einen Motorradstiefel.
„Das verstehe ich zwar nicht, aber sie scheint bescheid zu wissen,“ bestimmte Colin nervös.
Material oder Farbe? fragte Kei mit Blick auf Delilahs Stiefel.
Alles, entgegnete sie. Sie setzte ihren Fuß wieder auf und winkte Kei zu sich, mit einer Geste, die ‚Motorradfahren‘ ausdrückte.
Alles klar, das kriege ich hin. Was als Oberteil? Kei war eindeutig damit überfordert. Sie winkte ihn wieder zu sich, nachdrücklicher, und wandte sich zur Tür. Dann blickte sie zu Colin, tippte sich dabei auf das Handgelenk und hielt zwei Finger hoch. Der Junge nickte hilflos. Kei schaute sie fragend an.
Komm! sendete sie ungeduldig beim Hinausgehen. Kaufen.
Okay, okay. „Wir beeilen uns,“ versicherte er Colin beim Verschwinden.
„Okay...“ Colin winkte kurz langsam.

Keine zwei Stunden später waren sie zurück und Kei kam sich erschöpfter vor als nach jedem Training mit Yukio oder Delilah. Sie fanden Colin wieder in seinem Zimmer, wo er in weiser Voraussicht seine Ivyperücke hervorgekramt und vorsichtig gekämmt hatte. Er schien sich von seiner eigenen Überforderung erholt zu haben und begutachtete ihre Einkäufe mit weniger Skepsis und Schrecken als befürchtet. Zu dem - wirklich sehr kurzen - Faltenrock mit schwarzer Wollstrumpfhose musste er nicht einmal ein kompromittierendes neues Oberteil anziehen, sondern einfach eins seiner engeren Sweatshirts. Mit den Bikerstiefeln und dem Lederschmuck mit Ketten und Nieten konnte er sich auch abfinden. Kei war mit den Einkäufen ziemlich zufrieden, dafür, dass er noch nie Frauenklamotten gekauft hatte, und beobachtete Colin beim Auspacken der Einkäufe. Der sagte kein Wort und sah nur auf die Uhr, um abzuschätzen, wieviel Zeit noch blieb. Genug.
Ohne Delilahs und Keis Anwesenheit über einen neutralen Blick hinaus noch weiter zur Kenntnis zu nehmen, zog er sich das Sweatshirt aus. Kei grinste leicht und beobachtete Colin ungeniert weiter. Augenbrauen hochgezogen, drehte Delilah sich auf der Stelle um und verließ den Raum. Kei bemerkte sie verschwinden, aber das kümmerte ihn nicht wirklich.
Da war noch etwas in der Strumpfhosentüte. Colin wühlte darin, hielt inne und wurde rot. Mit einem verstohlenen, unlesbaren Blick nahm er sich die ganze Tüte, Strumpfhose und Rock und marschierte brüsk ins Badezimmer. Kei musste leicht lachen, weil er sich denken konnte, was Colin gerade gefunden hatte.
„Halt die Schnauze,“ kam gedämpft durch die Badezimmertür. Was man nicht alles für ein Konzert und eine Pause vom goldenen Käfig tat...

Tuesday, August 23, 2016

Kei + Colin LXXXV: Reset

|Goethes Erben - Vermisster Traum (Youtube)|


 Kei stand auf, nahm Colin dabei etwas grob mit hoch und drehte ihn um, sodass der Kleinere mit dem Rücken zu ihm stand und folgte Delilah. Colin zog er dabei einfach mit sich. Widerwillig stolperte dieser mit. Unterwegs knurrte er leise weiter, während Delilah sie zwischen Beeten und Rasenstücken in einem weiten Bogen um das Schloss herumführte, um sich ihm von der Küchen- und Garagenseite aus zu nähern, wohin sich kein Gast begeben konnte. Dabei flankierte sie Colin und musterte ihn skeptisch, wenn sie nicht gerade nach Beobachtern Ausschau hielt.
Durch eine Bedienstetentür gelangten sie hinein und mit Delilahs Hilfe unbemerkt in Colins Zimmer, wo Dennis schon auf sie wartete. Er verschloss sofort die Tür, nachdem sie ihn hineinmanövriert hatten. Den Schlüssel ließ er aber in der Tür stecken. Delilah war draußen geblieben und ging wieder auf ihren Wachposten im Park.
Mit besorgtem Blick zeigte Dennis auf einen Stuhl, den er in die Zimmermitte gestellt hatte. Kei verfrachtete Colin mit Leichtigkeit darauf. Es war zwar störend, aber nicht hinderlich, dass Colin nicht besonders kooperativ war.
„Erklär‘ mir das,“ forderte Kei von Dennis.
Weil Colin natürlich nicht sitzenbleiben wollte, schlang Dennis die Kordeln der Vorhänge, die er auch in Vorbereitung bereits abgenommen hatte, um seine Beine und den Oberkörper und fesselte ihn so an Stuhlbeinen und Lehne fest. Als er damit fertig war und Kei ihn auch loslassen konnte, trat er etwas zurück und betrachtete Colin. Er sah eigentlich nicht mehr nur besorgt aus. Sondern bedauernd. Als würde er jemandem beim Sterben zusehen. Kei musterte Colin und Dennis.
„Was ist mit ihm los?“
Dennis blinzelte. Sein Gesichtsausdruck war entweder endlos traurig und verzweifelt oder ein wenig angewidert. Vielleicht beides.
„Ich weiß nicht genau. Es ist merkwürdig... Sein Kopf ist... Ich kann nichts hören. Ich finde keine Gedanken.“
„Er hat versucht, mich anzugreifen.“ Kei stand relativ dicht bei Colin. Der reckte den Kopf in seine Richtung, legte ihn auf seine eigene Schulter und sah Kei treuherzig an, auf seiner Zunge und seinen Lippen kauend.
„Er will fressen,“ sagte Dennis. Während er Colin zusah, wurde sein eigenes Gesicht niedergeschlagener.
„Das hab ich auch schon festgestellt. Aber er ist weder er selbst, noch die skrupellose Version von sich selbst...“
„Nein, er ist noch eine Stufe weiter...“ sagte Dennis, Colin nachdenklich weiter musternd. „Erinnerst du dich an die Videomontage in den Gruben?“
„Ja, wieso?“
Dennis zeigte auf Colin, der sofort den Finger fixierte.
„Das ist der Ghul, glaube ich.“ Als Dennis' Finger sich wieder krümmte, begann Colin, kehlig und rauh zu lachen, was schnell wieder abebbte und in einen langen, dünnen Quietschlaut überging, als er den Kopf auf der Lehne zurücklegte. Kei sah ihn an.
Colin? Steckst du da noch drin? Vergiss nicht, du darfst nicht draufgehen.
„Kannst du ihm was zu fressen besorgen?“
Dennis nickte, den ernsten Blick nie von Colin abgewandt.
„Natürlich.“ Gerade als er sich abwandte und zur Tür ging, schwoll Colins leises Winseln schmerzerfüllt an und sein Gesicht verzog sich wie zuvor im Garten. Er sah aus, als würde er schreien, doch der Laut aus seinem Mund war hoch und leise.
„Maaahm...“ wimmerte er und fing an zu weinen. Kei wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. „Mum, mum... muuum...“ winselte er weiter, während Dennis sich wieder langsam umwandte, um ihn weiter zu beobachten. „Go on, go on, more, please, more,“ flüsterte er hechelnd, während seine Augen blind auf die Decke starrten. Stöhnend wand er sich in den Fesseln. „One, two, three, four, five, five, five, five, fiiive... much five, Kei...“ Er drehte den Kopf in jede Richtung, bis er Kei in die Augen sehen konnte, und das tat er auch. Weinend und schluchzend und mit fassungslosem Blick. „Ich... kann... nicht... mehr zählen... zu viele... Kei... Kei... au...“
Dennis hatte einen starren, schockierten Gesichtsausdruck. Verstohlen wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen. Kei stand ganz ruhig da. Etwas - ziemlich - überfordert. Er wusste weder, was er sagen noch was er tun sollte.
„Er hat Schmerzen,“ sagte Dennis schließlich. „Oder er glaubt, welche zu haben.“ Er trat neben Colin, gegenüber von Kei, und legte die Hände auf Colins Hinterkopf und die feuchte Stirn, nachdem er ihm die Perücke abgenommen und sie hinter sich auf das Bett geworfen hatte. Colin blinzelte Kei immer noch hilflos an und wand sich in den Kordeln. Kei machte ihm die Hände los.
„Was passiert mit ihm?“
„Lass ihn gefesselt!“ warnte Dennis.
„Meinst du, er geht wieder auf uns los?“ Kei befestigte Colin so, dass es bequemer war, er da aber nicht rauskam. Er wand sich nur noch mehr und sein Stöhnen und Wimmern hörten auch nicht auf.
„Ja.“ Etwa eine Minute lang hatte Dennis stumm die Augen geschlossen und hielt Colins Kopf fest. Während dieser Minute wurde Colin erst ruhiger und leiser, ehe er sich wie draußen im Garten zusammenkrampfte und zu zucken begann, wieder mit diesem kehligen Knurren, das nun auch genausogut ein nicht ausgestoßener Schrei sein konnte. Nur sein Kopf blieb still, weil Dennis ihn ungerührt weiter festhielt.
Kei setzte sich vor Colin auf den Boden und sah ihn einfach an. Man konnte nicht erkennen, was in Keis Kopf vorging. Er machte sich Sorgen. Das hieß aber nicht, dass man das auch sehen sollte. Dennis hingegen konnte man seine Sorge deutlich ansehen. Oder vielmehr wie resigniert er sein musste, als er die Hände von Colin nahm und der Junge sich sofort wieder beruhigte, ohne jedoch ganz stillzuhalten.
„Ich kann das nicht ganz verstehen,“ sagte Dennis vorsichtig. „Ich kann nur spekulieren.“ Er sah Kei nachdenklich an. „Diese Prozedur ist nicht für Menschen gedacht, sondern für Vampire. Und die Dinge, die er erlebt hat, haben auf ihn einen anderen Effekt als sie auf uns gehabt hätten.“ Er legte den Kopf schief, während er laut nachdachte. „Wir sind darauf ausgelegt, Menschen zu jagen und zu töten, er nicht. Wir werden viel älter als Menschen, nicht nur körperlich. Wir haben von allem mehr als sie - Alter, Kraft, Geschicklichkeit, Konstitution... Erinnerung... unsere Psyche hält viel mehr aus als eine menschliche.“
Colin war dazu übergegangen, auf seiner Zunge und den Innenseiten seiner Wangen herumzukauen und richtete dabei deutlich hörbar Schaden an, während er dumpf an die Decke starrte. Dennis zog ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche und riss damit einen breiten Fetzen aus der schönen Bettwäsche, um ihn damit zu knebeln. Er wehrte sich nicht, sondern kaute nun nur auf dem Stück Stoff herum.
„Wenn die Instanz das weiß...“ Davon ging Kei einfach aus. „Warum machen sie das dann?“ Das war doch mehr als dumm. Gut, Colin starb nicht mehr - oder war vielmehr einer permanenten Verwandlung unterzogen, die anscheinend mehrere Tode brauchte, aber davon hatte die Instanz gar nichts. Und ob Kei wirklich nicht zu töten war, war noch nicht bewiesen.
Der Vampir sah Colin an und hoffte für sich, dass sein Freund nicht ganz tot war, nicht ganz weg. Er fixierte Colins Augen mit seinen. Irgendwann starrte Colin sogar zurück. Blind und leer.
„Ich glaube nicht, dass die Instanz das wusste, bevor sie ihn hier in England entführt hat. Das Experiment wird sonst nur an Vampiren durchgeführt. Es ist auch nur für Vampire gedacht. Darum bist du für sie wichtiger als er. Aber auch solche... Kreaturen kann man sich zunutze machen. Guck ihn dir an. Er ist eine hirnlose Fressmaschine, die man nicht endgültig umbringen kann, solange der Partner noch lebt. Ist doch echt nützlich,“ sagte Dennis bitter. „Du kannst ihn mit Maulkorb im Zwinger halten.“
„Bleibt er die ganze Zeit so oder steckt Colin da noch drin?“ Praktisch denkend würde Kei seinem unbrüderlichen Halbbruder sogar zustimmen, aber praktisch denken war im Bezug auf Colin nicht seine Stärke.
„Beides. Er ist noch da drin. Zusammen mit ein paar alternativen Persönlichkeiten und Erfahrungen, die wahrscheinlich kein Mensch überleben würde, ohne wahnsinnig zu werden. Wenn er nicht ständig so bleibt, wird er mit Sicherheit immer wieder in diesen Zustand fallen, und wenn er wieder rauskommt, ist er noch ein bisschen kaputter, jedesmal.“
Und er hat mich Bluthund genannt... Kei seufzte.
Colin war wieder dazu übergangen, zu knurren und zu zappeln, und reckte sich Kei mit wütendem, hungrigem Blick entgegen. Sein Mund bearbeitete das nun von Speichel und Blut triefende Stück Stoff weiter. Kei saß außerhalb jeglicher Gefahrenzone, also blieb er sitzen und sah ihm weiter in die Augen. Dennis setzte sich auf die Bettkante und rieb sich über das Gesicht. Als Colin es schaffte, den Stuhl nach vorn kippen zu lassen, packte er die Rückenlehne und zog ihn wieder aufrecht.
„Also... es gibt da...“
„Hm?“ Kei bewegte sich nicht, hörte aber zu.
„Entweder sperren wir ihn so weg oder wir bringen ihn um. Oder...“
„Oder was? Ich will ihn weder einsperren noch umbringen.“
Stöhnend und durch den nassen Lappen schreiend stemmte Colin sich wie unter Schmerzen gegen die Stuhllehne.
„Ich auch nicht. Ich weiß aber nicht, ob - ich habe sowas noch nie gemacht, aber ich würde es lieber versuchen, als Colin sich so zu überlassen oder zu riskieren, dass du bei seiner Erlösung mit draufgehst.“ Dennis stand wieder auf und strich sich nervös über das Kinn. „Wenn ich mit meiner Spekulation Recht habe, dann könnte es helfen, wenn ich Teile seiner Erinnerung lösche.“
„Versuch's.“ Egal, wie er draufgeht. Ich geh mit drauf.
„Gut. Es wird länger dauern und ich brauche wahrscheinlich mehrere Anläufe. Und es wird wehtun, glaube ich. Wenn es schiefgeht, bekommt er noch ein Trauma dazu.“
„Dann lass es nicht schiefgehen.“ Schmerzen hat er so auch...
Nun hielt Colin still und weinte wieder. Er summte irgendeine Melodie. Dennis stellte sich hinter ihn und packte wieder seinen Schädel, nun weniger vorsichtig als zuvor. Colin zuckte zusammen und stemmte sich wieder gegen die Seile, während Dennis die Augen zusammenkniff.
„Sorg dafür, dass er still bleibt. Wir können hier keine Gesellschaft gebrauchen.“
Kei hörte genauer hin. Behalte die guten Erinnerungen. Sonst muss ich dir so viel erzählen... Er knebelte Colin vernünftig mit dem Stoffstück. „Gomen ne.“
Nach kurzer Zeit begann Colin wieder zu schreien, von den Knebeln unterdrückt und durchsetzt von Knurren und Schluchzen. Er zuckte, bis er den Stuhl zum Wackeln brachte.
Nach einigen Minuten atmete Dennis durch und lockerte seinen Griff. Colin sackte zusammen und blieb so scheinbar bewusstlos liegen, als Dennis weitermachte, mit was immer er da in seinem Kopf tat. Kei saß vor ihm und hatte seinen Kopf einfach ungefragt auf Colins Schoß gelegt. Er konnte ihm gerade nicht helfen, aber er konnte wenigstens da sein.
Es dauerte lang.
Im Laufe der folgenden Stunde pausierte Dennis ein paarmal, jedesmal ein bisschen länger, bis er sich schließlich auf die Bettkante setzte und sich mit einer Ecke der Bettdecke das Gesicht abwischte. Colin lag reglos im Stuhl und atmete flach und langsam. Keis Kopf lag still auf Colins Knien, während er die Augen aufmachte und lauschte. Am deutlichsten konnte er Dennis' schweren Atem hören, und das Rascheln seiner Kleider und der Bettwäsche, während er sich auf die Knie stützte und sich die Handballen auf die Augen drückte. Kei setzte sich leicht auf und sah Colin an.
Er sah aus, als würde er schlafen. Kei schaute kurz hinüber zu Dennis, dann zu Colin.
„Schläfst du?“ fragte er ihn überflüssigerweise. Der reagierte überhaupt nicht. Nur Dennis richtete sich auf und stand vorsichtig auf, so als ob er erwartete, dass seine Knie nachgeben würden. Kei drehte sich leicht in Richtung Dennis, irgendwie erleichtert, dass Colin nicht mehr sterbend aussah. Dennis machte den Mund auf um etwas zu sagen, aber winkte dann nur schwach ab und wankte an Kei vorbei zur Tür. Kei drehte sich so, dass er an den Stuhl gelehnt sitzen konnte. Das tat er nicht lange. Er machte Colin los und legte ihn aufs Bett, dann legte er sich daneben.
Colin schlief friedlich durch die Nacht, rollte sich zwischendurch sogar ein bisschen in die Decke und trat dabei die Perücke auf den Boden, die Dennis ihm abgenommen hatte. Irgendwann waren auf dem Flur aufgeregte Stimmen zu hören und ein leichtes Rumpeln an der Tür, doch es kam niemand herein.
Kei blieb die meiste Zeit bei ihm. Er schlief kaum, aber das störte ihn nicht. Schlaf war purer Luxus. Er lauschte auf die Geräusche um sich herum, Colin, das was draußen vor der Tür stattfand, was draußen im Garten passierte.
In der Zeit, in der Colin dalag, ging Kei in sein Zimmer um sich umzuziehen und die Kontaktlinsen herauszunehmen. Er ließ Colin für eine Weile alleine um seinen Hunger zu stillen und kam dann wieder zurück. In Jogginghose und Tanktop legte er sich neben ihn.
Rupert verlangte noch ein paarmal Einlass, der ihm jedoch jedesmal von irgendjemandem vor der Tür verwehrt wurde.
Erst als das Tageslicht den Raum merklich aufgewärmt und Colin die flauschige Bettdecke wieder weggetreten hatte, bohrte er langsam den Kopf etwas in das Kissen und blinzelte. Kei lag dicht bei ihm. Colin sah ihn an, gähnte, drehte sich auf den Rücken und setzte sich langsam auf.
„Alles okay?“
„Huh?“ Colin sah schläfrig zu Kei und dann an sich herunter. Stirnrunzelnd. „What the hell?“
Kei musterte ihn und fragte sich, wie viel Colin noch wusste.
„What the-“ Colin nahm eine Falte seines Rockes und hob sie hoch, so als ob er mit den Fingern nachprüfen musste, dass sein Aufzug real war. Das lenkte seinen verdutzten Blick auf das Bett und den Rest dieses Schlosszimmers, und zurück zu Kei.
„Was ist das letzte, an das du dich erinnerst?“
„Was soll die bescheuerte Frage? Was soll das hier bitte?“ Er gestikulierte in der Luft herum, meinte scheinbar den ganzen Raum und seine Kostümierung.
„Ist ‘ne längere Geschichte und wenn du mir sagst, was gestern passiert ist, weiß ich wie lang sie ist.“
„Was soll passiert sein? Schule, du hast mich angezeckt, das Übliche halt.“ Colin wandte sich zur Seite um aufzustehen. „Wo sind wir hier?“
„In England.“ FUCK.
„Ja, klar!“ Colin prustete los, kriegte sich aber gleich wieder ein, als die Absätze der Stiefel unter ihm wackelten und er sich erst einmal ausbalancieren musste. „Fuck this,“ brummte er daraufhin und kniete sich hin, um sich die Stiefel auszuziehen. „Ernsthaft jetzt, was ist das hier?“
Wenn das letzte, woran er sich erinnert, Schule ist... dann weiß er ja fast gar nichts mehr.
„Das könnte eine sehr lange Geschichte werden....“ dachte Kei laut. Sie waren, seit Colin bei ihm untergetaucht war, nicht mehr gemeinsam in der Schule gewesen. Das war mehr als zwei Jahre her.
Als Colin es geschafft hatte, sich beide Stiefel runterzureißen und sich wieder aufrichtete, sah er sich mit in die Hüften gestemmten Händen noch einmal um und sein Gesichtsausdruck wandelte sich merklich zu etwas, das wie mildes Staunen aussah.
„Willst du die ganze Geschichte oder eine Kurzversion?“ Kei setzte sich auf.
„Sht, warte,“ sagte Colin und winkte hastig ab. „Das hier ist mein Zimmer. Wir sind bei Rupert zuhause.“
„Ja.“
Er stinrunzelte Kei misstrauisch an. „Was machst du dann hier?“
„Ich bin länger hier als du.“
Colins trockener Blick sagte genug. Nämlich, dass er diese Behauptung für dreisten Unsinn hielt und lieber die richtige Antwort hören wollte.
„Wir wurden angegriffen, relativ kurz nachdem wir in England ankamen. Du wurdest entführt und ich bin hier gelandet.“ Kei erzählte die Geschichtsfetzen ruhig und absolut glaubwürdig.
Colin atmete durch. Er wirkte genervt und glaubte offensichtlich nichts davon.
„Gut. Ich regel das.“ Forsch marschierte er zur Tür, machte aber gleich darauf halt, weil sie sich plötzlich öffnete. Rupert glotzte ihn wie ein Gespenst an.
„Dennis took his memory. Well, everything after school in Japan,“ warnte Kei.
„What?“ Irritiert schüttelte Colin den Kopf und wandte sich wieder Rupert zu. „What's this twat doing here, pray tell?“ forderte er mit anklagendem Fingerzeig auf Kei auf dem Bett hinter sich. „... In my bed?“ spezifizierte er mit Nachdruck und einem genervten Blick, als Rupert sich außer Stande sah, sofort zu antworten und nur weiter glotzte. Kei seufzte genervt.
„Could you tell him what happened so far? I need to find Dennis to thank and kill him. Colin? Wie alt bist du?“ Kei wollte wissen, welcher Tag der letzte war, an den Colin sich erinnern konnte.
„Vierzehn, immer noch. Und du meinst, mein Gedächtnis wäre nicht in Ordnung,“ schnaufte Colin augenrollend.
Rupert hatte sich etwas gefangen und deutete mit Blick auf Kei über seine Schulter um anzuzeigen, dass Dennis gleich draußen sein müsste.
„Look, Colin, there‘s something I need to explain to you,“ begann er.
„Yeah. Like this here,“ schnappte Colin, indem er wild an sich herunterzeigte. Das Kleid.

Nicht mal sein Geburtstag im Park?... Kei suchte Dennis, fand ihn sehr schnell und blieb neben ihm stehen. „Er weiß nichts mehr. Gar nichts. Das letzte, woran er sich erinnert ist irgendein Schultag in Japan relativ kurz nachdem wir uns begegnet sind.“
Dennis, irgendwo im Flur an die Wand gelehnt, schien sich in der Zwischenzeit nicht ausgeruht zu haben. Er trug immer noch die Kleider vom vorigen Abend und dazu einen müden Blick. Er nickte langsam.
„Ich habe alles schädliche gelöscht, das ich finden konnte. Und ich habe ihm etwas neues gegeben,“ sagte er matt.
„Was ist das Neue?“
„Er glaubt jetzt, dass seine Mutter und ihr Lebensgefährte bei einem Verkehrsunfall gestorben sind. Dass Rupert sein Pate ist und er darum jetzt hier bei ihm lebt. Er weiß nichts von der Instanz, von Vampiren... nichts mehr davon.“
Er weiß wenigstens noch, wer ich bin... So halbwegs... Kei seufzte und lehnte sich an die Wand.
„... well, he's not!“ tönte Colins aufgebrachte Stimme durch die Tür. „All right, thank you!“ rief er danach patzig. Und: „Jesus Christ!“
Eine Tür wurde lautstark zugeworfen und Rupert kam wie ein begossener Pudel auf den Flur.
„He did not believe you one word. I heard him.“ Kei starrte die Wand an. Das konnte ja heiter werden.
„He did. He just doesn‘t like the story I told him.“ Rupert seufzte und lehnte sich ihnen gegenüber an die Wand, die Kei gerade mit seinem Blick durchlöcherte.
„The story being,“ erklärte Dennis, „that out of sheer coincidence, your half brother and sister happen to be friends with Rupert, and that we brought you along as his school friend, to make things easier for him here, what with his mother dead and him in a new place again.“
„He says you‘re not friends, though,“ fügte Rupert hilfreich hinzu.
„You must know, we weren‘t really friends back at this time.“
Rupert nickte ratlos.
„Still, you‘re my brother, it‘s still a good excuse,“ sagte Dennis.
Dass Keis und Colins Beziehung zu jenem Zeitpunkt daraus bestanden hatte, dass Kei sich an Colins Blut gütlich getan hatte und sie sich ansonsten eigentlich immer angezickt hatten, obwohl Kei damals schon andere Gedanken bezüglich Colin hatte, musste er Rupert und Dennis ja nicht auf die Nase binden.
Er nickte.

Die Spuren der Gala vom Vorabend waren längst sämtlichst beseitigt und alles war wieder an seinem gewohnten Platz. So auch das Mobiliar im Salon, wo es nun Abendessen geben sollte. Colin hatte sich mürrisch in seinem Zimmer eingeschlossen und wurde nur durch den Hunger hinuntergetrieben. Er hatte wieder seine eigenen Kleider an und dazu die Mütze, um seine immer noch Fast-Glatze stylisch zu verdecken, als er in den Salon trat, wo schon alles eingedeckt war.
Das Abendessen mit Rupert und Jane begann in betretener Stille, doch zog sich schlussendlich durch ein ausgedehntes Gespräch in die Länge, das Colin dann lange nach Sonnenuntergang etwas nachdenklicher wieder in sein Zimmer hinaufgehen ließ.
Kei spielte immer noch auf seiner neuen Gitarre, was Colin leise in seinem Zimmer hören musste. Der Vampir würde an diesem Tag nicht unbedingt das Gespräch mit dem Kleineren suchen. Er war in erster Linie froh, dass er noch lebte.
Colin hörte in der Tat durch die Tür den Gitarrenklängen zu. Zumindest für eine Weile. Irgendwann klopfte er an Keis Badezimmertür.
Für dich ist all das nie passiert... Kei legte die Gitarre beiseite.
„Ja?“
Langsam kam Colin herein, mit einem friedlichen Halblächeln auf dem Gesicht und den Händen in den Hosentaschen.
„Ich wusste nicht, dass du Gitarre spielst. Das war gut,“ bot er an. Kei seufzte. Man konnte meinen, er sei traurig, dass Colin alles vergessen musste, aber das ließ er den Kleineren nicht sehen.
„Danke.“
„Pass auf, uhm, es tut mir Leid, dass du meinetwegen hier sein - nein, warte, anders...“ Er spazierte zur nächstgelegenen Kommode und fummelte da an einer Glasschale herum. „Also, wenn du‘s hinkriegst, kein Arschloch zu sein, werde ich auch keins sein, in Ordnung?“
„Ich werd‘ mir Mühe geben.“ Kei war der Meinung, dass sein Versprechen auch galt, wenn Colin es nicht wusste. Ob dem Kleineren wohl auffiel, dass Kei bunter war als zu diesem Zeitpunkt vor drei Jahren, der für Colin gestern war?
„Ich kann dir auch helfen, dich hier zurechtzufinden,“ bot Colin nach einem etwas forcierten Luftholen an, indem er unschlüssig mit den Armen ruderte. „... Wenn du willst.“ Dann fiel sein wandernder Blick auf Keis Schultern, über die sich die farbenfrohen Ausläufer seiner großen Rückentätowierung rankten, und wurde etwas ernster. „Ach nein, komm...“ sagte er wie ein resignierter Nachhilfelehrer. Er ging etwas auf Kei zu und in einem weiten Bogen um ihn herum, um mehr von seinem Rücken zu sehen, der durch das Tanktop nicht ganz verdeckt war.
Kei fand es irgendwie bemerkenswert, wie Colin sich von Colin unterschied.
„Ich kenn mich hier ganz gut aus, aber danke,“ sagte er ruhig und ließ sein Tattoo von dem Kleineren betrachten.
„Hast du darum ständig Probleme? Weil du was mit der Yakuza zu tun hast?“ sagte Colin fordernd und beugte sich in noch ziemlich großem Abstand etwas vor, um die sichtbaren Teile der Geisha und ihrer bunten Umrahmung anzusehen.
„Kommt drauf an, von welchen Problemen du redest,“ entgegnete Kei.
„Dein mieses Benehmen zum Beispiel, wie der letzte Penner in der Schule aufzutauchen zum Beispiel, mich vom Konzerthausdach mit Geld zu bewerfen zum Beispiel, mich dafür dann noch zu bedrohen zum Beispiel... Ooh, bist du darum hier? Nicht um mir Gesellschaft zu leisten, sondern weil du untertauchen musst?“
„Wenn du das Probleme nennst, nein. Das hat...“ Hatte „nichts mit der Yakuza oder der Verfolgung durch die Polizei in Japan zu tun.“ Das ist dafür schon zu lange her.
Mit hochgezogener Augenbraue sah Colin ihn trocken an. „Yakuza ist aber richtig?“
„Ist ‘ne Weile her, aber ja.“
„Eine Weile? Bist du als Kind in den Ruhestand gegangen, ja?“ Colin lachte.
„Ich hab‘ nicht gesagt, wie lang diese Weile ist.“ Kei zog seine Beine so an seinen Körper, dass er halbwegs gerade im Schneidersitz saß.
„Okay, du versteckst dich also nicht hier. Du bist nur hier, um deine Geschwister zu besuchen und dann gehst du zurück?“ Colin zuckte mit den Schultern und wanderte weiter langsam durch den Raum.
„Nein, ich bleibe hier.“
„Wieso? Zum Englischlernen?“
„Es gab andere Probleme.“ Englisch kann ich mittlerweile... You were my teacher, Mister.
Colin kaute ein bisschen auf seiner Unterlippe und zuckte dann wieder mit den Schultern. Er würde nicht fragen. Das könnte zu persönlich sein.
„Tja... also dann... wir sind friedlich, ja?“ Er bewegte sich wieder auf das Badezimmer zu. Kei gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Das hier überforderte ihn mehr als nur ein wenig.

Im Laufe der folgenden Woche suchte und fand Kei seine dringend benötigte Ablenkung in Form von Gitarrespielen, Gewalttrainings mit Delilah und privaten Sitzungen mit Dennis. Sein Halbbruder brachte für ihn eine Menge Licht in das Dunkel seiner Verständnislosigkeit, was diese rätselhafte Telepathie anging. Er zeigte ihm Übungen und beantwortete geduldig jede seiner Fragen. Scheinbar ging diese Fähigkeit auch mit einem kleinen Hypnosetalent einher, was ihm viel Erlebtes im Nachhinein plausibler machte. Endlich verstand er, was an der chilenischen Grenze passiert war, warum die Beamten sie einfach durchgelassen hatten, als er danach verlangt hatte. Nun ergab jedes Mal Sinn, an dem ihm seine Mahlzeiten willig und blauäugig geradezu in die Arme gelaufen waren.
Dass er einige von Colins Gedanken wahrnahm, als wären sie ausgesprochen worden, erklärte Dennis sich mit ihrer engen Verbindung, und er bat Kei darum, darauf zu achten, ob dieses Phänomen nun immer noch auftrat.
Doch das tat er nicht.
Colin ging ihm aus dem Weg, und das war ihm auch ganz recht. Sagte er sich selbst.
Delilah half ihm dabei, nicht an ihn zu denken, indem sie ihn mehrmals täglich fachgerecht verprügelte. Er gab ihr den Gefallen zurück. Sie war zwar spürbar erfahrener und geschickter als er, auch stärker und schneller, doch sie hatte keinen Yukio als Lehrmeister gehabt. Kei und seine Schwester hatten sich viel beizubringen. Das beste an ihr war jedoch, dass sie nicht mit ihm zu reden versuchte. Sie schaffte es, ihm nicht auf den Sack zu gehen.
Nach einer dieser fachgerechten und äußerst brutal anmutenden Prügeleien mit Delilah und dem neuerlichen Beinahezerlegen des Irrgartens machte Kei sich blutend auf den Weg in sein Zimmer um zu duschen. Er trug nicht mehr als eine kurze Hose, da er sonst ständig neue Kleider bräuchte. Kei sah übel zugerichtet aus, lief aber herum als käme er gerade von einer Runde Joggen. Dennoch fiel ihm auf, dass seine Blessuren der letzten paar Tage nicht in gewohnter Geschwindigkeit verheilten. Das gab ihm gegenüber Delilah keinen unfairen Vorteil und im Grunde machte es ihm auch nicht sonderlich viel aus, doch es gab ihm schon zu denken. Dennis hatte dafür auch keine Erklärung gehabt.
Als er sich schließlich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und es schon lange dunkel und still geworden war, öffnete sich vorsichtig seine Badezimmertür.
Auf dem Bett sitzend und die noch immer blutenden größeren Wunden mit Pflastern beklebend - das war ungewohnt - schaute er in Richtung der sich öffnenden Tür. Durch sie reckte sich Colins bemützter Kopf. Als er sah, dass Kei anwesend und wach war, schlüpfte er hinein und schloss vorsichtig und leise hinter sich die Tür. Er trug Mantel, Schal und Schuhe.
„Wo willst du denn noch hin?“ fragte Kei und legte das Verbandszeug beiseite. Eilig huschte Colin zum Bett und hielt sich dabei einen Finger auf die Lippen.
„In die Stadt, du musst mich decken,“ flüsterte er.
„Muss ich? Warum?“
„Vielleicht nicht, aber wenn jemand nachfragen sollte - ich muss außerdem kurz dein Handy sehen. Du hast doch eins?“
„Wenn du mir sagst, weshalb.“
Colin war noch näher gekommen und starrte Kei nun in der Dunkelheit an, als ob er dadurch irgendetwas wichtiges herausfinden wollte, bevor er noch etwas sagte. Schließlich flüsterte er: „Ich will nur kurz draufgucken.“
Kei erwiderte den Blick bis Colin fast bei ihm war und stand schließlich auf um dem Kleineren das Handy zu holen. Er suchte es aus seiner Jackentasche und hielt es ihm hin.
„Du willst nicht wissen wie spät es ist, oder?“
Doch, wollte er. Genau das wollte er wissen. Und was das Display ihm strahlend mitteilte, ließ ihn versteinert draufstarren. Kei musterte ihn.
Weiß er etwa nicht, welches Jahr wir haben?... Dann fiel ihm ein, dass der Kleinere glaubte, immer noch vierzehn zu sein.
Colins Schultern bewegten sich. Scheinbar atmete er schwerer. Sein Gesichtsausdruck war nachdenklich und schwer, als er Kei langsam sein Telefon zurückreichte. Kei nahm das Gerät an sich und legte es weg, Colin weiter musternd. Irgendwann musste das ja passieren.
Colin sah dem Handy nach, dann blickte er ratlos auf dem Fußboden herum.
„... Wir sind von Irren entführt worden, oder?“ flüsterte er. „... und dich foltern sie sogar,“ fügte er mit Blick auf Kei und seinen Zustand hinzu.
Von welchem Mal sprichst du? Kei wusste nichts darauf zu antworten. Dass Colin sein Gedächtnis ‚verloren‘ hatte war schon scheiße genug, aber dass er, verständlicherweise, anfing Fragen zu stellen, die Kei nicht wahrheitsgemäß beantworten sollte - schließlich war das Verrückte Colin offiziell nicht passiert - war fast noch schlimmer.
„Du müsstest besser wissen als ich, ob Rupert ein Irrer ist. ... Ich bin nicht gefoltert worden.“
Colins Blick war typisch skeptisch, als er Kei stirnrunzelnd weiter musterte.
„... Zweitausendvierzehn,“ sagte er schließlich. Kei schaute ihn fragend an. „Das ist das Jahr,“ erklärte Colin und zeigte auf das Telefon auf dem Nachttisch. „Das sagt sechzehn. Die Zeitung auch. Und das Fernsehen. Und Ruperts Kalender. Warum werde ich hier festgehalten und belogen?“
„Wir haben 2016,“ sagte Kei ruhig und verbarg seine Überforderung gekonnt. Du hast seine Erinnerungen nicht VERVOLLSTÄNDIGT? Du bist tot.
„Ja. Was ist mit den letzten zwei Jahren? Wo sind die?“ fragte Colin ruhig und streckte die Arme aus.
Das willst du nicht wissen... „Warte hier, okay?“
„Was, wo willst du – halt, warte!“ Er gab sich nun keine Mühe mehr, leise zu sprechen und beeilte sich, Kei den Weg zur Tür zu versperren. Kei hätte einen Satz über Colin gemacht, wenn das nötig gewesen wäre, aber stattdessen blieb er kurz stehen.
„Ich bringe kurz meinen werten Halbbruder um und komme dann mit Antworten zurück.“
„Deinen Halb- warte, bleib hier.“ Colin stellte sich vor die Türklinke und lehnte sich dagegen. „Was war die letzten zwei Jahre, was weißt du?!“
Fuck! „Es ist viel passiert, kann ich jetzt Dennis umbringen?“
Colin wusste nicht, was er von diesem Gedanken halten und wie ernst er diesen Ausspruch nehmen sollte, doch Keis augenblicklicher Zustand schien ihn realistisch wirken zu lassen.
„Er gehört doch dazu,“ flüsterte er eindringlich. „Wenn du irgendwas weißt, sag‘s mir! Bitte!“
Ich weiß mehr als ich wissen will und du mir jemals glauben wirst. „Ich muss trotzdem mit ihm reden.“
„Rede zuerst mit mir, bitte!“ flehte Colin und so sah er auch aus, verzweifelt und hilfesuchend. Er stemmte sich weiter gegen die Tür.
Ich will dir nicht wehtun, zwing mich nicht. Kei nahm Colin einfach hoch und setzte ihn neben die Tür, wobei er Blut auf Colins Jacke hinterließ. „Gleich.“ Er sprach ruhig und öffnete die Tür.
„Nein, bitte!“ Colin hatte keine Zeit, sich über Keis Kraft zu wundern und langte nur zwischen ihn und die Tür um zu versuchen, sie wieder zuzudrücken. „Ich weiß nicht, was er vorhat, bitte sag mir was du weißt!“ Er weinte fast. „Ich weiß dass wir keine Freunde sind und du mich nicht mal leiden kannst, aber du bist der einzige, der mit dem Laden hier vielleicht nichts zu tun hat.“
„Dennis will dir nichts, wenn du ihm nicht glaubst, glaub wenigstens mir.“ Ich hätte das auch gerne anders... „Ich komm wieder, nachdem ich ihn einen Kopf kürzer gemacht habe.“ Ich kann dich sogar sehr gut leiden. Das weißt du nur nicht...
Colin versuchte ihn beim Arm festzuhalten und wäre dabei noch nicht einmal sehr erfolglos gewesen, doch als er damit beinahe ein Pflaster abriss, zuckte seine Hand zurück und er vertat seine letzte winzige Chance, Kei zurückzuhalten.
Kei juckte es nicht, wenn Colin ihm die Pflaster abreißen würde. Sein Körper wurde etwas wärmer, während Colin bei ihm stand. Darauf vertrauend, dass der Kleinere gleich noch auffindbar sein würde, ging Kei zu Dennis.

„Wach auf. Es gibt ein Problem.“
Dennis hatte im Schneidersitz im geöffneten Fenster gesessen und begab sich nun von dort herunter. Außer seiner schwarzen Armeehose trug er keine Kleider.
„Ich hab‘s mitgekriegt,“ sagte er ruhig und ernst.
„Gut. Was mach ich jetzt? Ich kann ihm schlecht erzählen, was passiert ist und erwähnen, dass er so hart auf den Kopf gefallen ist, dass er Amnesie hat. Das glaubt er mir niemals.“
Dennis winkte ab, während er sich sein schwarzes Knöpfhemd von der Stuhllehne nahm. „Ich mach das schon. Du musst nur dabeisein und mir glaubwürdig beipflichten.“ In aller Ruhe zog er sich das Hemd über, während er zu Kei auf den Flur schlenderte. „Er muss nur zuhören, und dazu musst du ihn bringen. Er steigt übrigens gerade aus dem Fenster.“
Kei war schneller bei Colin als dem lieb sein konnte und hielt ihn fest. „Ich hab deine Antworten. Hör zu.“
Colin hing gerade unbequem mit den Armen auf dem Fensterbrett und dem Körper herunterbaumelnd aus dem Fenster und guckte Kei betrogen an.
„Musstest du erstmal nachfragen, was du mir auftischen sollst, ja?“ fragte er patzig und etwas atemlos. Kei zog ihn mühelos an einem Arm wieder in den Raum.
„Gegenteil,“ sagte er. „Ich wollte wissen, welche Details ich dir ersparen sollte, weil es besser ist, dass du dich nicht dran erinnerst.“ Kei klang so, als würde ihn das alles nicht weiter interessieren. Er wusste, dass Colin das einfach durchschauen konnte, wenn er denn wollte. Er vermutete, dass das aber gerade nicht der Fall war.
In dem Moment schloss sich die Tür hinter Dennis, der ihnen am Fenster Gesellschaft leistete, um sich auf die Fensterbank zu setzen. Colin musterte ihn misstrauisch. Die Tatsache, dass der Mann kaum angezogen war, ließ ihn irgendwie kaum harmlos wirken, denn sein Körperbau war dem von Sakai ziemlich ähnlich und seine Augen leuchteten in diesem Halbdunkel genauso seltsam wie Keisukes. Colin kam sich gerade vage so vor, als werde er von zwei Panthern in die Zange genommen. Mit einem Ruck nahm er seinen Arm zurück.
„Was war in den letzten zwei Jahren, warum soll ich mich nicht erinnern?“ forderte er. „Und warum kann ich mich nicht erinnern?“
„Weil ich einen Teil deiner Erinnerung gelöscht habe,“ sagte Dennis simpel mit einem dezenten wegschiebenden Fingerzeig.
„Du wärst sonst gestorben,“ sagte Kei ruhig. Ich hätte dich sonst umbringen müssen. Kei stand neben dem Fenster, ließ Colin los und passte auf, dass der Kleinere nicht wieder versuchte, aus dem Fenster zu springen. Er sah kurz zwischen Dennis und Colin hin und her. Colin tat das gleiche mit den beiden Brüdern vor sich und musterte sie abwechselnd misstrauisch.
„Wir beantworten alle deine Fragen, also schieß los,“ bot Dennis mit entwaffnend ausgebreiteten Händen an.
„... Wie löscht man Erinnerungen?“ Colin legte den Kopf schief. Sein Ton verriet deutlich, dass er nicht glaubte, dass das möglich war. Dennis schmunzelte leicht.
Nach ein paar stillen Überlegesekunden zog er einen seiner aufgeknöpften Hemdsärmel hoch und hielt Kei seinen nackten Unterarm hin.
„Schau gut hin.“ ‚Ich brauche einen gut sichtbaren Schnitt,‘ ertönte seine Stimme gleichzeitig in Keis Kopf.
Kannst du haben.‘ Kei nahm ein auf dem Nachttisch herumliegendes, eindeutig illegal großes Messer und schnitt damit Dennis‘ Unterarm auf. Nicht allzu tief und lang, aber gut sichtbar. Colin glotzte entgeistert, wie sich Dennis‘ weiße Haut und der Muskel darunter mit einem leisen Glitschen öffneten und daraufhin ein dunkler Blutschwall daraus hervorquoll, an ihm herunterlief und auf den edlen Teppich tropfte. Dennis sah bloß ruhig zu, machte kein Geräusch und zuckte nicht einmal. Er hob nur gelassen den Arm an seinen Mund und leckte der Länge nach langsam darüber. Dann streckte er seinen Arm wieder aus. Die Wunde verschwand.
„Wir sind Vampire,“ sagte er.
Kei beobachtete Colins Reaktion, während er das Messer wieder weglegte. Der starrte weiter auf Dennis‘ nun wieder heilen Arm. „Ein paar von uns haben telepathische Kräfte. Damit habe ich deine Erinnerungen gelöscht.“ Colins Blick schnappte zu Kei, dann wieder zu Dennis. „Kei und ich, Delilah und ein paar andere. Rupert nicht.“ Dennis schien auf ungeäußerte Fragen zu antworten.
„Und Delilah hat mich nicht gefoltert. Wir haben trainiert,“ erklärte Kei die amüsante Foltervermutung, die Colin zuvor geäußert hatte.
„... Okay...“ Noch immer konnte Colin sich nicht bewegen. „Warum hätte ich sterben müssen? Wusste ich etwas, das ich nicht wissen sollte?“ probierte er vorsichtig.
„Nein. Ich weiß nicht genau weshalb und, wenn du mir nicht glaubst, ist das auch okay, aber du warst dabei dich in einen Ghul oder sowas zu verwandeln,“ erklärte Kei ruhig. Er erwartete nicht, dass ihm geglaubt wurde. Er zog eines der blutigen Pflaster von seinem Arm. Das ist ja immer noch nicht ganz weg, was soll das? Es heilte zwar weitaus schneller als bei einem Menschen, aber die Wunde war schon einige Stunden da und immer noch gut sichtbar. Dennis blickte kurz zur Seite auf Keis freigelegte Wunde und wandte sich dann wieder Colin zu.
„Du hast in den zwei Jahren Erfahrungen gemacht, die kein Mensch geistig überstehen würde. Du hast dich selbst und andere verletzt. Du hast die Kontrolle über dich verloren und mehrmals versucht, dich umzubringen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du hattest sogar mehrere alternative Persönlichkeiten. Darüber weiß Kei mehr als ich, er war die ganze Zeit mit dir zusammen. Es wurde so schlimm, dass wir dich hätten wegsperren müssen, mit Maulkorb und Zwangsjacke... oder wir hätten dich umbringen müssen. Ich habe Kei die Entscheidung überlassen.“ Er nickte seitwärts zu ihm. Coins Blick folgte ihm.
„Warum ihm?“ fragte er. Er war leise und vorsichtig.
„Weil er eine enge Beziehung zu dir hat.“
„Hat er nicht.“
Dennis zuckte wieder mit den Schultern. „Er war die zwei Jahre lang mit dir zusammen, aber dazu kann er dir mehr sagen. Er wollte jedenfalls nicht, dass du stirbst.“
Kei stand relativ unbeteiligt daneben. Colin wegzusperren wäre auch keine Option gewesen. Das hätte zwar auch bedeutet, dass er weitergelebt hätte, für Colin hätte es aber eine Art Tod bedeutet.
Erzähl ihm ruhig alles. Lass nur die Einzelheiten aus, die ihn wahnsinnig gemacht haben,‘ forderte Dennis ihn auf.
Das wären viele und sehr viel wird er verneinen.‘ Da war sich Kei sicher. Colin würde ihm den ganzen Beziehungskram nicht glauben, nicht bei dem, was er momentan von ihm wusste.
„Bin ich auch ein Vampir?“ fragte Colin plötzlich.
Dennis legte den Kopf schief. „Nein. Wie kommst du darauf?“
Kei schmunzelte ganz leicht. Wie kam Colin denn auf sowas?
Colin hielt eine Hand hoch. „Ich habe mich gestern geschnitten. Hier.“ Er zeigte auf eine makellose Stelle über seinem Handballen. „Das ist sofort wieder zugewachsen.“
„Nein. Du bist irgendwie untot.“
„Ich bin untot?“ quietschte Colin hilflos. Er glaubte zwar immer noch nichts, aber diese Behauptung traf ihn doch irgendwie.
„Vielleicht auch halb lebendig. Ich weiß es nicht genau.“
Dennis winkte irritiert ab, um Kei zu bedeuten, still zu sein.
„Das kann er ruhig wissen,“ protestierte Kei. „Immerhin erklärt das zum Beispiel sowas.“
„Sei still, ich glaube, ich hab‘s jetzt verstanden,“ unterbrach Dennis ihn stirnrunzelnd. Kei hielt die Klappe und musterte Dennis und Colin. „Diese Lebenslinie zwischen euch hängt von euch ab. Von Colins Seite aus ist die Verbindung unterbrochen, darum regeneriert sich dein Körper nicht mehr so schnell. Aber du hast immer noch dieselbe Bindung zu ihm, die ihn heilt und am Leben erhält,“ erklärte Dennis mit konzentriertem Blick zwischen Colins Hand und Keis Pflaster. Colin schaute nur weiter verwirrt drein.
„Was für eine Bindung bitte?“ fragte er.
Das glaubst du mir nicht... Na super. Er wusste, dass es irgendwie an ihm lag, ihre Beziehung wieder aufzubauen.
„Dann hasst er mich wenigstens nicht,“ kommentierte Kei seinen eigenen Zustand. Sonst würde er immer noch stark bluten.
„Wer? Was für eine Bindung soll das sein? Den eingebildeten Penner kenne ich doch kaum,“ protestierte Colin. Endlich nahm er seine Hand wieder herunter. Dennis senkte etwas den Kopf.
„Das tut mir Leid, Kei,“ sagte er.
„Was tut dir Leid?“ verlangte Colin.
„Das ist dein Job,“ sagte Dennis und erhob sich vom Fensterbrett.
Kei seufzte stumm. Ich weiß.
„Bis letzte Woche kanntest du mich. Sehr gut sogar. Wir waren über zwei Jahre zusammen unterwegs.“
„Okay, und warum? Warte doch - Bleib gefälligst sitzen!“ befahl Colin Dennis, der ihm aus purer Überraschung über seinen Ton sogar brav Folge leistete und sich wieder an das Fensterbrett lehnte. „Ich bin also zu einem wilden Irren geworden, wegen ‚Erfaaahrungen‘, und was soll das bitte gewesen sein? Als ich mit dem da unterwegs war?!“ Hierbei deutete Colin mit den Fingern Anführungszeichen an und zeigte salopp auf Kei, ohne ihn anzusehen, sondern starrte nur Dennis fordernd an. Der nickte.
„Naja, du bist mehrmals entführt worden...“
„Entführt?!“
„Ja.“
„Ist das alles, davon wird man doch nicht wahnsinnig.“
„Naja... Wofür werden hübsche Kinder und Jugendliche wohl entführt?“ Dennis verschränkte die Arme und sah Colin ausdruckslos an.
„Ich werde die Zusammenfassung nicht wiederholen. Das erste Mal warst du sauer,“ sagte Kei. Colins Blick schnappte zu ihm.
„Ich bin jetzt sauer,“ sagte er leise. Das klang wirklich eisig.
„Da wäre ich nie drauf gekommen,“ entgegnete Kei patzig. „Drogenkartell. Entführung. Spinn das weiter.“
„Drog- was?!“
„Du hast mich schon verstanden.“
Nun schien Colin wirklich nachzudenken.
„Das ist auch nicht alles,“ bot Dennis an. „Aber das allein hätte schon gereicht. Es hat bei dir jedenfalls viel Schaden angerichtet. Der Tod deiner Eltern, alles was mit dir gemacht wurde... Kei ist jedenfalls nicht dein Feind, es bringt also nichts, sich gegen ihn aufzulehnen. Seinetwegen hast du überhaupt so lange durchgehalten.“
„Irgendwann, nach noch mehr Scheiße, sind wir hier gelandet. Ich werde dir jetzt nicht alles erzählen, was passiert ist,“ sagte Kei.
„Warum nicht? Er will‘s doch wissen,“ sagte Dennis mit einem Kopfnicken in Colins Richtung. Der Junge zog sich gerade stirnrunzelnd den Schal ab. ‚Solange du ihm nicht haarklein beschreibst, wie und wie oft er vergewaltigt wurde und wie viele Menschen er gefressen hat. Lass den Kannibalismus am besten ganz weg.‘
„Weil‘s lange dauert. Ich muss ihm nicht in fünf Minuten erzählen, wie oft er von wem entführt wurde.“
„Vielleicht könntest du mit ihm das Spielzimmer besuchen,“ schlug Dennis schließlich vor und stieß sich wieder vom Fensterbrett ab, um zu gehen.
Das Spielzimmer war eine gute Idee. „Willst du Darts spielen?“ fragte Kei. Colins Gesicht verzog sich zu einer verwirrten Grimasse.
„... Was?“
„Du fragst doch. Dann musst du mit den Antworten leben,“ sagte Kei.
„Was hat das mit Darts zu tun?“ Doch er ließ nur den Mantel, den er sich gerade gedankenverloren ausgezogen hatte, mit dem Schal auf Keis Bett fallen.
„Nicht mit Darts. Nur mit Musik,“ sagte Dennis und schlenderte zur Tür.
„Ich kann dir auch da deine Fragen beantworten. Das ist besser als hier herumzustehen. Und da gibt‘s Musik. Kommst du mit?“

Verwirrt blinzelnd zuckte Colin mit den Schultern. Warum nicht. Diese Nacht war schon seltsam genug, warum also nicht Darts spielen? Er nickte und zuckte schon wieder mit den Schultern, während Dennis verschwand. Kei ging ebenfalls hinaus und zeigte Colin den ihm nun unbekannten Weg zum Spielzimmer.