"Gehst du überhaupt noch zur Schule?" fragte Akira, als er
in Boxershorts auf dem Bett saß.
"Bin krankgeschrieben. Ich hatte viel zu regeln, aber ich werd
nächste Woche wieder hingehen. Die Leute werden merkwürdig, wenn
ich nichts mache und auf die Bullen hab ich keine Lust."
"Die werden dich aber bestimmt noch besuchen."
"Ganz sicher, aber sie nerven nicht wegen Schulpflicht."
"Nein. Sie werden meinetwegen nerven."
"Warum sollten sie?"
"Weil ich weg bin. Du und Shingo werdet befragt werden."
"Ja. Shingo weiß nicht viel und ich bin überzeugend, so zu
tun, als wüsste ich nichts und wäre schrecklich traurig, weil du
tot bist. Deine 'Leiche' hatte diverse Narben, die du nicht mehr
hast, die finden dich nie. Die ahnen auch nicht, dass du leben
könntest."
Akira sah ihn mit einer Mischung aus Skepsis, Besorgnis, Bedauern und
lauter anderen Sachen an.
"Sie finden dich nicht. Ganz sicher."
"Woher-" Ist doch egal. Er zog die Beine hoch und
umarmte sie. "Hat Shingo mal nach mir gefragt?"
"Ja, sie haben alle gefragt."
"Aber Shingo hat dir nicht geglaubt, was du erzählt hast,
oder?"
"Nein. Er wollte nicht glauben, dass du tot bist."
"Könntest du..."
"Was?"
"Mir dein Telefon leihen?"
"Klar. Liegt auf dem Schreibtisch."
"Danke." Akira stand auf und holte sich das Handy. Damit
ging er aus dem Zimmer. Kei blieb auf dem Bett sitzen.
Während er Shingos Nummer wählte, kletterte Akira wieder aus dem
Wohnzimmerfenster, das er von außen auf der Feuerleiter zuzog.
Kei ging ins Wohnzimmer und setzte sich da auf das Sofa.
Akira setzte sich auf die Metalltreppe, sodass er unterhalb des
Fensters saß und nicht hindurchsehen konnte. Er sprach sehr leise.
"... Es tut mir leid. ... Nein. Doch. ... Nicht so richtig. ...
Verstehe ich auch nicht."
Er lachte kurz leise.
"... Nein. ... Er hat damit auch nichts - nicht viel zu tun. Er
wars nicht. ... Ich weiß nicht."
Kei dachte nach. Mit wem spricht er? Hat er Shingo angerufen? ...
Er bringt sich noch um... Oder uns beide... Shingo... Vielleicht hält
der die Fresse... Fuck...
Er lauschte weiter.
"Ja, irgendwie schon... Das können die nicht. Und ich will
darauf nicht warten. Das will ich selbst machen..."
Nun wurde seine Stimme lauter und eindringlicher. "Das sind
Yakuza! ... Da wird nichts passieren!"
Er sprach wieder leise, aber unruhig weiter. "... Es tut mir
leid... Das geht nicht. ... Bitte nicht."
Kei stand mittlerweile an der Wand neben dem Fenster außerhalb von
Colins Sichfeld.
Nachdenkend.
Colin schniefte leise.
Irgendwann fiel Keis Blick auf etwas, das ihm wie durch ein Wunder
noch gar nicht aufgefallen war: Zeug aus Colins Haus, das in und rund
um eine Reisetasche verteilt mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden
lag. Notenbücher, CDs... Wann hat er das geholt?
Er klopfte leicht ans Fenster.
Etwas erschrocken sah Colin hoch.
"Ich muss - ja, warte." Er stand auf und sah Kei
schuldbewusst und ein wenig trotzig an, während der das Fenster ganz
öffnete. Kei schaute fragend zurück.
"Du weißt, dass es mehr als gefährlich ist, wenn er weiß,
dass du lebst..." Er machte eine Pause. "Wann hast du das
geholt?" Er deutete auf den Kram, der auf dem Boden lag.
Colin sah an Kei vorbei in den Raum. Das Telefon hatte er noch am
Ohr. Er wusste nicht, wie Kei reagieren würde, aber er schien
gelassen genug zu sein. Trotzdem fühlte er sich ertappt und sah Kei
vorsichtig an.
Dann sagte Shingo etwas und er antwortete, den Blick noch starr auf
Keis Gesicht gerichtet.
"Ja... gut. ... Bis später." Dann legte er auf und wischte
das Telefon an seinen Shorts ab. Kei hielt seinem Blick gelassen
stand, trotzdem war eine Portion Eindringlichkeit in seinen Augen.
"Wehe Shingo hält die Fresse nicht... deine Verantwortung."
Vorsichtig legte Colin das Handy auf die Fensterbank. Das war nun
viel spannender anzuschauen als Keis Blick. Er sah es an.
"Er wird nichts sagen."
"Sollte er auch besser nicht, wenn ihm sein Leben lieb ist."
Plötzlich blickte Colin auf.
"Du tust ihm nichts," bestimmte er.
"Ich nicht, nein. Es gibt aber Menschen, die bestimmt nicht
wissen sollten, dass du lebst."
"Das weiß er," brummte Colin. Er machte Anstalten, durch
das Fenster zu klettern.
Kei trat zur Seite, um ihn durchzulassen.
"Wenn du ihn triffst, sei vorsichtig und nimm den Schlüssel
mit." Am liebsten hätte Kei ihm noch ein Handy gegeben, aber er
hatte nur das eine.
Der Wahnsinnige wurde immer mehr zum Fürsorglichen, stellte Colin
überrascht und erleichtert fest. Wortlos schloss er das Fenster und
umarmte Kei. Er war so kalt wie die Luft draußen, wurde aber schnell
wärmer.
Kei erwiderte die Umarmung. Wortlos. Er genoss einen Moment lang die
Wärme, die von dem anderen auszugehen begann.
Colin küsste ihn sanft. Zum Teil auch, weil er hinauszögern wollte,
über die Dinge zu reden, die er heimlich aus dem Haus geholt hatte.
Nur kurz erwiderte Kei den Kuss ehe er ihn abbrach und auf das Zeug
deutete, das da herumlag.
"Du marschierst einfach auf einem Tatort herum, der polizeilich
versiegelt ist, um Zeug zu holen. Ich hoffe, dass das wichtiger Kram
ist." Kei hatte nicht wirklich genau hingeschaut, was Colin da
geholt hatte. Nur, dass es sein Zeug war, wusste er, und dass
Notenbücher und CDs darunter waren. Nachvollziehen, warum der
Kleinere sich so extrem leichtsinnig benahm, konnte er nicht.
Vielleicht wollte er das auch nicht.
Verlegen ließ Colin ihn los und sah zu der halb ausgepackten
Reisetasche. Es war 'wichtiger Kram.' Für ihn. Das wollte er
sagen. Aber er konnte nicht. Kei hatte nämlich Recht. Das wusste er.
Darum hatte er das heimlich gemacht, bevor Kei ihn davon hätte
abhalten können. Kei zog sein Zigarettenpäckchen aus der
Hosentasche und zündete sich eine an, ehe er noch einmal auf die
Tasche zu sprechen kam.
"Du darfst das auch irgendwo hinsortieren, es muss da nicht
liegen bleiben," sagte er, um anzudeuten, dass er kein Problem
mit dem Zeug hatte. Sein Unterton verriet jedoch, dass er nicht so
cool fand, was Colin gemacht hatte. Stumm ging der blasse Junge zu
dem Haufen Krempel und hob die Bücher und Hefter auf, um sie in das
Regal zu stellen. Für die CDs war dort auch noch bequem Platz. Beim
Einräumen sah er Kei nicht an. Keis Handy klingelte. Er ging dran.
Leise.
"Ja... Jetzt? ... Okay..." Schnell legte er wieder auf und
steckte das kleine Gerät in seine Tasche, zog an seiner Kippe. Colin
hatte bei dem kurzen Gespräch zu ihm hingesehen und wandte seinen
Blick nun wieder den CDs im Bücherregal zu.
Kei steckte den Motorradschlüssel ein.
"Ich muss weg," teilte er Colin mit, während er sich anzog
und den Helm nahm.
Kurz darauf war er aus der Wohnung verschwunden.
Der Schlüssel zur Tür lag auf dem Tisch.
Colin sortierte gemächlich und gewissenhaft die Noten und die
Bücher, die er entwendet hatte und pflegte seine Geige, die noch in
der Reisetasche gelegen hatte. Danach stellte er sie mit der
gestohlenen in eine Ecke. Den vergilbten Zettel aus dem Kastenfutter
nahm er später mit ins Bett. Zuvor verstaute er aber die Reisetasche
mit den restlichen Dingen oben auf Keis Kleiderschrank, wobei eine
schwere Kiste herunterrutschte und ihm krachend auf die Füße fiel.
Kei hatte sich mit zwei Messern und einer geladenen Waffe bestückt,
bevor er losgegangen war. Sie hatten im Schreibtisch gelegen. Er
ahnte nicht, dass Colin den beträchtlichen Rest seines Arsenals
beinahe gefunden hatte.
Er fuhr in ein Geschäftsviertel am Rande eines Vergnügungsbezirks
und traf sich dort mit dem Anrufer. Ein direkter Untergebener seines
Kumi-chou und dieser selbst erwarteten ihn in einem der hohen
Gebäude. Mit den Händen in den Hosentaschen betrat er sein Büro.
"Da bin ich."
Den Geräuschen nach zu urteilen... Colin fürchtete um den Zustand
des Inhalts nach dem Sturz, also öffnete er die Schachtel
vorsichtig. Den drückenden Schmerz in seinen Füßen ignorierte er.
Er ließ auch sehr schnell nach. Als er die verschiedenen Waffen sah,
klappte er die Kiste schnell wieder zu.
Sie war sehr schwer, aber er schaffte es, sie wieder auf den Schrank
zu wuchten, ohne dass etwas herausfiel - oder sie wieder herunter.
Die Pistolen und Messer und was auch immer da sonst noch drin war,
schockierten ihn nicht. Er hatte ja gewusst, dass Kei so etwas
besitzen musste. Sie machten nur die ganze Scheiße, von der er jetzt
bestimmt jede Nacht träumen würde, noch ein wenig präsenter.
Nunmehr mit wieder völlig heilen Füßen und das gefaltete Papier
aus seinem Geigenkasten festhaltend, kletterte er ins Bett und roch
an dem Kissen, ehe er einschlief.
"Akaya, das hier ist ein alter Bekannter." Masahiro deutete
auf den Mann neben sich. "Sein Name ist Andou und er arbeitet
seit Jahren mit mir zusammen. Es gibt ein Problem, für das er mich
um Hilfe gebeten hat. Ich denke, dass du dafür am besten geeignet
bist."
Akaya hörte ihm genau zu. Er verbeugte sich zur Begrüßung.
"Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Andou-san."
Der Vampir hasste solche falschen Förmlichkeiten, dennoch wendete er
sie an, wenn es nötig war. Sie waren eines der wenigen Dinge, die
man ihm wirklich beigebracht hatte.
"Ich habe ein Problem mit einem Haufen bewaffneter Schläger,
irgendeiner kleinen Gang, die meinen Laden terrorisieren,"
erklärte der Mann und wirkte dabei leicht peinlich berührt.
"Akaya," sagte sein Boss, "Erteile diesen Leuten eine
Lektion. Leg sie um, wenn es sein muss. Und nur dann. Sie sollen sich
in einem Club aufhalten. Hier die Adresse. Das sind sie." Er
ließ dem Vampir einen Zettel und ein paar Bilder überreichen, der
sich daraufhin mit Verbeugung verabschiedete und auf den Weg machte.
Drei Stunden später war der Auftrag erledigt und Kei machte sich auf
den Heimweg.
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