Am späten Abend stand Colin auf einem gut mit Menschen gefüllten
Platz, die alle auf ihre eigene japanische Art "Weihnachten"
feierten. Er war barfuß und in ein Laken gewickelt, das fast so weiß
war wie er selbst, und spielte Geige.
Ein paar Paare blieben stehen und hörten gaffend zu, einige legten
Geld vor ihn.
Kei lieferte sich eine Schlägerei mit einem Polizisten, der sein
Motorrad konfiszieren wollte und brach dem jungen Mann einige Knochen
bevor er ihn als Abendessen missbrauchte und davonfuhr. Die Leiche
ließ er liegen, wo sie war. Außer heruntergekommenenen
zwielichtigen Gestalten kam sowieso niemand mehr in diese Gegend.
Er raste mit gut hundert Sachen quer durch die Fußgängerzone und
ruinierte einigen Leuten ihr Weihnachten.
Colin spielte Corellis La Folia.
Kei raste an ihm vorbei ohne ihn wirklich zu bemerken. Sein Gedanke
war, dass das nur ein Traum seines nicht mehr funktionsfähigen
Verstandes sein konnte, der eigentlich nichts mehr wollte, als Colin
wieder am Leben zu haben, aber selbst Kei wusste, was tot war, war
nun mal tot.
Die Leute stoben auseinander, um Kei Platz zu machen, nur Colin blieb
ungerührt stehen und spielte weiter, obwohl das Krankenhauslaken
herunterflatterte. Er trug noch seine Jeans.
Kei raste nur knapp an ihm vorbei. Mit weniger als einem Meter
Abstand.
Plötzlich waren mehr Smartphones im Einsatz als zuvor. Die Leute
nahmen wie wild Kei auf dem Motorrad auf, den kleinen weißen
Ausländer, dessen Verletzungen man nun deutlich sehen konnte und der
mitten im Winter halbnackt und ohne Schuhe seelenruhig daneben Musik
machte.
Kei war genausoschnell verschwunden, wie er an den Leuten
vorbeigefahren war.
Es dauerte noch Stunden, bis Kei sich dazu bequemte nachhause zu
fahren. Als er endlich ankam sah er kaum nach vorn, als er auf den
Hof fuhr und sein Motorrad abstellte und sah erst auf, als er abstieg
um das Garagentor zu öffnen.
Colin saß vor seiner Garage. Die Geige hielt er auf seinen Knien.
Wortlos sah er den Jungen an, als er ihn erkannte. Mit halbwegs
versteckter Verwirrung und Fassungslosigkeit starrte er ihn an.
Colin sah zu ihm auf. Er hatte keinen bestimmten Gesichtsausdruck.
Dann stand er auf und lächelte leise.
Kei nahm seinen Helm ab.
"Sie sagten, du bist tot. Ich hab dich gesehen..." sagte er
leise.
Colin nickte.
Kei hängte seinen Helm an den Lenker.
"Du bist zu jung zum Sterben, lass das in Zukunft, okay?"
sagte er leise und ging ein Stück weiter auf Colin zu. Der
schmunzelte und legte die Hände mit der Geige und dem Bogen hinter
sich zusammen. Er nickte. Das sah wie artiges Einverständnis aus.
Kei öffnete die Garage und blieb direkt neben Colin stehen. Er nahm
den Kleineren einfach in den Arm. Colin war kühl. Er umarmte Kei.
"Du bist kalt," sagte Kei leise und dann: "Du bist
immer noch tot, oder?"
Colin ließ ihn los um sich an den Hals zu fassen. Er positionierte
seine Finger ein paarmal neu, fand aber nicht, was er suchte und
zuckte dann mit den Schultern. Er öffnete und schloss den Mund.
Kei hielt ihn einfach weiter fest. Colin lächelte ihn wieder an,
streichelte seine Wange und umarmte ihn wieder. Ohne Puls.
Kei dachte Er ist wirklich tot, und beließ es dabei, froh,
dass Colin wieder da war.
"Du riechst nach Alkohol und Blut," flüsterte Colin.
"Ich weiß," sagte Kei leise.
"Hast du keine Schmerzen?" flüsterte Colin. Er erinnerte
sich an die vielen Schüsse.
"Das geht wieder weg," sagte er. "In drei Tagen sieht
man's kaum noch."
Colin ließ ihn los.
Kei ließ den Kleineren deutlich widerwilliger los, blieb aber dicht
bei ihm stehen.
Colin sah zum Motorrad.
Kei folgte seinem Blick. Colin sah ihn an und schmunzelte.
"Was ist?" fragte Kei leise. Er wurde von Colin sachte
geküsst.
Den Kuss erwidernd fing Kei an zu lächeln. Kurz darauf wich Colin
zurück.
"Sie wird geklaut, wenn sie hier draußen stehenbleibt,"
sagte er leise und ging zur Seite.
"Oder beschlagnahmt," schmunzelte Kei und stellte das
Motorrad in die Garage, deren Tor er daraufhin schloss und
verriegelte.
Colin hatte brav gewartet und ging nun vor zur Haustür.
Kei ging ihm nach, sortierte ein paar seiner Gedanken, immerhin warf
die Anwesenheit eines offensichtlich Toten in der Welt der Lebenden
einige Fragen auf. Obwohl er sich wunderte, war er froh über Colins
Rückkehr. An der Tür angekommen öffnete er diese und stieg die
Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Stumm und sehr leise, weil barfuß,
folgte Colin ihm. Er wirkte sehr gelassen.
Kei schloss die Tür auf.
"Mach's dir gemütlich." Dass ein Chaos seine Wohnung
beherrschte war kaum zu übersehen. "Wo willst du jetzt
eigentlich hin?" fragte er nach einer kurzen Weile in der er
seine Schuhe ausgezogen hatte.
Das Gemütlichmachen schien für den weißen Colin darin zu bestehen,
sich die Fußsohlen an seinen Hosenbeinen abzuwischen und weiter in
den Flur hineinzugehen, um wieder auf Kei zu warten. Er dachte kurz
über die Frage nach.
"Ich will nirgendwohin," sagte er schließlich. "Wo
kann ich hin?" fiel ihm noch ein.
Kei folgte ihm und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa
fallen ließ. "Du kannst hier bleiben, wenn du willst," bot
er an und dachte kurz nach. "Wenn du tot bist, was machst du
dann unter den Lebenden?" wollte er wissen. Es war keine
angreifende Frage, sondern eine, deren Antwort ihn wirklich
interessierte. Colin lächelte auf das Angebot hin und blieb auf der
anderen Seite des Kaffeetisches vor dem Sofa stehen. Die Hände mit
dem Instrument hatte er wieder hinter dem Rücken verschränkt.
"Weiß ich nicht," sagte er. "Nun, ich weiß, was ich
mache... aber ich weiß nicht, warum oder wie ich wieder da bin."
Kei nickte. "Vielleicht finden wir das in einigen Jahren heraus.
Wir haben ja jetzt viele davon."
Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und lag mehr auf dem Sofa
als dass er saß.
"Meinst du? Warum?"
"Ich glaub nicht, dass du eine menschliche Lebenserwartung
hast," sagte Kei und lächelte. "Ich bin froh, dass du
wieder da bist," fügte er hinzu.
Colin lächelte warm und sein Herz begann zu schlagen. "Oh."
"Hm?"
Langsam atmete Colin aus und fasste sich kurz an die Brust. "Warum?
Vielleicht bin ich ja gar nicht richtig tot."
Sachte zitternd legte er die Geige und den Bogen auf den Tisch.
"Das glaub ich auch nicht, wenn du richtig wirklich tot wärst,
würdest du da nicht stehen."
Kei lächelte, als er einen zweiten Herzschlag in seiner Nähe
vernahm.
Vorsichtig ging Colin um den Tisch herum, um sich auch hinzusetzen.
Auf das nächstgelegene Ende des Sofas ließ er sich langsam nieder,
wobei er hörbar und sichtbar konzentriert atmete und sich auf die
Rückenlehne stützte. Er fasste sich testend an den Hals und kniff
etwas die Augen zusammen, als er dabei die beiden Brandwunden
berührte.
Kei nahm seine andere Hand. "Du bist wärmer als vorhin,"
sagte er leise.
"Das hier auch," sagte Colin, immer noch seinen Hals
rundherum betastend. "Es tut weh. Mein Rücken auch. Ich hatte
wohl einen Unfall, was?" Er lächelte entschuldigend.
"Unfall, ja. Das trifft es nicht ganz, aber gut," sagte Kei
und drückte nur kurz Colins Hand. Er wollte nicht, dass der anfing
zu schreien, wenn er ihn in den Arm nahm. Colin sah auf die Hand und
nahm sie überrascht hoch.
"Hm?"
Er inspizierte stirnrunzelnd seine vernarbten Handgelenke. Ohne
Ergebnis ließ er die Hände sinken und schaute nur irritiert.
"Was ist?" fragte Kei etwas verwundert.
"Uhm..." Colin sah ihn vorsichtig an und dann lieber nach
vorn. "Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich nichts weiß,
oder?"
"Das kommt drauf an, was du noch weißt. Welcher ist der letzte
Tag an den du dich erinnerst?"
"Heute. Jetzt."
"Und davor?"
"Ich war bei dir. Da hatte ich noch mehr an." Er sah an
sich herunter. "Danach hast du mich irgendwohin getragen."
"Du warst schon öfter hier. Erinnerst du dich an das Konzert
auf dem wir waren?"
"Ja. Beide."
"Das kurz vor Weihnachten?"
"Ja." Er lächelte ein bisschen. "Das war erst
gestern."
"Ja." Weiß er nur den einen Tag nicht mehr?
...Vielleicht ist das besser so... "Es ist wohl wirklich
besser, wenn du dich an den Unfall nicht erinnerst..."
Colin rutschte etwas näher und hob eine Hand, zeigte auf die Narbe.
Er sah Kei fest an. "Das ist aber nicht von gestern."
"Ich weiß, das ist etwas länger her, aber auch nicht besonders
lange."
"Weißt du, dass ich dich liebe?" sagte er im Verhörton.
Kurz darauf errötete er etwas, aber er sah Kei weiter fest an.
Kei lächelte. "Du hast mal sowas erwähnt," sagte er
leise, erwiderte den Blick und sah dem Kleineren dabei tief in die
Augen. "Anatamo."
Langsam atmete Colin aus, scheinbar erleichtert. Er legte seine Hand
wieder zu Keis.
Kei nahm sie und hielt sie locker fest.
"Jetzt bist du nekrophil," sagte Colin ruhig.
"Wir waren uns nicht sicher, ob du wirklich richtig tot bist,"
sagte Kei leicht scherzhaft, meinte es aber durchaus ernst. Colin war
warm. Warm und tot, passt nicht zusammen.
"Es ist bestimmt die praktischere Lösung," entschied
Colin. Er beugte sich zu Kei.
"Wenn du unerkannt durch die Gegend ziehen willst, ja,"
sagte Kei und küsste den Kleineren. Colins Herz machte noch einen
Sprung und schlug schneller weiter. Kei mochte das Geräusch. Leben
hieß Wärme und Wärme war etwas, dass er sehr gern mochte. Das
würde er niemals zugeben, außer vor Colin vielleicht. Immerhin war
es dessen Wärme auf die er es abgesehen hatte.
"Du hast viel geraucht und getrunken," murmelte Colin an
Keis Mund und leckte sich über die Lippen. Dabei befühlte er den
Riss darin. "Prügel ich mich oft?"
"Hab ich, ja. Und nein, eigentlich nicht." Er schmunzelte
leicht bei der Vorstellung, dass Colin sich oft prügeln würde.
"Hast du nur die Details deiner Verletzungen vergessen?"
Colin zuckte mit den Schultern und küsste ihn wieder, sachte.
"Ich weiß, dass ein paar von dir sein müssen," sagte er
leise.
Kei erwiderte den Kuss und befand Colins Verletzungen spontan für
scheiße.
"Die miesen sind nicht meine," sagte er. "Obwohl du
auch schon wegen mir im Krankenhaus lagst."
Colin wich etwas zurück und sah ihn an. "Was, wieso?"
Kei war verwundert, dass er das nicht mehr wusste.
"Man könnte es Unfall nennen," sagte er.
"Oh." Er schien sich zu erinnern. "Das. Du warst ein
richtiges Arschloch."
"Ja. Das bin ich auch immer noch, obwohl ich das nicht nochmal
machen würde."
Colin lächelte ein bisschen, dann riss er plötzlich die Augen auf.
"Shingo!"
Kei war nun komplett verwirrt. "Was ist mit dem?"
Er suchte seine Hosentaschen ab, aber natürlich waren sie leer. "Ich
muss ihm bescheid sagen!"
Er hatte den Mitschüler gar nicht mehr auf dem Schirm, der ihm
gesagt hatte, dass Colin entführt worden war.
"Weshalb?"
"Und meinen Eltern! Dass äh -" Er lehnte sich
stirnrunzelnd zurück. "Scheiße."
Kei schaute ihn fragend an. Colin sprang auf.
"Was ist? Wo willst du hin?" fragte Kei.
"Ich muss nach Hause. Es ist schon mitten in der Nacht!"
"Ehm. Das wird nicht nötig sein," begann Kei. Colin eilte
um den Tisch und griff sich die Geige.
"Warum, wissen sie, dass ich hier bin?" Sein Puls war
ziemlich unnormal hoch.
"Nein, aber..."
Kei begann, ihm die gesamte Geschichte der letzeten Tage zu erzählen,
ruhig.
Die blutigsten Details ließ er dabei aus, doch Colin erfuhr nun,
dass es keine Eltern mehr gab, denen er irgendetwas sagen musste, und
dass er seinen Tod selbst herbeigeführt hatte.
Entgeistert starrte er Kei an.
Kei sah ihn ruhig an, stand auf und nahm ihn in den Arm, aber
vorsichtig.
Allmählich kühlte er wieder ab.
"Das verstehe ich nicht ganz," sagte er dumpf und leise in
Keis Hemd.
"Was passiert ist, oder dass du abkühlst?" fragte Kei und
drückte den Kleineren etwas fester.
"Ich kühle ab?"
"Ja, du bist wieder fast so kalt wie tot."
"Dann bin ich wohl tot," schloss Colin. Er legte die Arme
um Kei.
"Vielleicht bist du beides," schloss Kei aus der
wechselnden Körperwärme und dachte gar nicht daran, ihn wieder
loszulassen.
"Jetzt kann ich - kannst du mich bei Shingo entschuldigen?
Bitte."
"Kann ich, ja, weshalb?"
"Es tut mir Leid, dass ich ihn im Stich lasse."
"Okay... Ich sag's ihm. Soll ich ihn anrufen?"
"Ja - Oder nein, sags ihm in der Schule. Dann musst du ihn nicht
wecken."
Kei nahm sein Handy zur Hand, das in der Hosentasche steckte und
steckte es gleich darauf wieder weg. "Mach ich."
Colin legte die Geige wieder hin und drehte sich dazu in Keis Arm
etwas. Er versuchte aber nicht, sich ihm zu entwinden. Er sah ihn an.
"Was mache ich jetzt?"
Kei dachte kurz nach. "Ich weiß es nicht. Wenn du willst, bleib
hier. Platz hab ich."
No comments:
Post a Comment