Nach einer ganzen Weile erst kam Colin heraus. Er war wieder
angezogen und hatte das Handtuch noch unter den frisch gefärbten
Haaren über den Schultern liegen. Als er ins Wohnzimmer kam, blieb
er dicht bei der Tür stehen.
"Kannst du mir ein bisschen Geld leihen?" fragte er
verlegen.
"Ja, wie viel brauchst du?" fragte Kei.
"Äh, so zehn- bis zwanzigtausend?" riet Colin. Er brauchte
Schuhe und passende Kleider. Aber er wusste nicht genau, woher und
mit wieviel Geld er da rechnen musste. Solche Einkäufe hatte er nur
selten selbst bezahlt. Oder getätigt.
Kei ging zu seiner Jacke, holte seinen Geldbeutel heraus und zählte
Scheine. "Heute ist dein Glückstag!" rief er Colin zu, als
er mit etwa vierzigtausend zurückkam. "Wofür brauchst du das
eigentlich?"
"Kleider. Ich bin stolzer Eigentümer einer Hose und einer
Geige," erkärte er matt. "... und die ist, glaube ich,
geklaut." Er konnte sich nicht erinnern, wo er die Geige
hergenommen hatte.
Kei lachte ein bisschen. "Gute Mischung, eine Hose und eine
Geige." Er reichte ihm das Geld. "Ich würde nicht zu lange
brauchen, die Polizei sieht Minderjährige nicht gern spät draußen,"
erklärte er.
Colin nahm das Geld und steckte es ein. Er nickte und schluckte seine
Nervosität herunter. An die Zeit hatte er nicht gedacht. Und auch
nicht daran, sofort loszugehen. Aber irgendwann musste er, also warum
nicht gleich?
"Darf ich mir... noch eine Jacke und Schuhe leihen? Und
vielleicht... ne Sonnenbrille oder so? Du weißt schon... anonym..."
Scheiße, er war nicht gewohnt, Bittsteller zu sein.
"Bedien dich. Du weißt ja mittlerweise, wo du was findest,"
sagte Kei und schaute ihn an. "Du solltest um 22 Uhr von den
Straßen verschwunden sein, die Läden hier haben zum Glück ziemlich
lang geöffnet," fügte er noch hinzu.
"Danke." Colin sah auf den Boden und ging, um sich die
benötigten Teile zusammenzusuchen. Als er sich die halbtrockenen
Locken über eine Schulter legte, um den Kragen der Jacke nicht
einzusauen, fiel ihm noch etwas ein.
"Ich kanns dir eine Weile nicht zurückzahlen. Bekommst du
Schwierigkeiten, wenn du das Geld jetzt nicht hast?"
"Ne, das geht schon," sagt Kei und grinste. "Du färbst
nicht mehr ab," sagte er und deutete auf Colins Haare. Der
nickte, strich sich die Haare hinter die Ohren und ging zur Tür.
"Bis nachher," verabschiedete Kei den Kleineren und nahm
sein klingelndes, nach Aufmerksamkeit verlangendes Telefon zur Hand.
Vor dem Schließen der Tür von der anderen Seite leistete Colin sich
eine tiefe, kunstvolle Verbeugung, bei der er zwei Finger küsste und
zwinkerte. Kei grinste als er das sah und erwiderte den Gruß kurz.
Mit dem Anrufer sprach er noch eine Weile.
Unterwegs war Colin froh, dass er nicht als besonders merkwürdige
Gestalt auffiel. Immerhin war dies Tokyo. Er wurde daran erinnert,
dass der Jahreswechsel kurz bevorstand. Er fand passende Geschäfte
und schaffte es weitestgehend, den Menschen aus dem Weg zu gehen,
oder zumindest ihren Blicken, hoffte er.
Erst weit nach elf Uhr kam er nach ein paar beabsichtigten Umwegen
wieder in Keis Nachbarschaft an.
Kei vermutete, angesichts der Tatsache, dass Colin noch nicht da war,
dass er entweder von der Polizei aufgeriffen worden war, sich
verlaufen oder noch etwas zu erledigen hatte. Colin war alt genug um
allein draußen herum zu laufen, also erkundigte Kei sich nicht nach
seinem Verbleib. Das würde er erst tun, wenn Colin in einigen
Stunden noch nicht zurück wäre.
Das Telefongespräch ergab, dass Kei sich am nächsten Tag beim Boss
seiner Ortsgruppe einzufinden habe. Nachdenklich lag er auf dem Sofa
herum.
Colin klingelte.
Kei erhob sich mit einem Handstand, da seine Arme sich dichter am
Boden befanden als die Beine, sprang auf die Füße und stand auf um
Colin die Tür zu öffnen.
"Du brauchst noch 'nen Schlüssel."
Colin nickte bloß und ließ seine Tüten fallen. Er trug nun
Kleidung, die ihm passte, und hatte auch wieder Hals- und Armbänder,
um seine Narben zu verdecken. Sofort pulte er das restliche Geld aus
seiner neuen Jackentasche hervor und hielt es Kei hin. Es waren ein
paar tausend Yen. Kei nahm es entgegen und steckte es in seine Jacke
zurück.
"Eindeutig besser," kommentierte er Colins neue Kleidung.
"Danke." Er lächelte etwas und zog sich die Schuhe und die
Jacke aus. Darunter trug er ein weißes T-Shirt. Das hatte er
gekauft, weil ihm zwischendurch aufgefallen war, dass er zwischen all
dem Schwarz sonst immer wie die Leiche aussah, die er zeitweise war.
Und das hatte ihm fast den Magen umgedreht.
"Ich habe überlegt, wie ich dich zurückzahlen kann. Mir ist
aber nichts eingefallen, das nicht furchtbar öffentlich ist."
Ihm war nur Musik eingefallen. Und die brauchte zum Geldverdienen
Publikum.
Kei winkte ab. "Irgendwann mal. Das hat Zeit," meinte er.
Er wusste, dass Colin nicht viel legales blieb und wollte nicht
unbedingt, dass er sich in etwas illegales hineinbegab. Colin hatte
die Tüten wieder aufgehoben und hielt nun kurz inne, um Kei
interessiert anzusehen. Der meint das wirklich ernst, was? Mit
ewig lang zusammenbleiben und so...
Kei warf sich wieder auf das Sofa, ziemlich genauso verdreht wie vor
Colins Rückkehr. Colin sah stumm dabei zu und als er meinte, rot zu
werden, ging er schnell in Keis Schlafzimmer und sortierte die
geliehenen Kleider weg. Dann schlurfte er ins Wohnzimmer und sprang
aufs Sofa. Kei hing immer noch so da und beobachtete Colin. "War
dein Einkauf erfolgreich?"
"Sehr." Er kletterte über Kei und trat ihn leicht in die
Seite. "Es sieht anstrengend aus, wie du nachdenkst. Soll ich
dir helfen?"
Kei drehte sich ein bisschen. "Wie gedenkst du mir zu helfen?"
"Indem ich dir beim Denken helfe. Wir wissen beide, dass das
meine Stärke ist," protzte Colin, als er über Kei
stand, indem er die Haare herumwarf und sich theatralisch auf die
Brust schlug.
Kei lachte und zog Colin zu sich herunter. "Ich darf dem Boss
morgen einen Besuch abstatten und habe keine Ahnung warum."
Colin verschränkte die Arme auf Kei, als er rittlings auf ihm
kniete.
"So viele Möglichkeiten... vielleicht darfst du dir einen
Rüffel für die Eskapaden der letzten Wochen abholen. Oder eine
Belohnung. Vielleicht will er dich befördern oder degradieren. Oder
er hat eine neue Aufgabe für dich. Oder du wirst wegen irgendwas
verhört."
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Strafe ist. Ich hab
nichts angestellt. In den letzten drei Tagen."
Colin lachte. "Was ist dein Boss für einer?"
"Ein brutales Arschloch. Aber fair."
"Also nicht so wie du. Ein brutales Arschloch. Und ungerecht."
"Ich? Ungerecht?"
Colin zuckte mit den Schultern. "Du hältst dich nicht an die
Spielregeln anderer Leute."
"Nein, ich hab meine eigenen."
"Wie passt das zusammen? Musst du als Yakuzahandlanger nicht
absolut gehorsam sein?"
"Ja, meinem Boss gegenüber. Niemand hat was von anderen
gesagt."
"Gibt es da nicht Zwischenstationen? Irgendwelche... anderen
Leute, die Befehle weitergeben?"
"Ja, natürlich. Aber der Boss mag mich. Deshalb haben mir nur
wenige andere Leute was zu sagen."
"Was machst du für ihn?"
"Überwiegend die 'Drecksarbeit'." Im Gegensatz zu vielen
anderen mochte Kei solche Jobs, weil sie ihm Blut und Geld und
Abwechslung verschafften.
"Die da wäre?"
"Hier und da nach dem Rechten sehen, Leute umlegen, sowas."
Colin betrachtete ihn ausdrucksneutral. Kei hing immer noch so
verdreht auf dem Sofa herum und betrachtete Colin.
"Morgen, ja?"
"Ja. Morgen Nachmittag."
"Hm," sagte Colin. Er setzte sich auf.
"Was ist?"
"Nichts." Er schmunzelte etwas.
Kei schaute ihm ins Gesicht. "Nichts, ja?"
Verlegen grinste Colin. "Nichts." Dass er den Entschluss
gefasst hatte, Kei zu beschatten, musste er ihm nicht auf die Nase
binden.
Kei glaubte ihm zwar nicht, beließ es aber dabei und setzte sich
ebenfalls auf.
"Was, wenn ich zwar öffentlich bin, aber etwas mache, das man
auf keinen Fall mit Colin Hammerer in Verbindung bringen würde?"
überlegte er mit Blick auf die gegenüberliegende Wand.
"Könnte klappen, es müsste aber was nicht offizielles sein."
"Das ist klar. Sonst bräuchte ich einen falschen Ausweis."
"Hast du ne Idee?"
"Ich kann rappen." Er sah Kei an und schien das ernst zu
meinen.
"Dafür will ich einen Beweis." Dass Colin mit ein bisschen
Übung ein sehr guter Sänger werden konnte, hatte er bewiesen, aber
singen war nicht gleich rappen. Und Kei konnte sich das irgendwie nur
schwer vorstellen.
Mit einem verlegenen Grinsen stand er auf und räusperte sich
umständlich. Er blieb auf dem Sofa stehen.
"Also, ich muss dich vorwarnen, ich habe nie etwas Japanisches
geübt. Und ich kann nicht freestylen oder sowas. Also bin ich in der
rauhen Realität niemals als Rapper zu gebrauchen."
"Hast ja Zeit zum Üben."
"Schnauze. Bring mich nicht aus dem Konzept." Er guckte
grimmig entschlossen.
"Finally, someone let me out of my cage,
now time for me is nothin' 'cause I'm countin' no age,
now I couldn't be there,
now you shouldn't be scared,
I'm good at repairs, and I'm under each snare,
intangible, I bet you didn't think so
I command you to, panoramic view,
look, I'll make you all manageable,
pick and choose, sit and lose,
all you different crews,"
Nun begann Colin zu grinsen, weil es besser klappte als er befürchtet
hatte. Er hatte sich einen einfachen, lässigen und relativ langsamen
Rap ausgesucht.
"Chicks and dudes, who you think is really kickin' tunes?
Picture you gettin' down and I'll picture too
Like you lit the fuse,
you think it's fictional? Mystical? Maybe-
Spiritual hero who appears on you to clear your view when you're too
crazy-
lifeless for whose definition is what-for- damn, fuck it-" Er
winkte ab und drehte sich einmal frustriert im Kreis.
"Ausbaufähig, aber Texthänger kommen beim Publikum nie gut."
Kei lächelte ganz leicht. Das war auf jeden Fall besser als er
erwartet hatte. Es hatte ihn überrascht.
"Ach! Glaubst du?" Colin trat ihn sachte. "Ich muss
mir nützliche Talente zulegen," beschloss er.
Kei zog ihm die Füße weg, sodass Colin auf ihm landete. "Ja,
glaub ich. Was für welche?"
"Argh! Gleichgewicht!"
Kei lachte. "Das wäre ein Anfang und als nächstes dann die
Standfestigkeit."
"Durchsetzungsvermögen wäre auch gut," fuhr Colin fort,
als er sich aufrappelte, aber nur soweit, dass er wieder halb auf Kei
kniete und lag.
"Ja, könntest du gebrauchen." Kei hatte einen Arm um Colin
gelegt. Der griff in eine Tasche seiner neuen Jeans und zog ein
Klappmesser heraus.
"Wo hast du das denn her?"
"Vom Bahnhof."
"Wem hast du's abgenommen?"
"Tss, ich habs niemandem 'abgenommen'. Ich habe es gekauft."
Von einem etwas krank aussehenden Typen, aber das verschwieg er.
"Du kannst es gut brauchen," meinte Kei dazu. Sein eigenes
Waffenarsenal war gar nicht so klein, was er aber lieber für sich
behielt. Trotzdem, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis
Colin seine Klingen- und Schusswaffensammlung fand, die im
Schlafzimmer auf dem Schrank verstaut war. Dort stand eine Kiste
herum.
"Meine ich auch." Er war erleichtert, dass Kei keine
Einwände hatte, aber die hatte er von ihm auch eigentlich nicht
erwartet. Er selbst hielt das Messer für eine kluge Investition und
war von seiner Klingenform fasziniert. Es lief spitz zu, hatte eine
glatte Schneide und knapp über dem Heft einige Zentimeter mit
Zähnen. Er hoffte nur, dass wenn er es mal rausholen müssen sollte,
es ihm nicht gleich abgenommen werden würde.
"Du solltest lernen, wie man damit umgeht," schlug Kei vor.
"Ist das nicht ziemlich offensichtlich?"
"Dass man ihnen das spitze Ende irgendwohinrammt, wo's wehtut?"
"Ja?" Nun war Colin verunsichert.
"So kannst du's machen, aber dann bist du das Messer schneller
los, als du bis eins zählen kannst."
"Also, ich kann ziemlich schnell bis eins zählen-" er
setzte sich wieder auf.
"Gegen betrunkene Wichser kannst du's so benutzen, gegen einen
Gegner mit Ahnung, von denen du dem einen oder anderen begegnen
wirst, solltest du ein bisschen Kampferfahrung haben."
Er sah Kei zweifelnd von der Seite an. "Ich werde nicht
versuchen, dich abzustechen, um zu üben."
"Das schaffst du auch mit Übung äußerst schwer. Du sollest im
Allgemeinen ein bisschen üben. Wenn du dich nicht verteidigen
kannst, nützt dir das Messer nichts."
Er steckte das Messer langsam wieder ein. "Und wie übe ich
das?"
"Komm morgen ein Stück mit, ich stell dir einen Freund vor, der
dir einiges beibringen kann."
"Okay." Er musterte Kei.
Kei musterte ihn kurz, den Blick erwidernd.
No comments:
Post a Comment