Monday, June 27, 2016

Kei + Colin LXXVII: A small indentation


In ihrem Zimmer angekommen kramte Kei nach frischen Kleidungs-stücken. Er fand eine nicht gelöcherte, leicht enge schwarze Jeans und ein dunkelgraues T-shirt. Zusammen mit frischen Boxershorts zog er beides an. Um den Hals trug er seine Plektrumkette und die alte Yenmünze. Beides nahm er nur sehr selten ab.
Colin fand im Schrank auch Socken, eine schwarze Jeans, ein schwarz-weißes Sex Pistols-T-shirt und Boxershorts für sich. Als er seine Haare aus dem Kragen des T-shirts zog, fühlte er darüber und wollte gleich in einen Spiegel sehen.
"Ich brauche einen Kamm. Oder stehen mir Dreadlocks?" Er schmunzelte dünn.
"Nimm den Kamm." Kei schmunzelte und suchte sich noch ein Paar Socken. Seine Haare ließ er nass und wirr von seinem Kopf hängen. Erst nach dem Anziehen fiel ihm auf, dass das T-shirt, das er trug, mit dem Logo der japanischen Band 'X' bedruckt war.
"Schau mal, Heimat zum Anziehen."
Colin lächelte matt. "Wem gehören die Kleider?"
"Keine Ahnung. Jetzt uns schätze ich." Kei zuckte mit den Schultern.
Nach einem zufriedenen Blick auf die beiden Anhänger, die vor Kei baumelten, öffnete Colin die Tür.

"Na endlich," rief Dennis vom Küchentisch aus. Vor ihm lag eine ausgebreitete Zeitung. Frau Quan saß auch am Tisch und hielt eine dampfende Tasse fest, während sie auf eine Zeitungsseite guckte. An der Küchenzeile neben dem Herd lehnte Delilah.
"Man wird ja wohl noch duschen dürfen," kommentierte Kei Dennis' Ausruf und setzte sich an den Tisch. Colin musterte alle Anwesenden vorsichtig und setzte sich zögerlich dazu, neben Kei. Dennis musterte ihn mit seinem gütigen, offenen Blick, Frau Quan lächelte fürsorglich und stand auf, und Delilah starrte Colin unverhohlen an. Sie hörte auch nicht damit auf, als sie ihren Kaffeebecher hob und daraus trank. Kei wendete sich dem Frühstück zu und ließ seine Verwandten unbeachtet. Er verhalf sich zu einer Tasse Kaffee. Irgendwann ging ein fragender Blick von ihm zu Delilah.
Frau Quan quakte ein bisschen in ihrer fremden Sprache, aber viel sanfter und netter als Kei sie bisher gehört hatte, und schien Colin damit sein Frühstück anzubieten. Der riss seinen Blick von Delilah los, um zu nicken und den Kopf zu schütteln, sodass nach dieser ziemlich einseitig scheinenden Verständigung schließlich eine Tasse Tee, Milch, Toast, Butter und Orangenmarmelade vor Colin standen.
"Thanks," murmelte er leise, fast unhörbar, aber Frau Quan schien das wahrgenommen zu haben, als sie sich lieb lächelnd wieder setzte.
Delilah traf Keis Blick mit ihrem ausdruckslosen, dann sagte sie etwas mit einer Hand. Kei schaute zu Dennis.
"Übersetzung bitte." Der Vampir war leicht genervt davon, dass Delilah nicht sprechen konnte, aber das konnte er nicht ändern. Dennis sah zu Delilah, mit skeptisch hochgezogener Augenbraue, und sie hob ihre eigenen und nickte streng.
"... War es das wert..." grummelte Dennis verlegen und kratzte sich am Kopf. Es war ihm offenbar unwohl bei der Äußerung.
Colin sah vom Milch- und Zuckereinrühren in seinen Tee zu Dennis auf, dann zu Delilah, die Kei weiter ungerührt ansah.
"War was was wert?" Kei mochte keine Rätsel. Er wollte ganze Aussagen, keine nicht mal halben.
Dennis atmete angespannt ein und kniff die Lippen zusammen, als er zu Delilah blickte, die ihre Tasse hinter sich gestellt hatte, um mit beiden Händen zu sprechen. Nun war ihr Gesicht nicht mehr so ausdruckslos, sondern sah beinahe vorwurfsvoll aus.
"Er dort, ihn im Badezim- nein, das übersetze ich nicht."
Delilah sah Dennis streng an und schlug neben sich auf die Arbeitsfläche.
"... dafür haben wir unser Leben aufs Spiel gesetzt und unsere Anonymität aufgegeben - Ist der da ein so guter - Das übersetze ich nicht!" Dennis wandte sich wieder seiner Zeitung zu, während Delilah ihn wütend anstarrte.
"Red weiter. Ich will's wissen," sagte Kei völlig unaufgeregt. Delilah nahm einen scheinbar wütenden Schluck Kaffee. Dennis sah vorsichtig zu Frau Quan, als ob er damit sichergehen wollte, dass sie wirklich kein Japanisch konnte, ehe er antwortete.
"... Ist er ein so guter Fick..." Er räusperte sich verlegen und guckte dann furchtbar beschäftigt in seine Zeitung. Delilah blickte herausfordernd zu Kei.
Colin spuckte seinen Tee zurück in die Tasse.
Kei fing an zu lachen. Er guckte Delilah mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Das müsstest du wissen, wenn du zugehört hast," entgegnete er. Dennis musste auch lachen. Colin sah amüsiert lächelnd zu Kei und dann zu Delilah. Die schaute verdutzt und musste dann ebenfalls schmunzeln.
Sie sagte etwas.
"Das war abgrundtief dämlich," übersetzte Dennis lachend.
"Was war abgrundtief dämlich?" fragte Kei, seinen Kaffee trinkend.
"Die Rettungsaktion. Zu gefährlich. Zu riskant," sagte Dennis.
"Ist dabei jemand..." meldete Colin sich leise zu Wort, und Dennis verstummte, um ihn anzusehen. "... ist dabei jemand gestorben? Oder verletzt worden?" Colin saß verkrampft da und sah Delilah vorsichtig an. Sie verneinte mit einem langsamen Kopfschütteln.
"Also... ich bin froh, dass ihr's gemacht habt," sagte Colin seinem Marmeladentoast.
Betretene Stille.
"Danke."
"Wäre sie ungefährlich gewesen, wäre ich nicht daran beteiligt gewesen," meldete Kei gelassen. Ich auch. Allein hätte ich das niemals geschafft.
Colin sah ihn an. Ernsthaft? Musst du jetzt einen auf Macho machen?
Dennis schmunzelte belustigt.
"Gern geschehen," sagte er.
Delilah stellte ihre Tasse wieder ab und ging forsch auf Colin zu. Kei schmunzelte leicht und widmete sich seinem Essen. Colin sah zu Delilah auf, vorsichtig überrascht. Sie streckte eine Hand aus. Zögerlich ergriff Colin sie. Sie nickte.
In ihrem Gesicht war noch der Ansatz eines freundlichen Lächelns zu erkennen. Colin konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, genau so etwas schon einmal gesehen zu haben.
Kei leerte seine Tasse.
Als sie seine Hand losließ, blickte Colin von Delilah zu Dennis, und dann zu Kei. Die drei weiter reihum musternd, begann er damit, sein Marmeladenbrot zu essen. Kei betrachtete die Szene essend. Er hatte ganz vergessen, dass Blut, Zigaretten, Colin und Alkohol nicht das einzige auf der Welt waren, das schmeckte. Auf Colins Blick hin zuckte er mit den Schultern. Delilah war ihm ein Rätsel.
"Ihr seht alle gleich aus," sagte Colin plötzlich.
Dennis blickte auf. Colin erschrak.
"Äh. Ich meine-"
"Wir sind alle verwandt," merkte Kei an.
Colin nickte.
"Die zwei haben den gleichen Vater wie ich," erläuterte Kei, um letzte Verwirrung aus dem Weg zu räumen.
Colin nickte wieder. Und musste grinsen.
"Was?" Kei blickte ihn fragend an.
Dennis sah ihn an und grinste auch, sah dann aber schnell wieder auf die Zeitung. Delilah stellte ihre Tasse in die Spüle und ging einfach aus der Küche. Frau Quan blätterte gemütlich um und schien sich um nichts um sie herum zu scheren. Colin schüttelte den Kopf, musste sich aber zurückhalten, um nicht noch ein Geräusch zu machen und womöglich gar zu kichern.
Kei beschloss, dass es sinnlos war, weiter zu fragen und aß seinen Teller leer. Colins Gedanken waren sicher interessant.
Sie waren ein paar Jahre zurückgeschweift, als Kei ihm erzählt hatte, dass er keine Familie hatte, oder jedenfalls keine von der er wusste. Seitdem waren sie seinem Vater, seiner Tante und ihren zwei Kindern, und jetzt noch zwei Geschwistern begegnet.
Für Kei war diese ganze familiäre Situation, wenn man es denn so nennen konnte, sehr ungewohnt. Er hatte wirklich geglaubt, keine Geschwister oder Verwandten mehr zu haben - die Tatsache, dass er allein lebte, obwohl er minderjährig war, hatte seine Theorie unterstützt. Sein Leben kannte keine Ordnung, also blieb einfach fast nichts, wie es mal war.
"Wem gehören die Kleider?" fragte Colin schließlich, als die vorzügliche Toastscheibe verschmaust war.
"Wie viele Geschwister habe ich eigentlich? Ich bezweifle, dass es nur euch und die Plagen von meinem lieblichen Tantchen gibt."
Dennis rieb sich nachdenklich das Kinn.
"Hm. Weiß ich auch nicht. Deine Mutter hatte keine anderen Kinder, das weiß ich. Aber was Kira so getrieben hat... ich kenne auch nur dich, Delilah und Misato. Das heißt aber nicht viel."
Kei vermutete, dass nicht alle seine vielleicht existierenden Verwandten ihm so freundlich gesonnen waren, wie diese beiden. Er war so frei, sich weiterhin als Einzelkind zu betrachten.
"Er wird jedenfalls nicht noch mehr zeugen."
"Danke nochmal dafür. Applaus," sagte Dennis leichtherzig. "Das sind übrigens meine Kleider. Gewesen." Er nickte zu Colin, der daraufhin an sich hinuntersah. Kei musterte seinen Freund, dann Dennis.
"Du hattest einen guten Musikgeschmack."
"Hatte?" Dennis hob die Augenbrauen. Kei lachte darauf einfach nur. Colin grinste.
"Später kommt noch die richtige Nahrung," sagte Dennis ruhig. Kei nickte knapp.
"Wie geht's jetzt eigentlich weiter?" wollte er wissen. Ewig konnten sie schließlich nicht hierbleiben.
"Wir müssen hier noch ein bisschen ausharren, bis wir sicher sein können, dass wir unentdeckt geblieben sind. Dann können wir ins Schloss zurück."
Frau Quan faltete ihre Zeitung zusammen und stand auf. Nach einer weiteren stummen Konversation mit Colin gab sie ihm mütterlich lächelnd noch zwei Scheiben Toast, die er gleich großzügig einzubuttern begann.
"Gut, soweit war ich auch, aber was machen wir dann?"
"Dann geht der Kampf weiter. Hoffentlich mit dir."
"Hm." Kei fragte sich, wie lange das wohl so gehen würde, aber gegen Straßenschlachten mit Vampiren hatte er nichts einzuwenden. Der Körper des Vampirs wollte Blut statt Toast. Den Hunger befriedigte Kei sonst mit Zigaretten, das half ein wenig.
Dennis musterte ihn gespannt. Keis Reaktion schien ihn zu freuen. Dann wandte er sich Colin zu.
"Gleich kommt ein Arzt für dich," sagte er mit einer Hand am Kinn, Colin vorsichtig musternd. Colin hielt mit dem Marmeladentoast im Gesicht inne, biss dann ab und nickte.
Frau Quan räumte klappernd um den Herd herum auf.
Kei drückte den Stummel seiner Kippe aus und wandte sich Colin zu. Musterte ihn und dann Dennis. Ich find nicht, dass er einen Arzt braucht, aber gut... Er nahm sich noch ein Brot und beschmierte es mit Mett. Essen brachte nichts, schmeckte aber.
Dennis las gemächlich weiter seine Zeitung, während Frau Quan aufräumte und saubermachte und Colin und Kei aßen.

Nach etwas über zehn Minuten klingelte es an der Tür. Dennis stand auf und ging aus der Küche. Colin hatte den Rest seines Tees ausgetrunken und sah angespannt zur Küchentür. Frau Quan schien sich nicht darum zu kümmern.
Aus dem Flur kamen Männerstimmen. Kei drehte sich in Richtung der Stimmen. Eine Gefahr konnten die Männer nicht sein, da keiner sich groß zu kümmern schien.
"Kei, Frühstück," meldete Dennis von nebenan, aus dem Wohnzimmer, wo allgemeines Rascheln andeutete, dass sich mehrere Personen versammelten und niederließen. Der Japaner stand auf und ging nach kurzer nonverbaler Verabschiedung von Colin in den Raum, aus dem Dennis' Stimme kam. Das wurde auch langsam Zeit, seine letzte richtige Mahlzeit lag bestimmt drei Tage zurück.
Im gutbürgerlich eingerichteten Wohnzimmer saßen zwei Männer in grauen Overalls auf den Sesseln und ein dritter, ebenfalls in Handwerkermontur, stand vor dem Kamin. Sie sahen zu Kei und grüßten ihn.
"These are Jimmy, Tom and Dave," stellte Dennis vor, indem er nacheinander auf jeden zeigte. Jimmy, der Stehende, schien der älteste von ihnen zu sein, um die vierzig vielleicht, und die anderen beiden schienen etwa zehn Jahre jünger zu sein. "This is Kei, my brother."
Die Männer nickten, aber nur Dave sagte knapp: "Hello."
Er und Tom krempelten ihre Ärmel hoch und legten ihre Arme auf die Armlehnen ihrer Sessel.
"They're allies, and they've agreed to this," erklärte Dennis.
"It seems that we have a lot of allies," kommentierte Kei, der sich ein umbringbares Frühstück erhofft hatte. Das behielt er jedoch lieber für sich. Hauptsache Blut. Töten war zweitrangig, zumindest heute. Dafür schrien seine Eingeweide einfach zu laut nach Nahrung.
Während Dennis sich vor den rothaarigen Tom kniete und dessen Unterarm nahm, erschien Colin in der Tür. Stumm ging er langsam zum Klavier in der Ecke, setzte sich dort auf den Hocker und sah zu. Kei bediente sich an Daves Unterarm. Er bekam Colins Eintreten zwar mit, war aber völlig mit seinem Tun beschäftigt. Frisches Blut. Er musste nur darauf achten, den Mann nicht umzubringen. Sich zu benehmen war so anstrengend!
Dennis trank von Tom, gemächlich und genüsslich, während der seinen Kopf auf die Lehne zurücklegte und die Augen schloss. Dave tat das gleiche. Kei trank etwa einen halben Liter Blut von ihm bevor er mit zufriedenem Blick von dem Mann abließ. Colins Blut war besser, aber dem konnte er nicht ständig welches abnehmen.
Als Dennis fertig war, leckte er sorgfältig über die Wunde in Toms Arm und sah zu, wie sie sofort zu bluten aufhörte. Tom und Dave atmeten beide auf. Kei war so freundlich, Daves Wunde ebenfalls zu schließen. Erst dann sah er in Richtung Colin. Mit leichtem Lächeln auf dem Gesicht. Colin lächelte ein bisschen zurück.
Dennis erhob sich und bedankte sich. Jimmy brummte und ging in die Küche, aus der er beinahe sofort wieder heraustrat, mit einem Tablett voller Essen und Getränke für Tom und Dave.
Kei stand auf und schlenderte zu Colin, küsste ihn. Etwas schüchtern erwiderte Colin den Kuss.
Die anderen, außer Dennis, sahen ihnen kurz zu, bis das Essen zwischen ihnen auf dem kleinen Beistelltisch stand. Kei ließ sich von ihnen nicht stören, doch Colin zog bald den Kopf zurück und drückte gegen Keis Schulter. Es schien ihm nicht richtig, diesen fremden Männern hier jetzt diese Vorstellung zu geben. Grinsend ließ Kei von ihm ab.
Verlegen schob Colin sich die verfilzten Strähnen hinter die Ohren und stand auf.
"Nice to meet you," sagte er leise zu den Männern und schob sich peinlich berührt an Kei vorbei. Die Männer sahen ihn nur an und nickten, teils lächelnd. Dennis schmunzelte etwas.
Kei lehnte sich an das Klavier. "Habt ihr noch mehr Instrumente?" Er richtete das Wort an Dennis.
"Nicht hier," antwortete der.
Colin schlich in die Küche zurück, wo er Frau Quan beim Aufräumen half.
Schade... "Hm..." Kei brauchte Ablenkung. "Kann man hier rausgehen?" Er wollte das wissen, bevor es wieder eine Prügelei gab. Er wollte sich bewegen und irgendetwas zu tun haben. Abwarten bekam ihm nicht.
Dennis legte wieder einmal seine Hand aufs Kinn und betrachtete Kei zum gefühlten hundertsten Mal nachdenklich, bevor er den Mund aufmachte.
"Verkleidet... ja. Aber nicht mit Colin," sagte er schließlich.
Kei fragte sich, was verkleidet heißen sollte. Nur ohne Colin nach draußen zu dürfen war auch beschissen. Es war fast egal, was er anzog. Die Leute, die sie suchten würden doch bei jedem männlichen, schlanken Japaner misstrauisch werden und ihn verfolgen. Vermeiden unter Leute zu gehen war die einzige Option, die er hatte.
Als Dave und Tom mit dem Essen fertig waren und auch ihre Gläser geleert hatten, standen sie allmählich auf.
Dennis bedankte sich noch einmal und verabschiedete die drei mit einem Händedruck, während sie sich ihre Jacken anzogen und wieder gingen. Sie nahmen dabei zwei Werkzeugkoffer mit, die sie anscheinend mitgebracht und in die Tür gestellt hatten.
Kei verließ ebenfalls den Raum und ging in das Zimmer, das er sich mit Colin teilte, setzte sich auf das Fensterbrett und schaute nach draußen.
Die Straße unter dem Fenster blieb relativ unbelebt. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei und einzelne Personen gingen mit angeleinten Hunden oder allein, meist auf ihre Smartphones glotzend, auf dem Bürgersteig entlang.
Colin kam nicht herauf.
Kei fragte sich, ob es auffiele, wenn er aus dem Fenster springen und sich eine Weile die Beine vertreten würde. Vermutlich nicht. Ob diese Typen die Gegend absuchten?
Irgendwann drang von unten Musik gedämpft in das Zimmer herauf.
Kei lauschte der Musik.
Es klang nach wirklich altem Rock'n'Roll.
Der Vampir öffnete das Fenster und schloß die Augen. Eine Gitarre wäre auch gut, aber die gab es hier auch nicht.
Nach einer ganzen Weile klingelte es wieder an der Tür.
Kei schaute auf, bewegte sich aber nicht. Zum Türöffnen waren noch genug andere Leute da.
Kurz darauf näherten sich Schritte der Tür, und Colin öffnete sie. Hinter ihm stand Rupert mit zwei Taschen in den Händen.
"Hello there," sagte er zu Kei.
"Ohayo," erwiderte Kei und musterte die beiden.
"I'm glad this worked out well," sagte Rupert und stellte seine Taschen auf dem Bett ab, während Colin die Tür schloss. Er wirkte so ruhig und verschlossen wie den ganzen Morgen schon, als er sich stumm auf die Bettkante setzte.
"Was is los?" Kei schaute Colin fragend an.
"Das ist der Arzt," sagte Colin. "Er heißt Rupert Ingram." Er sah zurück zu Rupert, der sich den einen Stuhl im Raum heranzog und milde lächelte.
"Ah. Heilen deine Verletzungen nicht eh schnell von allein?"
"Ja. Er will sehen, ob sie etwas hinterlassen haben."
Rupert öffnete seine Taschen und zog ein Stethoskop aus einer, das er sich gleich um den Hals hängte.
"Please take your shirt off."
Kei gab ein 'Aha'-Geräusch von sich und sah dem Prozedere gelassen zu.
Schließlich saß Colin nur noch in Boxershorts da und wurde minutenlang am ganzen Körper von Rupert abgehört und befühlt, zum Schluss auch im Stehen, während Rupert die ganze Zeit sehr ernst und konzentriert dreinblickte.
Kei betrachtete seinen Freund.
Colin sah blass und unverletzt aus wie immer. Er wirkte sehr gelassen und ruhig, hob bereitwillig Arme und Beine, sah dabei zu, wie Rupert nach irgendetwas zu tasten schien, und senkte auch brav den Kopf, als er seinen Nacken befühlen wollte. An seinem Hinterkopf brauchte Rupert etwas länger und tastete sorgfältig und langsam zwischen Colins verknoteten Haaren herum.
Kei sah ihm dabei zu.
"I have to look in here," sagte Rupert, "Turn around." Er kramte einen Rasierer aus seiner Tasche und suchte nach einer Steckdose.
Colin sah ihm zu, mit etwas geweiteterem Blick, und setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken zu ihm hin.
Kei sah weiterhin skeptisch zu.
Ohne sich um eine Unterlage für die Haare zu kümmern, setzte Rupert ein paar große Klingen auf den Apparat, den er dann neben dem Bett statt der Nachttischlampe in die Wand einstöpstelte, und legte eine Hand auf Colins Hinterkopf.
"Down. And don't move."
Colin warf Kei noch einen unsicheren Blick zu, ehe er den Kopf senkte und Rupert ihm den Kopf zu scheren begann.
Kei sah verwirrt drein. "Why do you cut his hair off?"
"There's something in the back of his head," sagte Rupert laut, um die Maschine zu übertönen.
Als die verfilzten Locken alle heruntergefallen waren, pustete er über die Klingen und wechselte den Aufsatz.
"What? You mean under the skin?" Kei musterte das Geschehen.
"Yes." Rupert fuhr damit fort, Colin eine waschechte Glatze zu verpassen. Der hatte die Schultern hochgezogen und die Hände auf seine Füße gestützt, die er die ganze Zeit stumm anstarrte.
Die nächste böse Überraschung... Kei seufzte.
Mit Colins T-shirt wischte Rupert ihm schließlich all die kleinen Haare vom Kopf und den Schultern. Nachdem er den Rasierer zur Seite gelegt hatte, nahm er eine Mappe aus einer der Taschen und entfaltete sie auf dem Nachttisch.
"Do I need to anesthetize you?" fragte er.
"No," sagte Colin leise, aber selbstsicher, nach dem Blick auf Ruperts geöffnete Instrumententasche mit glänzenden Skalpellen, Haken, Scheren, Fläschchen und Nadeln.
Rupert nahm sich ein paar weiße Nitrilhandschuhe aus einer Plastiktüte in der Tasche und zog sie sich über. Colin sah ihm dabei zu, wie er daraufhin ein Skalpell herauszog und mit einer langen Pinzette aus einer weiteren Tüte einen dichten weißen Stoffknubbel nahm.
Kei sah weiterhin zu und fragte sich, was wohl nächstes passieren würde, nicht an Colins Kopf, das wusste er, aber mit Colin. Was Gutes konnte das einfach nicht sein.
Auf Ruperts Signal hin sah Colin wieder nach vorn und senkte den Kopf. Rupert rutschte noch etwas näher heran auf seinem Stuhl und fand die verdächtige Stelle wieder, die ihm beim ersten Betasten aufgefallen war.
"I'm cutting now," sagte er ruhig und schnitt ein paar Zentimeter über der Wirbelsäule die Haut über Colins Schädel auf.
Kei sah zu.
Colin blickte wieder stumm auf seine Hände und Füße, während Rupert ihn weiter untersuchte. Der zog mit den Fingern die Haut auseinander und hebelte mit dem Skalpell ein bisschen unter die Haut, um darunterzusehen, und tupfte dabei mit dem Bausch an der Pinzette das herauslaufende Blut ab.
"It's gone," sagte er nach einer Weile irritiert.
"What was there?" fragte Kei.
"I don't know," sagte Rupert ein wenig abwesend. Und verärgert. "An emitter, a transmitter, receiver, a capsule, a blood clot, a tick... But it's gone now."
Kei schaute skeptisch. "I guess it had a certain purpose..."
"If it wasn't just a giant tick or a blood clot, then yes. But it's gone." Rupert wirkte ein wenig genervt. Er legte die kleinen Hautlappen wieder zusammen, wischte noch einmal mit dem Stoffballen darum herum und legte seine Utensilien dann weg.
Kei beruhigte das nicht. Er sagte aber nichts mehr dazu. Was auch immer das gewesen war, er hoffte, es würde sich bald herausstellen.
Colin befühlte den Einschnitt, der schon wieder zuwuchs, und sah Rupert dabei zu, wie er seine Sachen wieder aufräumte und wegpackte.
"You're clean, as far as I can tell," sagte er freundlich.
Kei schaute Colin an. "Alles okay?"
Colin erwiderte den Blick. Natürlich nicht. Aber das weißt du.
"Ja, klar."
Kei musterte ihn kurz, nickte leicht und sah dann wieder aus dem Fenster. Was für einen Scheiß habt ihr euch noch ausgedacht, he?Das einzige, was den Japaner erleichterte, war die Tatsache, dass das kleine Ding bei Entfernung nicht den sofortigen Tod herbeiführte – wer wusste schon, wie unsterblich Colin und er wirklich waren? Kei jedenfalls wusste es nicht. Und er wusste auch nicht, wie viele Veränderungen diese Typen an seinem und an Colins Körper vorgenommen hatten, während sie beide tot gewesen waren.
"If it's gone now, how come the wound was still there? I heal really fast," fragte Colin Rupert und sah ihn an. Rupert packte seine Taschen wieder zusammen.
"It was healed. There was no wound, just a little indentation in your skull. It wasn't injured."
"An indent- But how come that didn't heal?"
Rupert atmete aus und sah Colin an. "It wasn't injured. Your skull molded – it grew around it. So it's been there for a long time," erklärte er ruhig.
Kei hörte dem Gespräch zu, sagte aber nichts dazu. Er sah aus dem Fenster. Viel war da nicht zu sehen.
Als Rupert seine beiden Taschen geschlossen und auf dem Boden abgestellt hatte, setzte er sich wieder hin. Colin hatte sich zu ihm umgedreht.
"Do you have any idea when it might have come out? Did you have a head injury at some point?" fragte Rupert ernst. Colin zuckte mit den Schultern. Er dachte nach. Er hatte viele Verletzungen gehabt. Auch am Kopf. Aber dahinten...
"I only recall one in Havana. When we were still in Cuba, just before we came here." Er sah zu Kei. Er hatte keine Ahnung wie lang das her war. Denn er wusste nicht, wie lange er in der Grube festgehalten worden war. Rupert folgte seinem Blick zu Kei. Er schien auf eine Antwort zu warten.
"There were a few guys who wanted a beating – and Colin got smashed in a wall," erklärte Kei, ohne sich umzudrehen.
"Did you notice any changes after that?" fragte Rupert. Er sah zwischen Kei und Colin hin und her. Colin schien von seinen Haaren abgelenkt zu sein, die auf seinen nackten Beinen herumlagen und spielte an seinen verfilzten Locken herum.
"He turned into himself again." Kei war das nicht sofort aufgefallen, aber lange hatte es nicht gedauert bis er gemerkt hatte, dass Colin wieder Colin, und menschlich - obwohl anscheinend immer noch untot - war. Colin sah zu ihm auf. Rupert legte ebenfalls interessiert den Kopf schief.
"What do you mean?" fragte er.
Kei drehte sich zu ihnen um. "Well... After he died – back in Japan – he was not the Colin I knew. He was eating human flesh and enjoyed it. After that day in Havana he was behaving like a human again. He was disgusted by the dead man's arm he ate. Oh, but he is still trying to kill himself every now and then."
Mit fragend hochgezogener Augenbraue und gerunzelter Stirn sah Rupert Colin an, der ebenfalls ernst und ratlos dreinblickte.
"Sometimes, when I sleep... I wake up... and can't control my body. It just goes and tries to die. I dunno why. At first I could hold it back a little. But not anymore." Colin kaute sich auf der Unterlippe herum und verzog den Mund und blinzelte etwas, so als ob er sich unter Kontrolle zu bringen versuchte. Tatsächlich war ihm gerade sehr nach Heulen zumute.
Rupert sah ihn etwas schockiert an. Langsam stand er auf.
"You should talk to Dennis. He knows a lot about these experiments, maybe he can explain this, too." Mit einem etwas mitfühlenden Blick auf den nun glatzköpfigen blassen Jungen, der da fast nackt mit den Resten seiner strähnigen Kopfbehaarung auf dem Bett saß, nahm er seine Taschen und wandte sich zur Tür.
Kei stand auf, ging zu Colin und ließ sich neben ihm auf den Boden fallen.
"Falls es dich beruhigt, ich pass auf, dass du dich nicht ein zweites Mal selbst ganz umbringst," sagte er ruhig.
Colins Blick wandte sich von der geschlossenen Tür, hinter der sich Ruperts Schritte entfernten, zu Kei. Er stieß einen Laut aus, der wie ein halbes Lachen klang aber keines war, und wischte sich sofort über die nassen Augen.
"Wie kaputt bin ich eigentlich?!" Er stützte die Ellenbogen auf seine Beine und drückte die Handballen auf seine Augen. Dabei griffen seine Fingerspitzen über der Stirn ins Leere, nur auf nackte - vielleicht etwas stoppelige – Haut, wo gerade noch seine Haare gewesen waren.
"Du bist viermal entführt worden, einmal gestorben, hast diverse Male versucht, dich umzubringen, du warst 'ne Untergrundkäfig-kampfattraktion, sie wollten dich zu 'ner Crackhure machen, du hast deine abgeschlachtete Familie an Heiligabend gefunden, du bist seit zwei Jahren mit mir unterwegs, die Erpressung in Japan – Du bist also ziem-" Colins Faust landete zielgenau und hart in ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit in Keis Gesicht, so ungefähr auf seiner Nase, Wange und dem linken Auge. Und Colin selbst hockte nun vor ihm und drückte ihn bei der Kehle nach hinten.
Kei machte keine Anstalten, sich irgendwie zu wehren, mit dem rechten Auge musterte er Colin. Ein leichter Schmerz durchzog sein Gesicht, aber der störte ihn nicht weiter.
"Weiter mittig, wenn du mir die Nase brechen willst," sagte er ruhig. Nach hinten drücken ließ er sich nur leicht. Colin kniete auf seinen Schenkeln und krallte sich nun in seine Kehle, während seine rechte Faust wieder weit ausholte und nochmal zuschlug, wieder halb auf die Nase. Sein Gesicht war nass und sah wütend und gequält aus.
"Das findest du witzig, ja?! Zum TOTlachen, was?! So! Witzig!" Er schlug noch ein paarmal hart zu. Seine Kraft hatte während seiner Gefangenschaft scheinbar etwas zugenommen, doch Kei fing den letzten Schlag mühelos mit einer Hand ab.
"Du musst schneller sein, wenn du mir wirklich wehtun willst."
Colin ließ die Arme fallen und schluchzte. Das war ihm sofort peinlich, und er wischte sich mit dem Unterarm über die Augen. Er wollte Kei wirklich wehtun. Kei hatte ihm wirklich wehgetan. Irgendwie. Colin verstand nicht, wie genau. Aber das war egal. Er konnte Kei nie heimzahlen, was er ihm antat, wenn er nur so unbedacht den Mund aufmachte wie Kei das nunmal tat. Lustlos gab er ihm noch eine Ohrfeige, dann ließ er den Kopf sinken.
Kei setzte sich wieder aufrecht hin und verknotete die Beine zu einem Schneidersitz. Er nahm den Kleineren einfach in den Arm.
Im ersten Moment legte Colin die Stirn auf Keis Schulter, doch nach nur ein paar Sekunden stemmte er sich gegen ihn und machte Anstalten, aufzustehen. Das Gesicht wandte er zur Seite ab. Kei ließ ihn los und Colin stand auf und zog eilig die von Dennis geliehenen Kleider, Jeans, T-shirt und Socken, wieder an, ohne Kei anzusehen.
Kei stand auch auf. Wenn Colin beleidigt sein wollte, dann würde er dem kein Hindernis sein.
Colins Blick wanderte von selbst zu seiner Eisenklaue, die auf dem Holzschreibtisch lag, der unweit des Bettes an der Wand stand. Er hatte ein unbestimmtes Bedürfnis, sie wieder anzuziehen. Doch dann wurde ihm bei dem Gedanken etwas übel und er öffnete forsch die Tür. Kei wartete, bis Colin gegangen war. Er würde sich draußen etwas umsehen.

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