Saturday, July 16, 2016

Kei + Colin LXXVIII: Aussitzen



Kei zog sich vollständig an und ging nach draußen. Ihm war egal, dass er das nicht sollte. Drinnen den ganzen Tag lang herumzusitzen war nunmal scheiße. Zeitsparenderweise benutzte er dafür das Fenster, was zusätzlich noch den netten Nebeneffekt hatte, dass sein Verschwinden nicht sofort bemerkt werden würde. Eher ziellos wanderte er durch diese Gegend, die er noch gar nicht kannte. Das Wohngebiet, in dem sie waren, erschien ihm friedlich und ruhig, obwohl hier wohl viele Menschen lebten.
Gute drei Stunden später kam er wieder zurück.
Als er die Tür des hohen, geschlossenen Lattenzauns im Garten hinter sich schloss, fiel sein Blick auf Dennis und Colin, die auf der kleinen Terrasse an einem runden Gartentisch saßen. Hinter ihnen auf dem Sims des Küchenfensters stand ein kleines Taschenradio, aus dem blechern und dünn Musik erklang.
Sie sahen zu ihm auf. Kei erwiderte den Blick und ging ins Haus. Als er die beiden passierte, wurde ein freier Gartenstuhl kratzend zur Seite getreten.
„Hat die letzte Aktion so großen Spaß gemacht, dass du sie wiederholen willst?“ fragte Dennis fordernd und laut genug, dass Kei ihn noch durch die Terrassentür deutlich hören musste.
„Ja, jederzeit wieder,“ entgegnete Kei sarkastisch und blieb stehen.„Setz dich,“ sagte Dennis ebenso fordernd.
Kei kam zurück nach draußen und setzte sich. Eigentlich wollte er nicht, aber besser er ließ sich das jetzt gefallen, als sich später damit beschäftigen zu müssen. Colin lehnte auf seinen Armen auf dem Tisch und sah von Kei wieder matt auf die Zigarette zwischen seinen Fingern hinunter. Vor ihm stand eine Coladose.
Dennis lehnte sich zurück und sah beide an.
„Irgendwas spannendes passiert auf deinem Spaziergang?“ fragte er.
„Nein. Niemand da. Nichts passiert. Nur Menschen, die hier wohnen,“ sagte Kei und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an.
„Immerhin,“ sagte Dennis. In etwas milderem Ton. Eine ganze Weile sagte niemand mehr etwas. Colin drückte irgendwann seinen glimmenden Stummel im Aschenbecher aus und nahm sich eine weitere Zigarette aus Keis Schachtel und zündete sie sich an, obwohl er an der alten kaum gezogen hatte.
Dennis leerte seine Bierflasche und stand damit auf.
Kei – im Gegensatz zu Colin – rauchte, was er sich angezündet hatte, und blieb eine Weile auf dem Stuhl sitzen. Sollte er sich nur hier hersetzen, damit man ihn fragte, ob irgendetwas passiert war? Mit einer winkenden Geste gen Colin ging Dennis zur Tür.
„Redet,“ sagte er und ging hinein.
Sein Ernst?! Der Vampir wusste nicht, worüber, sollte er sich jetzt entschuldigen, weil er was anscheinend unpassendes gesagt hatte?
Colin sah ihn vorsichtig an, dann wieder auf seine Hand.
Kei sah in seine Richtung, zog ruhig an seiner Zigarette und wartete. Er hasste Dennis' Pseudopaartherapeutenversuch jetzt schon.
„Er hat mir Zeug erzählt,“ sagte Colin, nachdem er sich umständlich geräuspert hatte. „Und er will, dass wir bei ihm mitmachen.“
„Was für Zeug?“ fragte Kei.
„Über die Instanz und uns.“ Colin schwenkte seine fast leere Coladose und drehte sie um, um die letzten vier Tropfen auf die Tischplatte platschen zu lassen.
„Erzähl.“
„... Unsere Väter sind sich sehr ähnlich.“ Mehr schaffte Colin gerade nicht. Laut stellte er die Dose wieder hin und zog an der Zigarette.
„Hm, war das die relevante Information?“ Kei bezweifelte das. Colin sah ihn an.
„Bevor ich geboren wurde, hat mein Vater mich an die Vampire verkauft, damit sie an mir herumexperimentieren können. Ich finde das ziemlich relevant,“ sagte er trocken.
Kei nickte. Colin musste ihm schon sagen, was er meinte. Mit der einfachen Info, dass sich ihre Väter ähnlich waren konnte Kei nicht sehr viel anfangen, denn das konnte alles mögliche heißen – immerhin war Kira ein Arschloch wie es im Buche stand. Colin zog noch einmal an der Zigarette.
„Mein Vater hat meine Mutter sitzen lassen, als sie schwanger wurde. Sie war noch im Studium und hätte mich abgetrieben, aber dann kam er zurück und hat sie überredet... das hat er wegen der Instanz gemacht. Reuel war hypnotisiert und hat seine Ehe kaputtgemacht, um mich auf Männer zu prägen. Als ich dann weg war, in Japan, hat er sich umgebracht. Meine Mutter hat ihre Stelle in Tokyo bekommen, weil ihre Vorgängerin dort von der Instanz umgebracht wurde. Dann ist sie mit Hiroki und Nobunaga und Humphrey... auch von der Instanz ermordet worden. Ich existiere nur, damit jahrhundertealte Vampire herausfinden können, wie sie den Tod austricksen können. Ich lasse mich von dir ficken damit alte Säcke ewig leben können. Darum ist deine Mutter ermordet worden. Darum sind unsere Familien tot und Reuel und wir. Jeder Therapeut den ich in meinem Leben hatte war die Instanz. Ich existiere nur um von dir gefickt zu werden.“ Colin sprach ruhig und monoton, indem er auf die Tischplatte blickte, und nun stand er auf. Kei blieb sitzen.
„Wir existieren nur, damit andere ewig leben. Experiment geglückt würde ich sagen.“ Kei war das ganze Drumherum egal, ändern konnte er das nicht, also dachte er darüber gar nicht erst nach. „Oh, du existierst nicht, um von mir gefickt zu werden. Dass du ewig lebst, reicht denen. Für den Rest bist du selbst verantwortlich, oder ich - weil ich mich weigere, gefangengenommen zu werden.“
Colin hörte sich das an, ohne Kei anzusehen. Als er geendet hatte, drückte er die Zigarette aus. Irgendwas fand Kei an ihm, aber mit dieser neuen Information von Dennis hatte er auch endlich eine plausible Antwort auf seine Frage, warum Kei an ihm interessiert gewesen war und nun so an ihm hing. In Südamerika hatte es für eine Weile aufgehört. Scheinbar grundlos. Sie waren beide hierfür konditioniert worden.
„Wie kannst du so gelassen sein?“ fragte er leise.
„Ich kann nicht ändern, was unsere Eltern verkackt haben oder wofür sie uns missbraucht haben, also wieso sollte ich mich darüber aufregen? Außerdem ist der Grund, warum dieses oder jenes so ist wie es ist doch fast egal. Ich hab andere Gründe diese Leute ausradieren zu wollen,“ sagte der Vampir ruhig und zündete sich eine neue Zigarette an, nachdem er die andere ausgedrückt hatte.
„Und welche?“
„Das weißt du.“ Kei stand auf.
„Du bist beleidigt und willst dich rächen, weil du genervt bist?“ Colin zuckte mit den Schultern.
„Sehr kreativ, aber nein.“ Kei wandte sich zum Reingehen, wie er es vorhin schon vorgehabt hatte.
„Sondern?“ fragte Colin etwas lauter und folgte ihm.
„Frag Dennis, wenn du nicht drauf kommst. Der weiß doch sonst auch alles,“ sagte Kei und winkte ab. Colin folgte ihm hinein und stellte seine Getränkedose in der Küche irgendwo ab. Dennis stand mit Delilah im Wohnzimmer, das man von hier aus einsehen konnte.
Kei ging nach oben. Colin sah ihm nach und gesellte sich dann zu Dennis und Delilah vor den Kamin.
Nach wenigen Minuten betrat er ebenfalls das Zimmer, das er sich mit Kei teilte.
„Dennis freut sich, dass du mitmachen willst. Aber er weiß nicht, was du außer dem Scheiß, den sie mit uns gemacht haben, für einen Grund haben könntest, die Instanz vernichten zu wollen,“ sagte er schlicht, während er die Tür schloss.
„Oh, dann musst du selber nachdenken,“ entgegnete Kei auf dem Bett liegend. Colins Haare waren nicht mehr darauf verteilt. Anscheinend hatte Colin inzwischen saubergemacht.
Nun sah er Kei trocken an. Er musterte ihn mit seinem typischen trotzigen, aber ansonsten neutralen Blick und lehnte sich an die Tür.
Kei hatte nur eine Hose und ein Tanktop an und wartete, ob noch etwas von dem Kleineren kam. Tat es nicht. Er wandte nur irgendwann den Blick von Kei ab, etwas beschämt, und blickte stumm im Raum herum. Kei hing seinen Gedanken nach.
„Wir müssen noch ein paar Tage hierbleiben,“ bot Colin verlegen an. Seine Hand wanderte hinauf zu seinem Ohr aber fand keine Haare, die er sich dahinterstecken konnte, und mit leicht erschrecktem Blick kratzte er sich nur an der Glatze.
„Ich weiß.“
Colin nickte. „Dir ist echt alles scheißegal, was?“ fragte er gelassen, ohne Anklage oder Aggression in der Stimme.
„Nein. Nicht alles,“ entgegnete Kei.
„Ach ja, klar,“ sagte Colin lächelnd. „Ich vergaß... Zigaretten, Alkohol, Blut, Töten, Motorräder und E-Gitarren.“
„Guck noch mal nach, du hast was vergessen.“
Colin sah auf seine Hände und zählte ab: „Zigaretten, Alkohol, Blut, Töten, Motorrad, E-Gitarre... nein, ist alles – ach ja. Mein Arsch. Das sind die sieben Dinge auf die du nicht verzichten willst.“
Kei ließ das Antworten bleiben und schaute aus dem Fenster.
Colin schmunzelte halb und stieß sich von der Tür ab um zum Bett zu gehen. Kei beachtete das nicht weiter. Colin kletterte zu ihm und über ihn, bis er rittlings auf ihm saß.
„Ich habe Recht, oder?“ Er lächelte.
„Nein, du hast immer noch was vergessen,“ entgegnete Kei nüchtern. Colin beugte sich zu ihm hinunter, wobei er sich auf seinem Rücken abstützte, und küsste seinen Nacken, nachdem er die Haare etwas zur Seite gestrichen hatte.
„Nummer Acht: Blowjobs,“ sagte er leise.
„Fehlt noch was,“ sagte Kei und sah weiter aus dem Fenster, wobei es mit Colin auf ihm nicht sehr bequem war, geradeaus zu gucken.
„Was?“ Colin biss sanft in ein Ohr.
„Rate weiter. Es fällt dir noch ein.“ Auf Keis Gesicht zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab – für Colin aufgrund von Keis Position unsichtbar.
„Keine Lust,“ sagte Colin plötzlich ungerührt und stand auf.
„Dann nicht.“ Kei blieb liegen und sah weiter auf die Landschaft draußen, welche man eigentlich nicht als solche bezeichnen konnte, weil sie aus Dächern und Wänden bestand.
Die Zimmertür wurde unsanft von außen geschlossen.
Kei veränderte seine Position nicht und besah sich weiter die Häuser draußen.

Bald drang wie am Morgen wieder Musik aus dem Wohnzimmer nach oben. Wieder war es Rock'n'Roll, scheinbar von Schallplatten oder Tonbändern. Kei hörte zu, dachte nach und legte irgendwann den Kopf auf die Matratze. Nach einer Weile drehte er sich um, sodass sein Blick in Richtung Zimmerdecke ging. Seine Augen fanden dort nur einen Leuchter. Den betrachtete er eine ganze Weile lang.
Stundenlang ging die Musik noch weiter, und es kam niemand herauf, bis es draußen allmählich dunkler wurde. Die Schritte gehörten nicht Colin und sie bewegten sich nur schlurfend an der Zimmertür vorbei und in das schräg gegenüberliegende Badezimmer. Kei schenkte den Schritten keinerlei Beachtung, da sie weder Colins waren, noch sein Zimmer zum Ziel hatten. Stattdessen lauschte er weiter auf die Musik, als deren Urheber er Colin vermutete. Tatsächlich ertönte sie mittlerweile nicht nur aus alten Lautsprechern, sondern war gelegentlich von klareren Klavierpartien begleitet und von Gesang und Gelächter in mehreren Stimmen durchsetzt. Der Vampir ließ es bleiben, sich der unten herrschenden guten Stimmung anzuschließen, er hörte dem Treiben lieber aus der Ferne zu.
Nach einigen Minuten stand er auf und machte – samt Zigarettenschachtel – einen Satz aus dem Fenster. Er landete so in der Abstellgasse zwischen den Häusern, dass man ihn von den Fenstern und der Straße aus nicht sehen konnte.
Während er seine Zigarette anzündete, gingen auch die Straßenlaternen nacheinander an. Noch war es nur grau und dämmerig, aber nicht richtig dunkel. Hier draußen konnte man die Musik nur noch sehr schwach vernehmen, wenn man genau horchte und ein sehr gutes Gehör hatte. Kei hörte die leise Musik zwar, achtete aber nicht mehr richtig darauf. Er widmete sich seiner Zigarette und sah dem Himmel beim Dunkelwerden zu.

In den folgenden Tagen und Nächten sprach Colin kaum mit ihm, obwohl er weiterhin bei ihm im Bett schlief. Einmal stand er in den frühen Morgenstunden auf und schlug ein paarmal seinen Kopf laut gegen den Holzschrank.
Kei öffnete müde die Augen und sah angesichts des nervenden Lärms in Richtung Schrank und Colin. Der stand in sehr angespannter Haltung da und trug nichts als seine Schlafboxershorts und die Eisenklaue, die er aufgeklappt in beiden Händen hielt und deren Klingen sich noch wenige Zentimeter von seiner Kehle entfernt befanden. Sein Gesicht war verkrampft und seine weit aufgerissenen Augen starrten auf den Metallhandschuh vor seinem Gesicht, während er den Kopf noch einmal nach hinten riss und gegen die Tür des Kleiderschranks schlug.
„Du sollst dich nicht umbringen...“ Kei stand etwas müde auf, nahm Colin den Handschuh weg und stellte sich zwischen ihn und den Schrank. Dabei stolperte Colin ungelenk dem Eisenhandschuh nach, bekam ihn aber nicht zu fassen und drehte sich stattdessen schwerfällig zu Kei um und sah ihn mit zusammengebissenen Zähnen verzweifelt an. Kei erwiderte den Blick ruhig und blieb stehen, wo er war. Den Eisenhandschuh warf er außer Reichweite seines Freundes auf den Boden. Dem schweren Scheppern auf dem Boden wandte Colins Körper sich mit einem Ruck zu. Dann zuckten seine Beine und rannten ohne Mitarbeit des restlichen Körpers auf die freie Wand zwischen Tür und Kleiderschrank zu. Kei war schneller und stand wieder vor Colin, bevor der sich einen ganzen Meter bewegt hatte. Colins gesenkter Kopf krachte mit der Stirn voran in Keis Brust. Er hielt den Kleineren an den Schultern fest und hinderte ihn so daran, seinen Rammversuch zu wiederholen.
Schlag mich doch einfach! Davon muss ich aufwachen!
Colin zog und und drückte noch eine Weile und versuchte, sich aus Keis Griff zu winden, ohne dabei die Arme zu heben.
Kei stieß ihm tatsächlich die Faust in den Magen, um ihn zurückzuholen. Das war die beste Methode, Colin schnell wieder zur Besinnung kommen zu lassen. Angesichts der Selbstheilungskräfte des Kleineren war das nicht einmal wirklich schädlich.
„Hng!“ Colins Körper wurde durch den Stoß etwas rückwärts geworfen und krümmte sich leicht, als Kei ihn losließ und er zurückstolperte. Er hielt sich ächzend den Bauch.
„Wieder da?“
Colin nickte nur eilig. Sprechen war noch nicht drin. Mühsam richtete er sich auf und tastete nach dem Bett, auf das er sich setzte.
„Danke... aber musste das so fest sein?“ beschwerte er sich schließlich und rubbelte sich über das Gesicht, das er nun auch endlich wieder bewegen konnte.
„Vom Streicheln wirst du nicht wach,“ kommentierte Kei und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Von der Tür entfernten sich langsame Schritte. Colin sah kurz zur Tür.
„Man könnte meinen, du hättest Spaß dran, mich zu verprügeln,“ sagte er schlicht und legte sich auch wieder hin, neben Kei.
„Dann würde ich das nicht machen, wenn du versuchst dich umzubringen,“ sagte Kei schlicht und schloss die Augen. Es war noch tiefste Nacht, da war noch ein bisschen Schlaf zu holen.
Nachdenklich betrachtete Colin ihn noch ein paar Minuten lang, bevor er sich wegdrehte und den Schrank anstarrte. Kei brauchte nicht lang, um tief und fest einzuschlafen.

Als er aufwachte, war Colin schon aufgestanden, wie die Tage zuvor auch. Was diesmal anders war, war die Versammlung im Wohnzimmer. Neben Frau Quan und Dennis waren Delilah, Rupert, der Japaner aus Brasilien und noch vier Unbekannte dort. Colin saß auf dem Klavierhocker und aß langsam einen Muffin. Die anderen hielten alle Becher und Tassen mit Kaffee oder Tee in den Händen und waren auf dem Sofa, den Sesseln oder stehend um den Kamin herum verteilt.
Kei ging, nur mit einer schwarzen Jeans bekleidet, nach unten und leise ins Wohnzimmer. „Was is'n hier los?“ fragte er schließlich.
„Wir können ins Schloss zurück,“ sagte Dennis. Die Anwesenden musterten Kei teilweise neugierig und sahen Dennis interessiert an. Außer Delilah, Colin und dem Japaner verstand wohl niemand, was Dennis und Kei von sich gaben. „Hast du dich entschieden?“ fragte er Kei mit seinem typischen gelassenen Lächeln. Colin sah Kei gespannt an.
Der Instanz die Stirn zu bieten ist besser als vor ihnen davonzulaufen und zu hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen. Aber das bedeutet auch, nach ihren Regeln spielen zu müssen. Alleine schaffe ich das niemals... Kei wollte sich nicht unterordnen müssen, aber er hatte noch weniger Lust auf ein Leben auf der Flucht. Er überlegte eine ganze Weile, bis er er schließlich eine Antwort verlauten ließ: „Ich bleibe – zumindest vorerst.“
Colin lächelte und sah Delilah mit einem Blick an, der zumindest für sie und Kei eindeutig Triumph ausdrückte. Sie bedachte ihn mit einem schmunzelnden Seitenblick, während Dennis offen grinste.
„Then we'll be off. Rupert, you're taking Colin, Kei, du fährst mit Delilah, and the others know where and how to go,“ verkündete er.
Es folgte allgemeines Rascheln, als alle langsam aufstanden und ihre teilweise nicht ganz geleerten Tassen auf einem Tablett abstellten, das hinter Colin auf dem Klavier stand. Er stand auch auf, damit er sich nicht für jeden Arm ducken musste, der hinter ihn langte. Kei nickte und machte kehrt, Sachen packen. Das waren zwar nicht viele, aber zurücklassen wollte er nichts.

Als er wieder unten ankam, zuppelte Frau Quan gerade an einer Mütze herum, die sie Colin aufgesetzt hatte. Sie schien zu glauben, dass er sich verkühlen konnte. Da es tatsächlich sinnvoll war, seine nun recht auffällige, da beinahe haarlose, Erscheinung unauffälliger zu machen, bemühte Colin sich nicht, dieser netten Frau, deren Gast er nun tagelang gewesen war, zu erklären, dass ihm Kälte nichts ausmachte. Er ließ sie machen und nahm es auch hin, dass sie ihn noch in einen Schal einpackte, was Dennis, der schon in der Tür stand, mit etwas mitleidigem Blick mitansah.
„Schön, dass meine alte Garderobe noch einen Nutzen hat,“ sagte er. Außer ihm, Colin und Frau Quan schienen alle bereits das Haus verlassen zu haben. „Delilah ist bei den Motorrädern neben dem Haus,“ sagte er Kei, als er ihn sah.
Kei, dessen Habseligkeiten auf den Rucksack und die Taschen seiner Jacke, die er seit der Flucht aus Japan besaß, verteilt waren, nickte und schaute kurz leicht belustigt zu Colin hinüber. Dass sein Freund, mit dem er schon so einiges erlebt hatte, in jemandem einen Beschützerinstinkt wecken konnte, wie man ihn einem Kind gegenüber hat, fand er sehr amüsant. Er wäre niemals auf die Idee gekommen auch nur zu versuchen Colin warm einzupacken. Zu guter Letzt und allem Überfluss umarmte und küsste sie Colin auch noch zum Abschied, der sich das verlegen gefallen ließ und sich nett für die Gastfreundschaft bedankte und jegliche Umstände entschuldigte.
„Let him go, mum, we've got to go now,“ steuerte Dennis bei und bekam zur Strafe auch noch eine feste Umarmung mit einer schimpfend klingenden Verabschiedung. Kei lachte und ging an den sich Verabschiedenden vorbei.
„Thanks for having us here,“ steuerte er dazu bei.
„Oh no no there,“ schimpfte Frau Quan streng und packte Kei am Ärmel, um ihn auch noch in eine erdrückende Umarmung zu zwingen. Dessen Reaktion war große Verwirrung und ein Anflug von Überforderung, trotzdem ergab er sich einen kurzen Moment und erwiderte die Umarmung kurz. Dennis' Mutter war die dritte Person, die ihn jemals in seinem Leben umarmt hatte. Nun war Colin mit Grinsen an der Reihe, doch es sah überhaupt nicht hämisch aus. Er schob sich an Kei vorbei und ging mit Dennis hinaus, wo ein rothaariger Mann in einem silbernen Audi wartete.
Nachdem Kei die ältere Dame wieder losgelassen und sich noch einmal wie ein anständiger Japaner verabschiedet hatte, ging auch er hinaus und begab sich mit zügigen Schritten zu Delilah und den Motorrädern. Sie saß bereits auf ihrem und wartete darauf, dass er sich seinen Helm aufsetzte, ehe sie ihm drei behandschuhte Finger zeigte. Der Audi fuhr inzwischen los.
Kei stieg auf das Motorrad und sah sie fragend an. Zeichensprache konnte er nicht. Sie tippte auf ihr linkes Handgelenk und zeigte dann wieder ihre drei Finger.
„Wir fahr'n in drei Minuten?“ versuchte Kei sich an einer Interpretation des Gezeigten. Delilah rollte genervt die Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie einfach losfuhr. Kei fuhr hinterher. Sollte sie doch aufschreiben, was sie wollte. Das wäre viel einfacher!

Nach etwa drei Stunden näherten sie sich dem Schloss, diesmal von einer anderen Seite als das erste Mal. Unterwegs hatten sie einmal getankt, und Delilah hatte keinen weiteren Kommunikationsversuch unternommen. Kei war die Ruhe auf der Fahrt willkommen. Nicht, dass Delilah eine wirklich laute Person war, aber auch die Abwesenheit von Kommunikationsversuchen war gut.
Als sie ankamen, parkte Kei sein Motorrad unweit des Autos mit dem Colin und Rupert gefahren waren. In diesem Unterstand waren noch die schwarze Limousine, ein Geländewagen und zwei weitere Motorräder abgestellt. Delilah verstaute ihre Helme in einem Spind, der nebenan in der Garage stand, und begleitete Kei durch den Seiteneingang hinein.
Nachdem Kei erfahren hatte, dass er das gleiche Zimmer wie vor dem Zwischenstopp in dem Haus nach Colins Rettung beziehen würde, brachte er sein Zeug dorthin und warf es einfach aufs Bett. Die Badezimmertür stand offen. Kei ging nachsehen, wer sie göffnet haben könnte und stieß am anderen Ende des Badezimmers auf einen weiteren Schlafraum, der – wie sich bei genauerem Hinsehen herausstellte – Colin gehören musste. Die Jacke, die Mütze und der Schal, die er von Frau Quan bekommen hatte, lagen auf dem Himmelbett, das dem Keis sehr ähnelte. Überhaupt sah das ganze Zimmer fast genauso aus wie seins. Colin selbst war nicht da.
Kei ging zurück in sein Zimmer und packte seine Sachen aus, sortierte sie weg. Da er eine Weile hier bleiben würde, musste er nicht immer aus seinem Rucksack leben. Das hatte Vorteile. Er ging durch das Haus und erkundete es. Bisher hatte er das eher draußen getan.
Die unverschlossenen Türen auf seinem Flur führten fast alle zu weiteren großzügigen Zimmern, die allesamt zum Wohnen eingerichtet waren. Eine einzige am Ende des Ganges, der an einer Wand mit Fenster endete, führte zu einem einfachen, recht engen Treppenhaus mit winzigen Fenstern. Am anderen Ende mündete der Flur in die Galerie über der Eingangshalle. Ging man das Geländer entlang, kam man zu einem weiteren Flur, der fast wie das Spiegelbild des ersten wirkte. Hier waren die Räume nur etwas anders eingerichtet. Unter anderem gab es hier das Büro, in dem die Gruppe Kei empfangen hatte und Kriegsrat hielt und einen Raum mit Billardtisch, Dartscheibe, einer schwarzen Tafel auf die eine Strichliste gezeichnet war, einem großen Sofa, Flachbildschirm, mehreren Spielkonsolen, Kartentisch und anderen deutlichen Anhaltspunkten, die auf ein Spielzimmer hindeuteten.
Im Erdgeschoss gab es neben der Eingangshalle einen Saal mit Kronleuchtern, Wandteppichen, alten Waffen und Fresken an den hohen Wänden, in dem ein langer Tisch mit über zwanzig Stühlen und verschiedenen Beistelltischen stand, die allesamt mit Laken abgedeckt waren. Den hatte Kei schon einmal gesehen, denn die zweite Tür führte zu einem Salon, in dem sie schon gegessen und getrunken hatten. Er war wie ein reiches, sehr altmodisches Wohnzimmer mit Esstisch eingerichtet - oder so, wie Japaner es sich vielleicht vorstellten. Die beiden anderen Türen in diesem Zimmer führten zum einen zurück in die Eingangshalle und zum anderen an der Fensterwand entlang zur Bibliothek. Just aus dieser schwang Kei nun beschwingte, fröhliche Geigenmusik entgegen. Er wusste, dass diese von Colin stammen musste, ging aber nicht nachsehen. Stattdessen sah er sich weiter um. Vielleicht gab es einen Keller in dem auch noch etwas zu entdecken war. Colin zuhören konnte er später.
Er fand eine einfache Tür zum Treppenhaus und fand das Reich der Bediensteten. Es schien im Moment nicht bevölkert zu sein, sah allerdings benutzt aus. Ein großer, offener Raum mit langem Holztisch und einer Holztafel voller Glocken war von der Treppe aus als erstes ersichtlich. Direkt daneben gab es eine Küche, die recht modern eingerichtet war. Hier war nichts abgedeckt oder auf Dauer verstaut, wie es Kei schien, und es standen Kräutertöpfe und Kochgeschirr offen herum. Zwei große Kühlschränke summten an einer Wand.
Einen dunklen Flur entlang gab es noch ein paar verschlossene Türen und einen Raum mit Lebensmittelkonserven, Gemüse, Reis, Nudeln und dergleichen. Beinahe am Ende des Ganges, wo eine Tür nach draußen führte, gab es noch einen offenen Raum, in dem Schuhe, Stiefel, Mäntel und Werkzeuge verstaut waren. Einer der Schränke bot eine Auswahl verschiedener Waffen, und zwei weitere Schränke mit vergitterten Türen lockten mit ähnlichem Inhalt, waren allerdings verschlossen.
„Hello? Can I help you?“ fragte eine weibliche Stimme durch die offene Tür.
„Nah, I'm just taking an inside walk,“ entgegnete Kei leise und machte auch wieder kehrt. Im Schloss – es war ein wirklich großes Schloss – hatte er alles gesehen. So viel Raum für so wenige Leute. Er hatte immer geglaubt, seine Wohnung in Tokyo sei riesig, aber das hier übertraf alles.
Die Frau trat zur Seite, um ihn vorbeigehen zu lassen und sah ihm nach. Sie folgte ihm eine Weile den Gang entlang, bis sie zur Küche kamen, wo sie haltmachte und ihre Schultertasche auf einem Tisch ablegte.
Als Kei aus dem Treppenhaus kam, schloss sich ihm schräg gegenüber gerade die Tür zur Bibliothek, aus der immer noch Colins Musik drang.

Freudestrahlend probierte Colin die Geige aus, die Rupert ihm gerade in die Hand gedrückt hatte. Er hatte sie sofort gestimmt und stellte nun fest, dass sie nicht nur wunderschön und alt war, sondern auch klang, als hätte Antonio Stradivari sie persönlich in die Welt gehext. Rupert saß vor ihm im hohen grünen Ledersessel und lehnte sich gelassen zurück. Er sah und hörte Colin zu, der gleich begann, so gut er konnte, aus der Erinnerung Jesu Joy of Man's Desiring zum besten zu geben. Genüsslich und in aller Ruhe bespielte er die Bibliothek mit den zarten Klängen.
„Bach,“ murmelte Rupert lächelnd.
Kei betrat den Raum leise und setzte sich dort auf den nächstbesten Stuhl, den er finden konnte. Einen lederbezogenen, der neben einem antiken Schreibtisch nahe der Tür stand. Am Schreibtisch selbst lehnte Delilah, die Kei zur Begrüßung anlächelte, ehe sie wieder zu Colin sah. Er stand vor Ruperts Sessel, der friedlich lächelnd zuhörte, und jagte fröhlich durch verschiedene, bekannte klassische Melodien, die er mit ein bisschen Improvisation versetzte wie es ihm gerade einfiel. Auf den beiden Sofas rechts und links des Kamins saßen Jane, die kurzhaarige Frau, die mit ihnen nach London gefahren war, Motoki und ein weiterer Mann, den Kei bereits gesehen hatte aber noch nicht mit Namen kannte. Teils gebannt, teils gespannt sahen und hörten sie Colin still zu.
Colin selbst wirkte etwas surreal, wie er mit seinem Sex Pistols-T-shirt und den zerrissenen Jeans wie ein Skinhead hier in dieser hochherrschaftlichen Umgebung stand und auf einer antiken Violine spielte. Er schien sein Publikum nicht zu beachten und spielte nur vor Rupert. Allerdings sah er auch ihn nicht an, sondern nur die Geige und seine Finger, wenn er die Augen für eine Weile öffnete.
Kei legte sich halb hin, ließ die Beine über die Lehne des Sessels baumeln und schloss die Augen. Das war fast wie zuhause in Tokyo. Er hörte einfach nur zu, während er selbst sich eine neue Gitarre wünschte.
Colins Gesicht und Haltung strahlten die mal friedliche, mal übermütige Stimmung aus, die er augenblicklich mit der Musik ausdrückte. Das schien sich auf die Zuhörer zu übertragen, sodass selbst Delilah und die spröde Jane zwischendurch etwas benebelt grinsen mussten. Als er schließlich, nach langen melodiösen Minuten, endete, klatschten sie, Motoki und der Fremde, und Motoki ließ ein sachtes „Wuhu!“ ertönen.
Kei lag einfach da und gab keine Gefallensbekundungen zum Besten – musste er auch nicht. Colin wusste ohnehin, ob es ihm gefiel oder nicht. Wenn nicht, verschwand der Vampir in der Regel einfach wieder.
Colin grinste verlegen und kratzte sich den stoppeligen Skalp. Als er sich theatralisch verbeugte, bemerkte er Kei und zwinkerte ihm zu.
„Thank you. I needed that,“ sagte er zu Rupert.
„I think we all did. Keep it,“ sagte Rupert leise. Colins Blick wurde ernster und er schluckte, als er sich noch einmal die alte Violine ansah.
Kei, von dem jemand, der ihn nicht kannte, annehmen musste, dass er schlief, bemerkte lediglich, dass Colin ihn bemerkt hatte und hob die Hand zu einem müden Gruß. Ansonsten veränderte er seine Position nicht weiter. Jane und die beiden Männer standen gemächlich auf und verabschiedeten sich. Delilah stieß sich vom Schreibtisch ab und folgte ihnen.
'Wir gehen alle schlafen. Für die meisten von uns war es eine lange Nacht,' erklang die monotone Stimme in Keis Kopf, während sie hinter den anderen hinausging. Kei nahm das zur Kenntnis.
„Colin?“
Colin sah zu Kei, antwortete aber nicht. Er packte die Geige sorgfältig in ihren Kasten, der eindeutig neuerer Machart war als sie selbst. Rupert saß immer noch gelassen in seinem Sessel und sah ihm zu.
„Bist du immer noch sauer?“
Mit dem Geigenkasten im Arm, wie eine Puppe, sah Colin zu Kei, und dann vorsichtig zu Rupert. Der blickte gekonnt desinteressiert aus dem Fenster. Er verstand sowieso nicht, was sie sagten.
„Nein,“ antwortete Colin, während er an Ruperts Sessel vorbeiging. „Aber irgendwie schon. Weißt du überhaupt, warum?“ Er klang nur ein wenig schnippisch.
„Nein, außer – du bist nicht wirklich deshalb sauer, weil ich was unpassendes gesagt habe?“ Das konnte Kei sich kaum vorstellen, aber bei Colin war das durchaus denkbar. Dass er deshalb und nur deshalb so lange angepisst sein konnte...
Colins Augen weiteten sich überrascht, dann ging er weiter auf Kei zu. „Du weißt also immerhin, dass es 'unpassend' war. Herzlichen Glückwunsch. Das war nicht 'unpassend'. Es war ekelhaft.“ Colins Mund verzog sich etwas und er musste sich sichtlich zusammenreißen. Er ging auf die Tür zu.
Kei blieb, wo er war. „Meinetwegen auch das. Soll ich jetzt auf die Knie fallen und um Vergebung flehen?“
„Wär ein Anfang,“ gab Colin kühl zurück und versuchte, eindrucksvoll die Tür zu knallen, was aber ruhmlos misslang, da der Teppich dick und die Tür scheinbar irgendwie gepolstert war. Draußen schnaubte er bloß unzufrieden und marschierte zur großen Treppe. Er hätte Kei gern noch so einiges an den Kopf geworfen, bei dieser seltenen Gelegenheit, zu der der Vampirklotz mal von selber reden konnte, aber mit Rupert im Raum wäre ihm das zu melodramatisch und billig gewesen.


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