Saturday, July 23, 2016

Kei + Colin LXXX: Hirngespinst

| Ramin Djawadi - Light of the Seven (Game of Thrones) (Youtube) |

FREITAG
Ungefähr die zweite Nachthälfte verbrachte Colin damit, sich erst ausgiebig zu waschen und wieder anzuziehen, dann neben Kei zu sitzen und zu liegen und ihn stumm anzuschauen und dabei zwischendurch durch seine Haare und über seinen Rücken zu streichen. Als es der Uhr nach zu urteilen schon Morgen aber draußen noch nachtdunkel war, verließ er den Raum und trug seine neue alte Geige leise durch das stille Schloss, um einen Raum oder eine Nische zu finden, wo er spielen konnte, ohne ein Störenfried zu sein. Als sicherste Alternative fiel ihm die künstliche Höhle im Park ein, also machte er sich bald auf den Weg dorthin, gerade als der Himmel im Osten etwas blasser wurde. Kei schlief tief und friedlich wie tot.
Im Laufe des Morgens klopfte es an Keis Zimmertür. Kei gab darauf nur ein leises Grummeln von sich als Zeichen, dass er das Geräusch wahrgenommen hatte. Nach einigen Minuten wiederholte sich das Klopfen.
"Hello? Anybody alive in there?" erklang Ruperts Stimme aus dem Flur.
"Yeah... Come in..." gab Kei zurück. Inzwischen trug er Boxershorts, lag aber immernoch auf der Decke.
Zögerlich und mit einem vorsichtigen Rundumblick öffnete Rupert die Tür und betrat den Raum. Sein Blick blieb auf dem halbnackten Kei auf der misshandelten Bettdecke liegen.
"Good morning. Where's Colin? He isn't answering." Er zeigte mit einem Daumen in Richtung des gemeinsamen Badezimmers.
"Don't know exactly... Listen for his music, maybe he's taking a walk." Kei sah Rupert verschlafen an. Colin war nicht schwer zu finden, wenn Kei sich konzentrierte, konnte er ihn spielen hören.
"So you didn't kill him last night, that's a relief." Rupert nickte, scheinbar zufrieden mit der Antwort. "Tomorrow night there's going to be a gala - a ball of sorts, here in the castle. It's a local thing. You can attend if you like, but if not, then I'd appreciate it if you didn't wander around the castle for its duration."
Kei schmunzelte. "I wouldn't kill him... I couldn't do this again if he was dead... Would I scare your guests if I wandered around?" Kei war nicht der Typ für solche Feierlichkeiten - was am ehesten daran lag, dass er nie zugegen war, wenn sie stattfanden.
Rupert schmunzelte dreckig. Er schob die Hände lässig in die Hosentaschen.
"No, but you live here. So when there are guests around this is a public place, and it would be inappropriate. As I said, you can come down as a guest if you like, or stay up here in the... living quarters." Er sah kurz aus dem Fenster. "Or you could help Dennis. He and his people are providing additional security. Of the invisible kind." Hierbei wedelte Rupert geheimnisvoll mit einer Hand und wackelte konspirativ mit den Augenbrauen.
"So they are basically not to be seen. Sounds like a funny day. I'll find me a guitar if that's appropriate." Das wollte er eh schon eine Weile machen. Vielleicht war es ausnahmsweise mal kein Problem, wenn er in die nächste Stadt fuhr.
Rupert nickte. "I'll drive into town today anyway. I'll take you." Er sah auf seine Armbanduhr. "At two."
"Thanks. I'll be ready then. If you are still going to look for Colin, he's outside in the garden - this direction." Er deutete in die Richtung, aus der Colins Musik zu leise hören war. Rupert winkte nur friedlich ab, verabschiedete sich mit einem freundlichen Nicken und verließ den Raum. Kei stand bald darauf auf und ging duschen.

Die leicht verwilderte Wiese mit den Birken und Weiden, die die kleine künstliche Grotte umgaben, bot den perfekten Hintergrund für Colins Stimmung. Bis die Sonne vollständig aufgegangen war, improvisierte er irgendwas zusammen, das zu dieser Landschaft zu passen schien, und danach noch eine Weile. Er hätte noch den halben Tag da stehen können, wenn ihn nicht die Gedanken an Kei und an Essen zurücktrieben. Also ging er gemächlich zurück, diesmal zwischen den Beeten entlang.
Wie am Tag zuvor gab es Frühstück in diesem Salon. Der Tisch war nicht wieder so festlich gedeckt, aber dennoch ein Füllhorn an Appetitlichkeiten, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Nach ausgiebiger Dusche zog Kei sich an und trocknete seine Haare. Seine Stiefel waren von der langen Reise ziemlich malträtiert und seine Hose war zwar sauber, aber an den Knien völlig zerrissen. Kei störte das nicht. Das silberne Plektrum, das Colin ihm vor Jahren in Tokyo gegeben hatte und die Yenmünze nahm er eigentlich nie ab. Ein schwarzes Tanktop und seine - ebenfalls schon lange mitgereiste - Lederjacke vervollständigten sein Outfit - kurzum, er sah eigentlich aus wie immer.
Langsam schlenderte er nach unten, nicht des Frühstücks wegen, er wollte eigentlich nur rauchen. Er passierte die offene Tür, während Colin gerade auf dem reich gedeckten Tisch herumschaute und sich hinsetzte. In einer abgedeckten Schüssel hatte er rohes Fleisch und Innereien entdeckt. Diese nassglänzenden Batzen hatten ihn etwas schockiert, aber er war sich sicher, dass das nur daran liegen konnte, dass er nicht damit gerechnet hatte, auf diese Weise berücksichtigt zu werden. Oder dass hier überhaupt jemand so genau über seine Essgewohnheiten bescheid wusste.
Von der Schüssel, die er dreist auf den Teller vor sich gestellt hatte, blickte er zur Tür auf, als Kei vorbeispazierte. Kei blickte kurz durch die Tür, sah zu Colin und lächelte leicht. Mit der Zigarettenschachtel in seiner Hand machte er deutlich, dass er nach draußen wollte. Colin nickte ihm zu und krempelte sich die Ärmel hoch. Das hier würde eine blutige, schleimige Angelegenheit werden.
Kei ging weiter. nach draußen vor die Tür. Ganz zivilisiert. Er zündete sich eine Zigarette an und sah sich auf dem Grundstück um, soweit er es zusehen bekam.
Nach wenigen Minuten folgte Colin ihm. Als die große Tür zur Eingangshalle zufiel und er draußen die Treppe hinunterwanderte, war er noch damit beschäftigt, sich die blutigen Finger abzulecken. Sein Sweatshirt war sauber, doch seine Hände waren bis zu den Unterarmen und sein Mund über die Wangen bis zum Kinn voller Blutflecken. Kei stand ein wenig abseits der Treppe als er Colins Schritte hörte. Der Geruch von Blut war schon oben wahrnehmbar gewesen, bevor er sein Zimmer überhaupt verlassen hatte. Kei wandte seinen Blick Richtung Tür. Colin betrachtete seine Hände, während er auf ihn zuging und sich neben ihn stellte. Kei hielt ihm die Schachtel hin und begutachtete die Sauerei auf Colins Gesicht. Leicht amüsiert. Colin zog sich eine Zigarette heraus. Kaum dass er sie im Mund hatte, war sie auch schon rotbeschmiert. Kei grinste leicht und musterte Colins Gesicht weiter.
"Du kannst doch nicht das ganze Blut verschwenden und dir das Gesicht beschmieren," merkte er an.
"Das meiste habe ich getrunken." Mit erhobenen Händen deutete er an, dass er es direkt aus der Schüssel getrunken hatte. "Zünd ma an hier." Er winkte mit der Zigarette. Kei grinste weiter, während er Colins Zigarette anzündete. Dann fing er an zu lachen. Colin blinzelte schmunzelnd durch den Rauch, der ihm in die Augen kroch. "Du siehst so echt gut aus, weißt du?"
Kei schaute ihn fragend an. Nicht wissend, ob Colin das Lachen oder die merkwürdige Normalität dieses Morgens meinte. Dass Kei als dastehendes gutaussehendes Wesen gemeint sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn, da er nicht anders aussah als sonst.
Colin deutete vage auf ihn. "So... fröhlich."
Kei wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal so drauf gewesen war. Musste eine Weile her sein. Ihm fiel auf, dass er zum ersten Mal seit Langem nichts an einem Tag auszusetzen hatte. Das war gut. Lange würde das sowieso nicht anhalten.
"Ich geh mich wieder waschen," kündigte Colin an und hockte sich hin, um den Stummel an der Treppenstufe auszukratzen. Kei stimmte ihm bei dieser Idee zu kopfnickend zu. Er kniete sich relativ elegant neben seinen Freund und küsste ihn. Colins Überraschung und das darauffolgende Grinsen dauerten ungefähr anderthalb Sekunden, bis er den Kuss erwiderte. "Nicht zu nah," murmelte er.
"Warum?" Wirklich viel Gelegenheit zum Antworten ließ er dem Kleineren nicht.
"Hmblut..." Dessen Rausch setzte nun auch richtig ein. Oder es war Kei. Egal.
Kei grinste daraufhin nur. Das war der Grund Colin eben nicht nicht zu nahe zu kommen. Er biss dem Kleineren auf die Lippe, nicht allzu fest, aber so, dass es blutete. Mit einem kleinen Brummen beschwerte Colin sich und wedelte etwas mit den Armen. "Du misshandelst mich," murmelte er schmunzelnd.
"Niemals," kam von Kei zurück, dem man das Schmunzeln anhören konnte.
"Wenn du deinen Freund auffressen möchtest, kannst du das bitte drinnen tun? Ihr seht gerade sehr nach Gewaltverbrechen aus." Dennis war scheinbar aus dem Nichts neben ihnen vor der Tür erschienen. Er trug einen schwarzen Anzug, einen Mantel und eine Sonnenbrille. Kei präsentierte ihm seinen Mittelfinger. Er war nicht wirklich daran interessiert, Colin in Ruhe zu lassen. Ihn aufzufressen war allerdings auch keine ganz optimale Lösung. Irgendetwas dazwischen war gut. Trotzdem ließ er kurz von seinem Freund ab und musterte Dennis. Zuhälter, war das erste, das ihm einfiel.
Diese Gelegenheit nahm Colin wahr, um hastig aufzustehen. Verlegen und ohne ihn anzusehen, ging er auf Dennis zu, der gerade die Tür aufstieß und Keis Finger mit einem kleinen Kuss in die Luft beantwortete. Kei erhob sich ebenfalls und drückte den Rest seiner Zigarette aus, die nicht mehr als solche bezeichnet werden konnte.
Hinter Dennis, der etwa zehn Sekunden brauchte, um die Treppe zu erklimmen und von der Galerie zu verschwinden, schlüpfte Colin in die Eingangshalle. Er brauchte für seinen ähnlichen Weg etwas länger.
Kei ging, ein paar Minuten und noch eine Zigarette später, ebenfalls wieder hinein. Bis zwei Uhr hatte er noch einiges an Zeit.

Ganz leicht verlegen begab Colin sich still in sein Zimmer und von dort aus in das gemeinsame Badezimmer, wo er sich mit hochgekrempelten Ärmeln das Gesicht und die Hände mit einem Waschlappen gründlich sauberrubbelte. Seine Mütze lag derweil auf dem Bett herum.
Der Vampir ging auch langsam in sein Zimmer zurück. Das tat er jedoch nur, weil er Zeit totschlagen und ein neues Feuerzeug holen wollte – das alte war ziemlich leer, wie er festgestellt hatte. Danach ging er wieder nach draußen. Er setzte sich auf das Vordach des Haupteingangs und beobachtete die Leute, die kamen und gingen, wenn sie das denn taten. Derer gab es wenige. Um genau zu sein, nur zwei. Die erste Person war Jane, die einmal die Stufen hinaufjoggte und schon nach sehr kurzem Aufenthalt in der Eingangshalle wieder hinunterging, nur etwas langsamer. Sie bog zügig zu dem Gebäudeteil ab, in dem sich die Garagen und der Seiteneingang befanden.
Die zweite Person war Colin. Er trug nun zu seiner Mütze noch eine Jacke. Nachdem er zuerst oben auf der Treppe angehalten hatte um sich umzusehen, tat er nun noch das gleiche auf dem Platz vor ihr. Er schien nach etwas Ausschau zu halten. Und schien es nicht zu finden. Mit den Händen in den Jackentaschen wandte er sich wie Jane nach links und ging gemächlich los. Er schien es eilig zu haben, sich aber zu etwas ruhigerem Schritt zu zwingen.
„Wohin des Weges?“ rief Kei vom Dach seinem Freund hinterher. Der hielt plötzlich an und blickte sich ruckartig um, bis er Kei auf dem Vordach erspähte. Anstatt verbal zu antworten, zog er nur mit einem Lächeln eine Hand aus der Jackentasche und zeigte mit einem Finger auf Kei.
„Dann komm hier hoch,“ entgegnete Kei grinsend und beugte sich vornüber, Richtung Colin. Der legte nur mit trockenem Blick den Kopf etwas schief und zog eine Augenbraue hoch.
„Klar, ich nehm nur schnell noch Flugstunden,“ sagte er in moderater Redelautstärke, zuversichtlich dass der Vampir ihn gut genug hören konnte. Noch immer grinsend sprang Kei, sich mit einem Handstand vom Vordach rollend, hinunter und landete vor Colins Füßen.
„Die brauchst du nicht für die drei Meter.“
„Meinst du, das kann ich springen?“ fragte Colin mit zweifelndem Blick nach oben. „Leichtathletik ist nicht so mein Ding. Oder überhaupt Athletik.“ Er war innerhalb der letzten Wochen durch seine Flucht- und Grubenkampfsituation etwas wehrhafter, etwas stärker und beweglicher geworden, aber Fassadenklettern und Hochsprünge von mehreren Metern waren natürlich ausgesprochene Fantasterei.
„Springen nicht, okay, aber du kommst da hoch. Die Wand ist alt und bietet viele Haltemöglichkeiten.“ Für Kei war das einfach, er hatte keine Probleme mit Klettern, Springen, oder dem Erreichen von Festhaltemöglichkeiten. Die Wand wenige Meter hochzulaufen ginge auch noch. Nur Fliegen konnte er nicht.
Colin trat neben der Treppe an die Wand heran und blickte an ihr hoch. Kei folgte ihm dahin und blieb etwa einen Meter entfernt stehen. Colin hatte durchaus Lust, einen ernsthaften Kletterversuch zu starten. Die Fassade war alt und hatte viele kleine Vorsprünge und Haltemöglichkeiten in Form von Fensterbänken, Abflussrohren, verschiedene Nischen und Kanten im alten Mauerwerk und sogar Efeu. Doch sie waren hier Gäste, wenn er das richtig verstanden hatte, und wurden von Rupert aus reinem guten Willen ausgehalten. Er bot ihnen nicht nur diese Zuflucht, sondern fütterte sie auch durch und kleidete sie ein. Es wäre sehr respektlos, an seinem Haus herumzuklettern, besonders, wenn man es noch gar nicht konnte. Nach etwa einer Minute der Nachdenklichkeit sah Colin ihn mit neutralem Blick an.
„Du siehst aus, als wäre dir gerade ein sinnvoller Grund eingefallen, nicht an diesem Haus hochzuklettern,“ merkte Kei an, nachdem er Colins nicht viel sagendes Gesicht studiert hatte und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Es gibt hier sicher noch andere Möglichkeiten, wo du üben kannst.“
„Viele Bäume.“ Colin zuckte mit den Schultern. „Du kennst dich doch hier aus, oder? Was hat es mit dieser Höhle auf sich? Ist das ein Schrein oder sowas?“
„Weiß ich nicht, ich bin vielleicht einmal dort gewesen.“
„Sie ist interessant.“ Er hätte beinahe ‚schön‘ gesagt, wollte aber nicht sentimental wirken.
„Ich weiß nur, dass niemand oft dort hingeht. Du bist der Einzige, der sich öfters dahin verirrt.“
Colin legte den Kopf etwas schief. Er war zweimal bei der künstlichen Grotte gewesen, und nie war Kei dabeigewesen. Er hatte sie auch nie erwähnt. „Stalkst du mich wieder?“
„Nein, warum?“ Kei wunderte sich, wie Colin auf diese Idee kam. Er wusste einfach, dass sein Freund schon mehr als einmal dort gewesen war.
„Verarschst du mich jetzt? Woher weißt du, dass ich ‚öfter‘ da war?“ Colin sah skeptisch aus, aber ruhig.
Gute Frage. Kei dachte nach. Tatsächlich hatte ihm niemand erzählt, dass Colin dortgewesen war. Er war ihm auch nicht nachgelaufen oder zufällig dort vorbeigekommen.
„Keine Ahnung.“
Colins sardonischer Blick machte deutlich, dass er Kei nicht glaubte. Er wandte sich um und ging los.
„Wohin gehst du?“ erkundigte sich Kei ruhig. Er wusste es wirklich nicht. Wenn Colin ihm nicht glaubte, war das nicht sein Problem, auch wenn das, was er erzählte nicht wirklich glaubwürdig war. Das wusste er ja selbst, aber eine Beweispflicht hatte er nicht.
„Stalker!“ rief Colin in die Luft vor sich und marschierte weiter auf die Wiese zu, die die Blumenbeete säumte, hinter denen zwischen Gesträuch und Nadelbäumen die Birken und Weiden um die kleine Höhle herumstanden. Kei seufzte. Jetzt zu schreien: ‚Nein!‘ hätte keinen Zweck, also ließ er es, ging dem Kleineren aber nach.
Gemächlich, und Keis Anwesenheit bewusst, wanderte Colin zwischen den Beeten hindurch. Er fragte sich, ob er zu ihm aufholen oder ihn einfach nur verfolgen würde. Kei ging einen Schritt schneller, sodass er nach einer Weile zu ihm aufgeholt hatte. Wohl wissend, dass Colin ihn sowieso bemerkt hatte. Allerdings wollte er auch gar nicht unbemerkt sein. Stumm gingen sie langsam durch die wuchernden Pflanzen. Colin sah nachdenklich aus. Kei betrachtete ihn von der Seite.
Trotz des aufgeschlagenen Kragens und der Strickmütze, die Colin tief in der Stirn und über den Ohren saß, konnte man sehen, dass seine Haare immer noch kurze Stoppeln waren. Er behielt die Hände in den Jackentaschen und sah hauptsächlich vor seine Füße. Nur, wenn er nachschauen wollte, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg befanden, schien er aus seinen Gedanken aufzuwachen und blickte kurz auf. Kei ging stumm neben ihm her und achtete nicht groß darauf, wo sie überhaupt hingingen. Nach nicht mehr als einer Viertelstunde traten sie zwischen die ersten Birken.
„Hier sind Blumen und Grabkerzen,“ sagte Colin leise. Wahrscheinlich wusste Kei das längst.
„Ob hier jemand beerdigt wurde?“ Kei kannte sich auf dem Gelände gut aus, sprach aber eigentlich nie über das, was er zu sehen bekam. Das Grab – wenn es denn eins war – kannte er tatsächlich schon, wem es gedacht war, wusste er nicht. Er war nicht besonders scharf darauf, in den Angelegenheiten von Toten herumzuwühlen, die Lebenden interessierten ihn mehr.
„Ich habe keine Gräber gesehen,“ sagte Colin. Die vertrockneten Blumen und die Lichter lagen, standen und hingen allesamt im Inneren der Grotte mit den als natürliche Felsform getarnten Reliefs. Er setzte sich auf die leere Steinbank in der Mitte. Neben dem Eingang stand ein Wasserschälchen, in dem ein paar frische weiße Blüten lagen.
„Irgendwer kümmert sich jedenfalls um diesen Ort, warum auch immer,“ sagte Kei, während er sich genauer umsah. Das war ein schöner Platz, kein Wunder, dass Colin ihn mochte. Der drehte sich gerade so auf der Bank herum, dass er sich bequem auf ihr auf den Rücken legen konnte. Die Hände faltete er auf dem Bauch und seine Füße standen auf beiden Seiten auf dem Boden. Kei trat an ihn heran und musterte ihn, ehe er sich auf das Stück Bank setzte, das Colins Beine zum Sitzen freigaben. Colins Blick schweifte von der Decke auf Keis Gesicht. Er lächelte ein bisschen. Auf Keis Gesicht war der Anflug eines Ausdrucks, der mal ein Lächeln werden wollte, zu sehen, wenn man genau hinsah. Kei saß etwas schräg auf der Bank um einigermaßen vernünftig sitzen zu können, weshalb Colin nur ein halbes Gesicht zu sehen bekam.
„Wohnen wir jetzt hier?“ fragte Colin nach einer Weile und ohrfeigte sich innerlich dafür, dass er eigentlich etwas ganz anderes hätte sagen sollen. Wollen. Oder vielleicht auch besser nicht. Er wollte nicht sentimental wirken. Er begnügte sich damit, Kei weiter zu mustern und seine Gedanken und Gefühle dabei hinter einer Maske aus neutralem Interesse und freundlicher Aufmerksamkeit zu verstecken.
„Dann müssen wir zum Duschen aber immer rein gehen,“ erwiderte Kei leise lachend. Sein Blick wanderte von Colin durch die ganze Grotte, soweit er sie einsehen konnte. Colin grinste.
„Ich meine das Schloss, du Genie.“
„Ach so. Ich denke schon. Ich finde zwar, es hat mehr von Hotel als von Zuhause, aber vielleicht ändert sich das ja noch.“ Kei kannte nur ein richtiges Zuhause, aber das hatte er ewig nicht gesehen und es existierte auch nicht mehr.
Du willst also mitmachen? Mit Dennis gegen die Instanz kämpfen?“ Colin stützte sich auf die Ellbogen, um Kei genauer anzusehen. Ich will darüber gar nicht reden. Vielleicht ist das hier das beste, das uns passieren konnte. Doch Colin wollte immer noch weglaufen und mit Kei irgendwo seine Ruhe haben. Wie in Brasilien. Die Highlands waren sehr einsam, und Kei wollte sowieso mal nach Schottland... Colin runzelte die Stirn und zwang den Gedanken weg. Zumindest versuchte er es halbherzig, malte sich aber immer noch aus, wie sie abgeschieden in einer Hütte auf einem grünen Hügel lebten, Schafe hüteten und am Abend auf einer Bank im Garten Pfeife rauchten und Whisky tranken. Wenn sie beide nun wirklich unsterblich waren, konnten sie so die Instanz überleben und vielleicht schon in ein paar Jahrzehnten als Fremde in die Zivilisation zurückkehren. Dann würden sie beide mit Musik ihr Geld verdienen, vielleicht mal wieder Freunde haben und Kei könnte endlich Rockstar werden.
Colin blinzelte und fokussierte Kei wieder. Er hoffte, dass er seine Antwort nicht vor lauter Träumen überhört hatte.
„Ich will nicht ständig wegrennen müssen und irgendwelchen Irren begegnen, die versuchen uns umzubringen. Und auf Einsiedlerdasein hab ich auch keine Lust.“ Kei sah an die Wand.
Colin musterte ihn stirnrunzelnd. Er hatte doch nichts laut ausgesprochen? Du Wichser kannst hypnotisieren und Gedanken lesen? versuchte er Kei auf einen idiotischen Impuls hin telepathisch mitzuteilen.
Kei, der immer noch Richtung Wand sah, spürte Colins Blick auf sich. Was auch immer der Kleinere jetzt für ein Problem hatte, Kei hatte keine Ahnung. „Was ist?“ fragte er ruhig.
„Was soll ich machen? Bloß hier versteckt bleiben? Mich wollen sie nicht dabeihaben.“
„Haben sie dir das gesagt?“ Kei würde nicht alleine dort bleiben und Colin allein gehen lassen. Ihm hatte das in Südamerika gereicht.
„Ja. Sie verstecken uns beide, aber mithelfen sollst nur du. Als ich Dennis gefragt habe, was ich tun kann, hat er nur gesagt, dass Rupert meine Gesellschaft sehr freuen würde und ich ja einfach ganz viel Geige spielen könnte.“ Colin richtete sich auf, bis er rittlings auf der Bank saß.
Sie glauben, dass du ihnen entweder nicht nützlich bist, oder sie haben einen Beschützerinstinkt entwickelt und wollen nicht, dass dir was passiert.“ Das will ich auch nicht. „Wenn du helfen willst, dann musst du mit ihnen reden... Ich werde dich nicht davon abhalten.“ Kei lehnte sich zurück, sodass er mit dem Kopf auf Colins Schoß lag.
„Das habe ich doch versucht. Ich glaube, dass sie mir nicht vertrauen wollen, nachdem... danach. Nach dem...“ Er winkte und wackelte etwas mit der Hand, an der er in seinen Kämpfen die Eisenklauen getragen hatte, dann ließ er sie sinken und streichelte Kei damit sachte durch die Haare. „Und weil ich mich im Schlaf selbst umbringen will... Ich bin nicht vertrauenswürdig. Das ist wahrscheinlich das Problem. Um ehrlich zu sein, habe ich auch gar keine Lust, an einem Krieg teilzunehmen. Aber wenn dus machst, lasse ich dich nicht allein.“
Für Kei war Colin die einzige vertrauenswürdige Person, die er kannte – und er kannte sehr viele Personen. Da war das suizidale Schlafwandeln egal. „Ich will keinen Krieg. Ich will ein Leben, aber das kriege ich nur, wenn die Wichser tot sind, denn vorher lassen sie uns nicht in Ruhe.“ Colins Zeigefinger strich über seine Lippen. Kei lächelte leicht.
Wer weiß, wie lange das dauern wird... Das überleben wir wahrscheinlich nicht, weißt du? Wir können zwar nicht mehr konventionell sterben, aber ich glaube nicht, dass wir unzerstörbar sind.“ Mit den Fingerspitzen zeichnete Colin langsam und sachte Keis Augenbrauen und die Konturen seiner Wangenknochen nach.
„Ich pass auf, dass du nicht draufgehst.“ Aufpassen, dass ihm nichts passierte konnte er zwar versuchen, aber das funktionierte ja nicht immer. Dass Colin starb, würde er schon verhindern – wenn sein Freund sich nicht in seiner Abwesenheit selbst äußerst effektiv umbrachte. „Wir können aber auch nicht weglaufen, nicht ewig. Die finden uns doch überall.“
Colin blickte bedauernd zur Seite und auf den Boden. Er wollte das nicht ganz glauben. In Südamerika waren sie der Instanz scheinbar über ein Jahr lang aus dem Weg gegangen, ohne überhaupt von ihr zu wissen. Vielleicht waren sie auch mit Absicht in Ruhe gelassen worden, aber das kam ihm unwahrscheinlich vor. Kei wollte abrechnen und Colin konnte ihm das nicht verübeln. Er hielt seine Knie und starrte nachdenklich auf die Wand, wo ein Ritter und eine in ein flatterndes Laken gehüllte Frau gegen einen verschnörkelten Lindwurm kämpften.
Kei sah an die Decke, die sich auch als verziert entpuppte. Wer auch immer diese Höhle geschaffen hatte, hatte sich sehr viel Mühe gegeben.
„Wenn wir sie soweit haben, dass sie uns nicht mehr nachrennen und uns suchen, gehen wir irgendwohin, wo wir Ruhe haben. Die Welt anzusehen macht keinen Spaß mit einem Gewehr im Rücken,“ sagte er leise. Lange an einem Ort bleiben konnte und wollte Kei nicht. Dafür war die Welt zu groß.
Colin schwieg noch ein paar Minuten.
Glaubst du nicht, dass wir vielleicht nicht... echt sind?“ fragte er schließlich leise. „Also... wir beide. Dass das, was wir haben, künstlich ist?“ Er starrte immer noch die Frau und den Lindwurm an.
„Wenn dem so wäre, würde ich dich nicht ständig vom unfreiwilligen Selbstmord abhalten... Der scheint dir ja irgendwie programmiert zu sein... Weißt du, wie spät es ist?“
„Keine Ahnung – was, wenn du das nur tust, weil du dazu programmiert wurdest, auf mich aufzupassen? Vielleicht muss bei denen nur einer mit den Fingern schnipsen oder ein Wort sagen und du vergisst das hier sofort alles? Was wenn -“
„Das wissen wir, wenn‘s soweit ist. Ich kann nicht hellsehen und ich hab keine Ahnung, was die mit mit uns gemacht haben – ich will einiges auch gar nicht wissen.“
„Aber wenn – wenn wir nur so eine Spielerei sind und alles was wir tun so vorgesehen war, dann ist das alles hier nur so eine Art Simulation und ich liebe dich gar nicht wirklich, und du liebst mich nicht -“
„Fresse, Colin! Du denkst zuviel.“
„Und du zuwenig!“ Colin rutschte auf der Bank zurück, sodass Keis Kopf von seinem Schoß herunterrutschte. Kei setzte sich auf.
„Was bringt es dir, all das wissen zu wollen, als schlechte Laune? Ich hab keine Antworten, niemand hier hat Antworten. Die kriegen wir nur, wenn die Instanz tot ist, also hör auf, dich jetzt damit verrückt zu machen.“
„Ich bin schon verrückt! Das alles hier ist wahrscheinlich nur Einbildung und ich bin in Wirklichkeit immer noch in der Grube -“ Colins weit aufgerissene Augen waren nun nass und sein Blick flackerte gehetzt durch die Höhle. „Ich habe jedesmal geglaubt, ich hätte das schwarze Loch nur geträumt und der Traum wäre Wirklichkeit -“ Kei drehte sich um und nahm Colin in den Arm.
„Du bist vielleicht verrückt, aber das hier ist die Realität.“ Er war kurz davor, seinem Freund eine zu scheuern, damit er wach wurde. Colin vergrub sein Gesicht in Keis Halsbeuge.
„Ich weiß! Solange, bis ein kleines Detail... nicht stimmt... und ich wieder aufwache. Wenn ich hier einschlafe, wache ich da auf, wenn ich da die Augen zumache, wache ich hier auf,“ murmelte er in Keis Kragen. Kei erwiderte nichts darauf. Sie wussten beide, dass Colin beschissen schlief und Alpträume hatte, das mussten sie nicht breittreten. „Eins davon ist real. Jetzt das hier, und du. Und heute nacht die Zelle. Was passiert, wenn ihr die Instanz nicht besiegt? Dann versaut ihr mir noch das hier und ich habe gar nichts mehr.“ Er umklammerte Kei fest und krallte seine Finger auf dem Rücken in dessen Jacke. „Dann ist diese Einbildung vielleicht für immer weg,“ flüsterte er eindringlich.
„Das ist keine Einbildung, aber es wird nicht lange dauern, wenn die Instanz uns nicht in Ruhe lässt,“ sagte Kei ruhig. „Ich will das nicht kaputtmachen, aber es soll länger sein als ein paar Tage.“ Ein paar Tage waren für Kei nicht lang. Sie waren für ihn wie längere Stunden und er hätte sehr gern länger Ruhe vor der Instanz als einen gefühlten Tag.
Colin wich etwas zurück, um Kei anzusehen. „Das hier ist Einbildung,“ erklärte er ihm mit nassen Augen. Dabei wirkte er so ruhig, dass er es nur ernst meinen konnte. Nun lächelte er traurig. „Bald wache ich wieder auf.“
„Nein. Es ist real, aber du wirst bald einschlafen und Alpträume haben.“ Kei sprach ebenfalls ruhig. Colins Zustand war bedenklich, aber ändern konnte er ihn auch nicht. Das musste Colin zu einem sehr großen Teil selbst machen – wenn er konnte. Kei konnte nur da sein und Colin erzählen, was echt war und was nicht. Glauben musste der Kleinere es selbst.
Das schien just in diesem Moment nicht der Fall zu sein, denn er lächelte Kei nur etwas mitleidig an, als er sagte: „Wir wohnen in einem Schloss, komm schon. Wie realistisch ist das? Rupert beschenkt mich mit Antiquitäten und Maßanzügen. Da drüben neben dem Eingang steht ein Foto von meiner Mutter auf dem Boden. Und du bist heute viel zu fürsorglich und gut gelaunt. Das kann nicht die Realität sein.“ Colin sah ihn an, als wolle er seine Reaktion beobachten.
„Ich kann auch gerne mies gelaunt sein, wenn dir das besser gefällt,“ entgegnete Kei. Das Schloss und die Geschenke ließ er unkommentiert. Reiche Leute gehörten in die Realität. Zugegeben, das alles war merkwürdig. Es wunderte ihn, dass ihm ausgerechnet seine bis vor Kurzem noch völlig unbekannten Halbgeschwister über den Weg liefen und ihm erklärt hatten, sie kämpften gegen die Typen, die für alles verantwortlich sind. Das war alles merkwürdig und eher Stoff für Filme, aber es war real. Kei wunderte nichts mehr. Er würde auch an die Existenz von Jedi oder Elfen glauben, wenn man ihm das beweisen konnte. Ein Mann, der zwei umherstreunende Jungs bei sich aufnahm, damit sie nicht getötet wurden, war wirklich nicht unnormal.
„Rupert mag dich einfach und er hat viel Geld, ich glaube, er kann es sich leisten, nett zu dir zu sein ohne böse Hintergedanken.“
„Ich unterstelle ihm keine Hintergedanken.“ Colin ließ Kei los. „Ich unterstelle ihm, ein Hirngespinst zu sein. Und dir auch.“ Er legte sich zurück und faltete wieder die Hände auf der Brust. Mit den Knien wackelte er ein bisschen, sodass sie ein paarmal gegen die Sitzflächenkante der Bank stießen. „Das ist aber okay. Ich schätze, es kann mir auch egal sein, ob du echt bist. Ich kann sowieso nichts ändern. Der echte Kei ist vielleicht längst tot oder froh dass ich nicht mehr da bin.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und wenn nicht, dann kommt er schon über mich hinweg, schätze ich. Und ich habe dich, also komme ich wohl klar.“ Colin klang sanft und betont gleichgültig.
Und er brauchte einen Psychologen. Kei wollte nicht, dass Colin glaubte, die Realität, die ausnahmsweise mal nicht aus äußerster Lebensgefahr bestand, sei unecht, weil sie eben nicht furchtbar gruselig und tödlich war. Die Vorstellung, ein Hirngespinst zu sein behagte ihm nicht – vor allem, weil er wusste, dass er keins war.
Kei stand auf. Er wollte immer noch wissen, wie spät es war und mit Rupert in den Ort fahren um eine Gitarre zu kaufen. Ablenkung würde ihm sehr gut tun. Ein Anflug von Normalität vielleicht auch. Kei machte sich Sorgen um Colin, aber bei dem, was der durchgemacht hatte, würde es noch eine ganze Weile dauern bis er wieder normal denken konnte.
„Ich muss los.“
„Cheerio,“ ließ Colin mit einem lässigen Winken verlauten und betrachtete weiter die graue Decke.


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