Saturday, July 23, 2016

Kei + Colin LXXXI: Risse und Schnitte


Kei verließ die kleine Grotte und ging wieder in Richtung Eingang. Auf dem Weg zündete er sich eine Zigarette an. Als er den Hof mit dem Springbrunnen erreichte, hatte er noch über eine Stunde Zeit, bis er sich mit Rupert treffen sollte. Sein silberner Audi stand allerdings bereits herrenlos neben dem Brunnen herum. Da Kei nicht wusste wie spät es war, ging er hoch in sein Zimmer um auf die Uhr zu sehen, die dort an der Wand hing. Es war kurz nach ein Uhr. Kei setzte sich auf sein Bett und sah aus dem Fenster in den Garten. Er war sich sicher, dass Colin noch in der Höhle saß.

Damit hatte er Recht.
Colin hatte sich das eingerahmte Foto seiner Mutter genommen und sich wieder auf die Bank gelegt. Er starrte es lange an, abwechselnd mit der Höhlenwand, und döste irgendwann ein, während es auf seiner Brust herumlag.

Nach einer ganzen Weile ging Kei wieder hinunter. Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet ihm dabei, dass es fast zwei Uhr war. Wartend betrachtete er das unauffällige europäische Auto vor der Tür.
Bald trat Rupert aus dem Nebeneingang bei den Garagen und kam gelassen auf ihn und den Audi zuspaziert. Ihm konnte man, wie auch Colin, den jahreszeitbedingten Temperaturabfall an seiner Kleidung ansehen - seinem kurzen Mantel, dem Schal und der Schiebermütze. Im Unterschied zu Colin trug er die warmen Kleider allerdings nicht aus Gewohnheit und um nicht aufzufallen, sondern aus Notwendigkeit. Als er näherkam, piepte der silberne Wagen und seine Scheinwerfer leuchteten kurz auf.
"A guitar, was it? Anything else on your agenda today?" fragte Rupert freundlich, während er zur Fahrerseite ging. Kei schlenderte zur Beifahrertür.
"No, nothing else," entgegnete der Vampir ebenfalls freundlich. Neue Zigaretten waren kein wirkliches Vorhaben. Er öffnete die Tür und stieg ein. Kei war nicht wetterfest angezogen. Seine Lederjacke war wasserdicht, aber nicht wärmend. Da er nicht fror war ihm das allerdings herzlich egal.
"Isn't Colin coming with us?" fragte Rupert, während er das Auto startete.
"He's sitting in the cave," entgegnete Kei. Ihm schien das als Antwort ausreichend. Rupert hielt inne. Ihm schien kurz der Atem zu stocken. Doch dann sah er sich um und fuhr los.
"Is he alright?"
"I don't think so. He often thinks reality is a dream and his nightmares are real."
Einige Minuten lang blickte Rupert nur ernst drein. Erst, als sie schon eine Weile in der Stadt waren, sprach er wieder. Er hielt am Straßenrand an. Es war der Haltebereich für Busse. Aus einer Innentasche zog er seine Brieftasche. "That street on the left there. There's a music shop." Zwischen zwei Fingern hielt er Kei eine Kreditkarte hin, während er sich die Brieftasche schon wieder einsteckte. Kei nahm die Kreditkarte mit einer leichten Verbeugung und leisem Danke an sich und steckte sie in seine Jackentasche. "We'll meet at the train station at six o'clock," sagte Rupert mit einem Blick auf seine Armbanduhr. "I'm afraid it can't be sooner."
"That's okay." Das waren zwar einige Stunden, aber das war nicht weiter schlimm. Kei konnte sich die Stadt ansehen und den Bahnhof finden, den Colin am vorigen Tag erwähnt hatte.
"The station is almost at the end of this street, it looks a bit like a church, you can't miss it," erklärte Rupert mit einem Vorwärtsnicken. Kei schaute in die gezeigte Richtung.
"Alright. You have something to do here?"
"Yes." Nun lächelte Rupert freundlich. "Now get out before I get a ticket."
Kei stieg aus dem Wagen und machte sich nach einem knappen "See ya later" auf den Weg in Richtung des Musikgeschäfts. Rupert verlor keine Zeit und fuhr wieder auf die Straße zurück, gerade als sich ein Bus näherte.
Kei folgte der Straße und sah sich dabei genau um, um sich nachher nicht unnötig zu verlaufen. Das Geschäft hatte er ziemlich schnell gefunden. Nach Tokyoter Standards war es nichts Großes, aber es hatte drei Stockwerke und war gut sortiert. Zwischen den Regalen, Aufstellern und Drahtgestellen an den Wänden standen viele verschlossene Vitrinen mit den wertvolleren Waren. Was Gitarren, Verstärker und Mikrofone anging - also das wofür sich die meisten jungen Kunden am ehesten interessieren mochten - gab es im Erdgeschoss nicht viel Auswahl, nur ausgesuchte Ausstellungsstücke als Appetitanreger. Doch ein schmales Schild am Fuß einer breiten, offenen Treppe gab preis, dass sich die entsprechende Abteilung im ersten Obergeschoss befinden solle. Kei sah sich lange um, bevor er sich für eine ganz schwarze ESP- Gitarre und einen kleinen Verstärker entschied, der bequem in eine Tasche passte. Mit seinem teuren Einkauf sah er sich eine Weile die Stadt an, bevor er sich langsam auf den Weg zum Bahnhof machte.
Zwischen anderen Autos stand der silberne Audi auf dem gut gefüllten Pendlerparkplatz vor dem uralten Bahnhofsgebäude. Rupert lehnte vor ihm an einer niedrigen Backsteinmauer und schien Zeitung zu lesen. Als Kei näherkam, blickte er auf und entriegelte das Auto. Er sah ernst aus.
"Put your things into the boot. We have something to take care of before we go back," sagte er. Kei packte sein Zeug in den Kofferraum.
"And what is that?"
"We need to find Colin. Apparently he's nowhere in the castle or on the premises. And we know he can't have been kidnapped again. So he must have run away." Er warf die Zeitung auf den Beifahrersitz und verschloss das Auto wieder. Kei stutzte.
"Did he leave something like a message?"
"No. So..." Rupert kam um das Auto herum zu Kei und sah ihn eindringlich an, wie ein zorniger Mordermittler unter Zeitdruck. "Did he say anything to you?"
"Yes. He mentioned something about leaving."
"Did he mention where he'd go, or what he would do?"
"He said something about Scotland."
Rupert hielt inne und sah Kei für eine Sekunde starr an, dann schnappte sein Blick auf das Bahnhofsgebäude. "You better pray he hasn't," murmelte er und zog rasch sein Telefon aus der Jackentasche.
"You think he's there? I'll have a look."
Rupert nickte nur und wartete, dass sein Anrufsziel abnehmen würde. Kei stieß sich vom Auto ab und joggte auf den nächsten Eingang des Bahnhofs zu. Er sah sich im ganzen Bahnhof um - sein erster Weg führte ihn auf die Gleise. Mit den zivilen Wegen hielt er sich dabei nicht auf, stattdessen sah er sich in Parkoursmanier auch überall dort um, wo Passanten üblicherweise nicht hingelangten. Von Colin fand er allerdings keine Spur.
Nach kaum zehn Minuten klingelte sein Telefon. Er zog es aus der Jackentasche und nahm ab. "Ja?"
"He's in Lancaster, somewhere just off the main campus area. Get back to Rupert, he'll drive you there. We're on our way, too. Remember, he can't be recognised by anyone!" Dennis legte auf, bevor Kei irgendetwas antworten konnte. Eilig lief er auf den Parkplatz zurück.
"Lancaster, campus area. Dennis is on the way, too."
"I know, hurry." Rupert war bereits beinahe vom Parkplatz heruntergefahren. Noch während Kei hineinsprang, fuhr er los.
Innerhalb von Minuten waren sie in der Nähe der Universität und Rupert hielt wieder bei einem Parkverbotsschild an. "You start looking on foot and I'll search the streets. There's a pub over there, seems as good a place as any to start." Er nickte auf eine Straßenecke, wo im Abenddunkel etwa ein dutzend junger Menschen herumstanden, die rauchten und teilweise lautstark herumalberten. Aus der Tür hinter ihnen drang laute Musik, wenn sie zwischendurch geöffnet wurde. Kei machte sich ohne weitere Worte auf den Weg dahin und zog sich beim Laufen die Kapuze ins Gesicht. Im Pub sah er sich ruhig um.
Es war kneipengerecht dunkel und laut. Die Gäste schienen allesamt Studenten oder zumindest Leute im passenden Alter zu sein. Es war auch ziemlich voll, aber nicht so sehr, dass man es nicht vermeiden konnte, jemanden anzurempeln. Der Alkohol floss in Strömen und die lauten Gespräche vermischten sich mit der dröhnenden Musik, die munter zwischen Rockklassikern, obskuren neueren Bands und aktuellem Pop wechselte. Hinter dem Schankraum, der voller durch Trennwände abgeteilter Sitzgruppen und Stehtische war, gab es noch einen Raum von ähnlicher Größe. Er hatte keine Bar und nur entlang der Wände einige abgewetzte Sessel und Sofas mit niedrigen Tischen. Hier war es noch etwas voller als im vorderen Teil. Beim Durchgang und entlang der Wände standen und saßen die Gäste nur, doch zur Raummitte hin wurde die Menge bewegter. Wer mutig, albern oder betrunken genug war, tanzte dort.
Colin auch.
Kei fand ihn ziemlich schnell und näherte sich ihm von hinten. „Wenn du einfach so verschwindest, mach ich mir Sorgen,“ teilte er ihm ins Ohr flüsternd mit. Colin hielt kurz inne, schien aber sonst nicht zu reagieren. Er hielt nur seine Mütze mit einer Hand fest, als er sich auf die Knie fallen ließ, während aus den Lautsprechern Ville Valo „The world was on fire and no one could save me but you“ sang und er dazu die Lippen bewegte. Kei ließ sich mit auf den Boden fallen. Colin hielt die Hände vor das Gesicht und beugte sich vor. Kei hockte hinter ihm und beobachtete ihn, während er sich nur leicht nach vorn beugte. Colin schien sehr betrunken, etwas verheult und geistig ziemlich abwesend zu sein. Kei entschied, dass es nicht viel bringen würde, mit ihm zu reden. Nicht zwischen all den Menschen und mit dem ganzen Alkohol im Blut. Er hob ihn beim Aufstehen hoch. Aber nicht ohne Widerstand. Während er ihn hochzog, versuchte Colin, sich aus seinen Händen zu winden und sich zu ihm umzudrehen. Das Umdrehen ließ Kei zu. Allerdings ließ er ihn nicht ganz los. Mit geröteten Augen und Lippen und insgesamt nassem Gesicht musterte Colin ihn erst verwundert, dann lächelte er plötzlich und fing an zu lachen.
„Was ist so lustig?“
Colin tippte ihm auf die Brust. „Du.“ Er strahlte ihn fröhlich an und warf die Arme auseinander. „Du enttäuschst mich nie! Ich möchte nicht mehr aufwachen,“ fügte er leiser hinzu, indem er sich dicht an Kei drückte.
„Du bist wach, nur betrunken,“ erzählte Kei ihm.
„Ja... natürlich bin ich wach. Und seeeeehr betrunken. Und ich bin heeeellwach...“ Er schaffte es, gleichzeitig zu schmunzeln und zu schluchzen und riss an Keis Gürtelschnalle herum, als wollte er sie öffnen.
„Versuch das, wenn du motorisch dazu in der Lage bist.“ Kei lachte ihn nicht aus, schmunzelte aber. Er nahm Colin mit nach draußen, schließlich wollte er wissen, was der Kleinere hier machte. Unterwegs wurde er von ihm ausgiebig befummelt.
„Meine Jacke ist noch drin,“ sagte Colin draußen mit dem Gesicht irgendwo an Keis Hals.
„Die holen wir später.“ Kei befand, dass Colin seine Jacke jetzt nicht brauchte und sie wohl in den nächsten Minuten nicht wegkommen dürfte. Er schlug den Weg ums Gebäude ein, wo sie nicht gesehen werden würden. Sein Vorhaben, ihn zum Weglaufen zu befragen, verschob er lieber. Als sie um ein paar Müllcontainer herumgegangen waren, blickte Colin seinerseits kurz um sich, bevor er Kei mit einem wissenden Schmunzeln bedachte.
„Du willst kein Publikum haben. Was für ein Gentleman. Mir hätte das aber nichts ausgemacht. Sie hätten überhaupt nichts wahrgenommen, weißt du? Was ich träume, gehört mir und ich kann damit machen, was ich will.“ Colin küsste Keis Kinn und kniete sich vor ihn.
„Wer weiß, ob deine Träume Eigendynamik haben.“ Da er wusste, dass die Leute nicht das Produkt von Colins Träumen waren und eventuell nicht alle einen Porno auf der Tanzfläche wollten, ließ er das unkommentiert. Ihm war bewusst, dass Colin Realität und Traum nicht auseinanderhalten konnte, aber jetzt gerade war das in Ordnung. Ob der Kleinere das auch auf ihn bezog, wusste Kei nicht - was das für Ausmaße annehmen würde, interessierte ihn aber schon.
„Dieser hier scheint eine zu haben.“ Colin schmunzelte dreckig, als er die Wölbung in Keis Hose befühlte. Als er wieder zu Kei hinaufsah, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst und er hielt inne. Seine Hände zuckten zurück und er setzte sich verwirrt dreinblickend auf seine Fersen.
„Könnte daran liegen, dass ich real bin,“ sagte Kei und sah fragend zu ihm hinunter.
„Ich weiß,“ flüsterte Colin, während er auf Keis Stiefel vor sich starrte. „Du bist... ich glaube... hast du gerade wirklich...“ Er hielt sich eine Hand vor den Mund.
„Dich aus ‘nem Club entführt um zu vögeln oder gesagt, dass ich mir Sorgen um dich mache?“
Colin schauderte und sah ungläubig zu ihm auf.
Kei schaute zurück. „Du hast beides nicht geträumt.“
Mit knirschenden Zähnen und nun auch großzügig tränenden Augen stand Colin langsam auf, und vorsichtig, damit ihn dieses alkoholbedingte Schwindelgefühl nicht sofort wieder umwerfen konnte. Er starrte Kei dabei an, mal sein Gesicht, mal sein T-shirt oder seine Hose, aber er gab darauf Acht, ihn nicht zu berühren. Kei nahm ihn einfach in den Arm, auch wenn er eigentlich lieber etwas anderes getan hätte, aber Colins Laune hatte sich ja schlagartig gegen Intimitäten entschieden. Colin stemmte sich gegen ihn und versuchte, einen Schritt zurückzugehen.
„Lass mich sofort los,“ flüsterte er.
„Willst du wieder abhauen?“
„Ja.“
„Dann nicht.“
„Bitte.“
„Warum bist du einfach weggelaufen?“
„Ich kann machen, was ich will. Ich wollte ausgehen. Lass mich los.“
Kei ließ ihn los. „Kann ich mitkommen? Wir können ja zusammen saufen und uns auf der Tanzfläche blamieren.“
Colin nahm eilig ein paar Schritte Abstand und lachte schluchzend. „Nein.“
Kei sah ihn an. „Was ist los mit dir?“
„Nichts, ich bin bloß wach.“ Colin lachte fast ungläubig, als er Kei weiter anstarrte.
„Gut.“ Kei wandte sich in Richtung Straße, blieb aber stehen. Colin blieb wo er war und beobachtete ihn nur. „Du musst lernen, Realität und Träume auseinanderzuhalten.“
Colins Gesichtsausdruck wandelte sich von verzweifeltem Staunen zu verletztem Trotz. Schniefend wischte er sich mit den Ärmeln über das Gesicht. Kei hatte nicht beabsichtigt ihn irgendwie zu verletzen, aber wenn das half, ihn aus seinem komischen psychischen Traumland zu holen, war das gut.
„Ich geh Rupert Bescheid sagen, dass du dich nur besaufen wolltest und alt genug bist, das ohne Nachricht zu tun.“
„Okay. Ich gehe meine Jacke holen,“ sagte Colin leise und ging an Kei vorbei. Kei sah ihm nach und schrieb derweil Rupert in einer SMS, dass er Colin gefunden hatte. Keine zwei Minuten später kam Colin wieder heraus und stellte sich zu Kei an den Straßenrand, um geradeaus auf die gegenüberliegende Straßenseite zu starren. Die Hände hatte er in den Taschen des kurzen Mantels. Kei wartete stumm darauf, dass Rupert sie wieder einsammeln würde.
Kurz darauf hielt der silberne Audi vor ihnen und Colin öffnete ohne Umschweife die hintere Tür, um auf den Rücksitz zu klettern. Rupert sah ihn mit strengem Argusblick an und schien sich auf die Zunge zu beißen. Kei setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Er war nur Saufen.“
Wie als Antwort darauf betätigte Rupert einen Knopf in seiner Tür, der sämtliche Türen klicken ließ, sobald die Jungs ihre beiden geschlossen hatten. Ohne ein Wort fuhr er los.
Kei sah die ganze Fahrt über wortlos aus dem Fenster. Colin tat es ihm gleich, wechselte jedoch zwischen der nächtlichen Aussicht und dem Anblick der stummen Halbprofile von Rupert und Kei vor sich ab.
„Kei. Ich bin wach,“ sagte er plötzlich ruhig. „I'm wide awake,“ fügte er noch für Rupert hinzu.
„Das ist gut,“ entgegnete Kei ebenfalls ruhig. „Dir dabei zuzusehen, wie du die Realität für einen Traum hältst ist schwer.“
„Ja... das hier tut mir wirklich Leid.“ Es raschelte kurz und ein leises glitschendes Geräusch ertönte, kurz bevor etwas warmes auf Ruperts linke Wange und durch den Spalt in Keis Kopfstütze auf dessen Nacken spritzte. Kei drehte sich um und sah auf Colin. Der saß mit zurückgeworfenem Kopf zuckend da und gurgelte leise, während ein dunkler Spalt in seiner Kehle großzügig troff und in kurzen Abständen ein bisschen sprühte. Rupert wischte sich verwirrt über die Wange und warf einen Blick in den Rückspiegel.
„The bloody fuck-“ Er trat das Gaspedal herunter und raste mit über hundert Sachen den langen Kiesweg zum Schloss hinauf.
„Fuck...“ war alles, was Kei herausbrachte. Das Zucken und Fließen flachten schnell ab und hörten bald ganz auf. Vor dem Haupteingang hielt Rupert kiesspritzend an, sodass Colins Körper nach vorn geschleudert wurde und er in den Fußraum rutschte.
„Get him the fuck inside!“
Kei stieg aus, packte Colin und trug ihn nach drinnen. „What's going on with him?“
„How the hell should I know? You know him best.“ Rupert eilte voraus und hielt ihm die Türen auf, bis sie in Colins Zimmer angelangt waren, dicht gefolgt von Dennis, der Colin mit großen Augen betrachtete.
„Well, he was killed and after that lived on human flesh but this never happend,“ erklärte Kei ruhig.
„You mean he‘s never tried to kill himself?“ Rupert klang gleichzeitig sarkastisch und aufgebracht.
„Leg ihn hin,“ sagte Dennis und deutete auf das Bett. In diesem Moment kam Delilah durch die offene Tür gelaufen. Sie glotzte wie Dennis, bis Rupert sie wütend anstarrte und sie ihm dafür schnell etwas in die Hand gab. Rupert starrte darauf und warf es dann auf den Boden.
„What's Colin doing with a switchknife?!“ wetterte er. „Is NOBODY taking ANY responsibility around here?!“
„He constantly tries to kill himself but he usually is not that effective. Not with a knife...“ versuchte Kei. Rupert riss sich die Mütze herunter, um sich durch die Haare zu fahren, während er den sehr leblosen, sehr blutigen Jungen auf dem Bett betrachtete. Auf einen Blick von Dennis hin nahm Delilah ihn beim Arm und führte ihn zu einem Stuhl. Danach schloss sie die Zimmertür. Dennis sah Colin an.
„Glaubst du, dass das auch wieder heilt?“ Er blickte kurz zu Kei.
„Das hat er immer getan, wieso nicht jetzt?“
„Weil er tot ist. Ist das zwischendurch mal passiert?“
„Er war gestorben bevor er so... untot war und eigentlich war er zwischendrin ständig klinisch tot, aber doch lebendig.“
Colins Körper schien nun eindeutig eine Leiche zu sein. Nichts an ihm regte sich, nur das Blut, das seinen Hals bedeckte und seine Kleidung großzügig durchtränkt hatte, schimmerte gelegentlich im Lampenlicht. Dennis stand still da und sah ihn mit ernster Besorgnis an. Delilah, etwas weiter entfernt, war sein perfektes Ebenbild. Rupert war unruhig. Er fuhr sich verzweifelt über das Gesicht und durch die Haare und saß so vornübergebeugt auf der äußersten Kante der Sitzfläche, als wollte er gleich aufspringen und zum Bett stürzen. Kei stand neben dem Bett und sah auf Colin. Stumm stand er da und musterte ihn.
„Ich finde das nicht lustig, Colin. Wach auf.“
Nichts bewegte sich.
Außer Rupert, der nun aufstand, aber von Delilah zurück in den Stuhl gedrückt wurde. „Do something, for christ's sake! Don't just stand there! Dennis!“
Kei setzte sich zu Colin aufs Bett, nachdem er ihn einfach so hingelegt hatte, dass er neben ihm sitzen konnte. Er legte eine Hand auf Colins Gesicht. Es war kühl und reglos. Seine Augen waren geschlossen, aber das waren sie die ganze Zeit gewesen. Kei legte seine Jacke auf Colin, auch wenn er wusste, dass einem Toten ein bisschen Wärme wohl egal war. Dann stand er auf und ging wortlos nach draußen.
Einige Minuten später kam er mit der neuen Gitarre und dem kleinen Verstärker zurück und setzte sich wieder auf Colins Bett, wo er anfing, leise Melodien zu spielen.
Delilah und Dennis hatten gerade den aufgelösten Rupert aus dem Raum entfernt, um Kei seine Ruhe zu lassen, und waren selbst auch nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich kümmerten sie sich um Rupert, das Auto vor der Tür und die Blutspuren, die von dort zu Colins Zimmer führten. Womöglich hielten sie auch Kriegsrat. Was auch immer, sie ließen Kei jedenfalls die ganze Nacht lang in Ruhe. Und er spielte die ganze Nacht lang.

Erst als draußen der Himmel wieder allmählich von schwarz zu grau wechselte und ein, zwei Vogelstimmen durch die Fenster drangen, regte sich noch etwas anderes als Keis Hände.
Colins Kissen raschelte kaum merklich, kurz bevor er mit einem leisen Gurgeln Luft holte. Kei sah von seiner Gitarre auf und wandte den Blick zu Colin um zu prüfen, ob sein Gehirn anfing, ihm Streiche zu spielen. Sachte zuckte Colins Körper, während er mit gerunzelter Stirn schwach röchelnd hustete. Kei begrüßte Colin mit ein paar Akkorden und legte die Gitarre beiseite.
„Du hast mich erschreckt.“
Colins Kopf bewegte sich etwas, bis er Kei sehen konnte. Sein Blick war wach und so kühl wie sein Gesichtsausdruck. Kei musterte ihn.
„Bist du wieder richtig untot?“ fragte er. Er war äußerst erleichtert, dass Colin nicht tot im Sinne von leblos und verrottend war, ließ sich davon aber kaum etwas anmerken. Colin sah ihn ein paar Sekunden lang stumm an und drehte sich dann mit einem leichten Stirnrunzeln von ihm weg. Keis Blick wandelte sich zu einem fragenden.
„Du weißt aber wo du bist und wer ich bin, oder?“ versuchte er einfach mal.
Keine Reaktion.
Bevor ihm der Geduldsfaden riss, stand Kei auf und ging nach draußen, um Dennis zu suchen und ihm zu sagen, dass Colin wach war, ihn aber ignorierte.

Dennis stand mit Delilah im Arbeitszimmer. Sie diskutierten in Gebärdensprache, als Kei sie mit seiner überraschenden Nachricht unterbrach. Dennis ging sofort zu Colin, während Delilah sich kopfkratzend und deutlich gemächlicher zu Rupert aufmachte. Zumindest nahm Kei das an, denn er hatte eigentlich keine Ahnung, was ihre Handzeichen bedeuteten. Kei folgte Dennis etwas langsamer und blieb im Türrahmen von Colins Zimmer stehen. Colin lag Dennis zugewandt da, der sich den Stuhl herangezogen hatte, und schien leise zu sprechen. Doch als Kei erschien, wanderte sein Blick kurz zu ihm und er verstummte. Dennis blickte zwischen beiden hin und her.
„Wenn du wegen gestern angepisst bist und ich dich in Ruhe lassen soll, kannst du‘s auch sagen,“ kommentierte Kei leise.
„Ich bin nicht angepisst,“ murmelte Colin, sodass es selbst für Kei schwer zu hören sein musste. Er verstand es dennoch.
„Was ist dann los mit dir?“ Kei blieb leise. Dennis senkte den Kopf und verhielt sich ruhig, um nicht zu stören. Colin schien nachzudenken. So langsam und lustlos wie er offensichtlich niedergeschlagen war. Kei wartete ab, und Dennis nahm diese Gelegenheit wahr, um sich leise an Kei vorbei- und hinauszuschleichen. Colin bewegte mit geschlossenen Augen stumm die Lippen.
„... Natürlich kann ich es fassen,“ murmelte er schließlich. „Das wusste ich doch...“
„Was meinst du?“ Kei schloss die Tür und kam ein Stück näher, blieb aber mitten im Raum stehen und setzte sich dort auf den Boden.
„Das ist keine Überraschung. Es tut nur weh. Und daran kann man sich nicht gewöhnen.“ Colins Stimme war nun etwas kräftiger, sodass man sich nicht mehr besonders anstrengen musste, um in diesem stillen Zimmer zu verstehen, was er murmelte. Kei hörte nur weiter zu, in der Hoffnung, Colin würde ihm oder dem Raum mitteilen, wovon er sprach. Sein blutbedeckter Körper krümmte sich und sein weißes Gesicht verzog sich kurz, bevor er die Augen öffnete, aus denen sofort Wasser herausquoll. „Das weiß ich. Ich weiß. Aber jetzt bin ich kaputt. Ich bin nicht mehr... ich bin dafür nicht mehr...“ wimmerte er.
„Nicht mehr was?“ Kei setzte sich neben Colins Bett, blieb aber auf dem Boden mit dem Verdacht, dass Colin seinen Zustand meinte und das, was gerade mit ihm passierte. Colin hielt inne und blickte suchend auf dem Boden neben dem Bett herum, knapp neben Keis Bein.
„... Ich habe Risse. Wenn du mich weiter trittst und schlägst, machst du mich kaputt.“
Kei rutschte auf dem Boden herum, sodass er in Colins Reichweite saß. „Ich gelobe Besserung.“
Colins Blick schien sein Gesicht abzusuchen. „... Meinst du das ernst?“ flüsterte er.
„Ich werd‘s ernsthaft versuchen.“
„Und wenn du‘s nicht schaffst...“
„Die Option habe ich nicht.“
„Warum?“
„Weil ich dann auch kaputtgehe.“
Langsam schloss Colin die Augen. „Du brauchst mich als Generator. Damit du nicht stirbst.“
„Nein. Ich existiere weiterhin. Aber du sollst nicht zerbrechen.“
„Zu spät.“ Er drückte das Gesicht etwas ins Kissen und zerrte ein wenig daran. Das war dem neuen Tränenschwall geschuldet.
„Ich weiß. Aber ich kann‘s wenigstens versuchen.“
Colin weinte weiter, aber sah Kei nun wenigstens wieder an, wenn auch mit großer Hilflosigkeit. Kei nahm eine von Colins Händen, blieb dabei aber auf dem Boden sitzen.
„Warum erst jetzt?“ Colin biss die Zähne zusammen und schaffte es noch, sein Gesicht wieder im Kissen zu vergraben, bevor er schluchzen musste.
„Ich bin ein gefühlskaputter Idiot,“ war Keis sehr interpretierbare Antwort. Colin zog Keis Hand, die seine hielt, zu seinem Gesicht und legte seine Wange etwas darauf. Das führte dazu, dass Kei im Ganzen etwas schief dasaß. Er wischte ein paar Tränen weg.
„Ich kann nicht aufhören,“ flüsterte Colin mit geschlossenen Augen. „Und das tut so weh.“
„Damit, dich umzubringen oder mit weinen?“ fragte Kei ruhig und leise.
„Dich zu lieben.“
„Ich hör damit auf dir wehzutun. Vielleicht wird‘s dann besser.“
Colin schluchzte wieder, lachte dabei aber ein bisschen.
„War das sehr lustig?“ Kei sprach immer noch sehr ruhig, das leichte, ganz leichte Lächeln war ihm aber anzuhören. Langsam schüttelte Colin den Kopf.
„Kein bisschen.“ Er lächelte. Kei lächelte ein kleines bisschen breiter. Er hing noch immer etwas verdreht halb auf dem Boden und mit einem Arm auf dem Bett. Colin schloss die Augen und blieb mit seinem kleinen Lächeln so liegen, auf Keis Hand. Die strich leicht über sein Gesicht.

Derweil zeigte Dennis, der im Arbeitszimmer mit einem Ohr an der Wand neben dem Kamin klebte, Delilah und Rupert mit einem erhobenen Daumen ein ‚OK‘ an. Rupert sank in seinem Schreibtischstuhl etwas zusammen.

Nach einer Weile streckte Kei sich nach seiner Gitarre und spielte ein bisschen darauf. Dafür ließ er Colins Gesicht los. Der Junge sah zwar so aus, als schliefe er friedlich, war aber sehr wach und hörte der Musik aufmerksam zu. Kei wechselte zwischen Rock und ruhigen Stücken hin und her.
Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und zwischen den Wolken sogar gelegentlich zu sehen.
Es klopfte am Türrahmen. Rupert stand in der Tür. Er sah sehr müde aus. Kei sah zu ihm auf und ließ sein Instrument verstummen.
„Shall I leave you two?“ Er wusste, dass Rupert Colin gern hatte und dachte, dass er vielleicht mit ihm reden wollte. Der besorgte Mann nickte dankbar.
„Please.“
Kei stand langsam auf und verließ den Raum, nachdem er sich mit leichtem Lächeln von Colin verabschiedet hatte. Colin sah ihm friedlich nach und beobachtete dann, wie Rupert hinter Kei die Tür schloss, auf ihn zuging und auf dem Stuhl neben dem Bett Platz nahm.
Kei setzte sich neben er Tür draußen auf den Boden und spielte weiter auf der Gitarre.

Rupert sprach leise mit Colin, der sich im Laufe der Erzählung allmählich aufsetzte und zwischendurch mit wachsendem Interesse und immer mehr Lebhaftigkeit Fragen stellte.
Kei achtete nur am Rande auf das Gespräch, das er nicht gut verstand, weil seine Gitarre zwar leise aber nicht geräuschlos war. Es dauerte lang. Rupert schien viel zu erzählen zu haben, und als nach etwa zwei Stunden aus dem Bedienstetentreppenhaus am Ende des Korridors die Köchin auf ihn zugeschlendert kam, war er immer noch nicht fertig.
„Got thrown out?“ fragte die junge Frau, ohne anzuhalten. Sie war in voller Küchenmontur und trug ein Klemmbrett mit eingesauten Zetteln unter dem Arm.
„They want to talk alone,“ erklärte Kei weiterspielend. Langsam begannen seine Finger zu bluten, da er das Plektrum vergessen hatte, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Sie nickte gleichgültig und wanderte weiter, bis sie auf der Galerie abbog und außer Sicht war. Kurz darauf verstummte das Gespräch im Raum hinter ihm und die Tür öffnete sich.
Kei schaute auf, die Hände noch an der Gitarre. Rupert sah ihn etwas überrascht an. Er sah deutlich gelassener aus als bei seinem Eintreten.
„I‘ll draw him a bath. He needs one.“ Er schaute kurz unschlüssig über seine Schulter zurück in das Zimmer. „He said I should tell you.“ Sein Ton verriet, das er selbst das für überflüssig hielt.
„That he needs a bath?“ Auf Keis Gesicht zeichnete sich die Andeutung eines Grinsens ab.
„No, that I'm going to stay with him during. I don't have to tell you why he shouldn't be by himself.“ Rupert lehnte sich an den Türrahmen, ohne die Tür ganz zu öffnen oder loszulassen und versperrte so unauffällig aber effektiv den Weg und die Sicht in den Raum.
„I wasn't going to spy on him,“ kommentierte Kei Ruperts Im-Weg-Stehen, das aufgrund der Tatsache, dass Kei sich nicht groß bewegt hatte, völlig unnötig war. Zumindest aus seiner Sicht. Er hätte aufpassen können, dass Colin nicht versuchte, sich beim Baden umzubringen, aber da Rupert anscheinend der Meinung war, dass Kei für derlei Dinge nicht geeignet war, ließ er das Argumentieren einfach bleiben. Es war wichtiger, dass Colin überhaupt am Leben war. Rupert musterte ihn kurz ernst, nickte dann und wandte sich wieder zurück in den Raum.
Kei blieb tatsächlich auf dem Boden sitzen und spielte weiter leise auf der Gitarre. Der Verstärker war ziemlich leise gedreht, sodass man schon in Colins Zimmer nicht mehr gut vernehmen konnte, was er eigentlich spielte.


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