Sunday, August 7, 2016

Kei + Colin LXXXII: Gute Vorsätze


Was sich drinnen und im angeschlossenen Badezimmer abspielte, war ebenfalls ruhig und gemächlich. Rupert tat, was er angekündigt hatte, ließ Badewasser einlaufen und nahm die vollgebluteten Kleider an sich, die Colin sich vorsichtig auszog. Als er das Oberteil und den kurzen Mantel wegwerfen wollte, bat Colin darum, sie behalten zu dürfen, weil sie doch neu seien und Rupert sie ihm gerade erst gekauft habe. Er werde versuchen, sie irgendwie sauberzukriegen.
Er war etwas wackelig auf den Beinen, weil sein Körper momentan kaum Blut enthielt, also ließ er sich beim Aufstehen, Ausziehen und in die Wanne steigen von Rupert stützen. Dabei war er nicht nur vorsichtig sondern auch besonders leise, um auf Keis Gitarre zu horchen. Mit friedlicher Bedächtigkeit wischte er auf dem Schaum herum, der wie das Wasser sofort stellenweise dunkler wurde, während das Blut auf seiner Haut aufweichte. Langsam und vorsichtig wischte er sich mit warmem Wasser über das Gesicht. Rupert saß zwei Schritte entfernt daneben, mit gefalteten Händen und auf seine Knie gestützt auf dem Klodeckel, und beobachtete Colin ernst.
Als Colin das Lied zu erkennen meinte, dessen Gitarrenbegleitung Kei draußen auf dem Flur spielte, lächelte er leise. Kei wurde irgendwann etwas lauter mit der Gitarre, weil ihm eigentlich egal war, ob er jemanden damit stören könnte.
Sachte begann Colin, Teile des Textes in sein warmes rosa Badewasser zu flüstern. Es war das Lied, das er an Neujahr für Kei in der Karaokebar in Tokyo gesungen hatte.
Bis Rupert ihn unterbrach.
„Tell me about Kei.“ Die Aufforderung war leise, aber bestimmt und von einem besorgten Stirnrunzeln begleitet. Colins Lächeln flachte ab und er wischte erst noch nachdenklich in seinem Schaum herum, bevor er leise zu erzählen begann. Zuerst fiel Colin ein, dass er vielleicht fragen sollte, was Rupert über ihn wissen wollte. Doch dann entschied er sich dafür, Ruperts Wohlwollen und Geduld auszunutzen, und ihm genauso von Kei zu erzählen, wie Rupert ihm gerade vor wenigen Minuten von seiner Mutter erzählt hatte. Colin hatte kaum Fragen gestellt und hatte nichts bestimmtes wissen wollen. Er hatte Rupert einfach erzählen lassen und friedlich zugehört. Und Rupert fragte ihn nun auch nichts, sondern saß bloß stumm da.

Derweil begann Kei auf dem Flur damit, verschiedene Lieder zu spielen, die er mit irgendeinem Tag verband, den er mit Colin erlebt hatte. Suna no Shiro von Mucc, das er selbst an Neujahr gesungen hatte, war das nächste.

„He's strange. And very dangerous and interesting. And cold. And talented. And serious. ... When I met him... I mean, really met him, not just in class... but even then... he was terrifying.“ Colin sprach leise und langsam. Eigentlich murmelte er nur verwirrt vor sich hin. Einiges flüsterte er beinahe andächtig. „When you look at his eyes, and they look back at you... you freeze or you melt. It makes you dizzy. ... You know he's actually in love with me? Me. I know that. I know. I do. ... Most of the things that happened weren't his fault. ... I know that...“ Er sprach hauptsächlich mit dem duftenden Badeschaum vor seinem Gesicht. „You know... No. ... I should be scared of him, do you think... You know... there was this one bloke who filmed us when we... the guy tried to blackmail me and Kei had him beaten up. And then he killed him a couple of days later.“
Nun wandte Colin ein wenig den Kopf zu Rupert, um ihn aus dem Augenwinkel anzusehen. Sein böses Schmunzeln lag etwas unter Wasser. „He'll snap the neck of anyone who touches me.“ Dann wurde sein Lächeln dünn. „He'll snap mine, too. Eventually. He might as well.“ Er tauchte sein Gesicht kurz unter und wischte sich dann darüber. „He doesn't give two flying fucks about me, really. I belong to him, that's all. He's selfish.“

Kei spielte draußen munter weiter und bewies, dass er auch lebhafte Lieder beherrschte. Colin wusste das allerdings. Naja, vielleicht hatte er es ja vergessen... Jedenfalls war Kei laut genug, drinnen im Badezimmer sehr gut gehört werden zu können.

Colin musste etwas blinzeln. Aber er wusste nicht, ob es die Seife war, die ihm in den Augen stach, oder etwas das nichts mit dem Badewasser zu tun hatte. Mittlerweile hatte er seine Stimme wiedergefunden. Er sprach immer noch ruhig und langsam und mit vielen Denkpausen, doch er war weniger entrückt und hatte normale Redelautstärke erreicht. Außerdem musste er nun nicht mehr darauf achten, Keis Musik nicht zu übertönen, denn die war nun ein wenig lauter geworden.
„You know... If I could... If I could... I keep dreaming of him. Since the pits. Before, as well. But now it's... almost like an alternate reality. ... I keep imagining him as someone with actual feelings... in another world... Who doesn't save me from kidnappers, torturers and rapists... Who takes me for a stroll in a park, holds my hand and smiles at me... who's soft when he does things. And nice. And happy...“ Er klang wieder nachdenklicher. Nach einem weiteren verschämten Tauchgang fuhr er fort: „One time, he took me hiking. And we sat down on a cliff in the heather. And he came really close... and recited Shakespeare... But that never happened. Because it was near where my granddad lives... and I remembered we never got to Scotland after all.
„And one time, we were in a pub and he played to me. And he smiled the whole time. Another... he... when he does things...“ Mit geschlossenen Augen rutschte Colin langsam unter Wasser und blieb dort. Ihm war gerade bewusst geworden, dass er Rupert beinahe von Sex mit Kei erzählt hätte. Er musste davon erzählen, aber Rupert? Der war nun praktisch ein Elternteil. Und... das war viel zu privat.
Beinahe weinte er unter Wasser, oder es war tatsächlich die Badeseife, die ihm in den Augen brannte, und er tauchte wieder auf, kurz bevor Rupert aufstehen wollte um ihn herauszuziehen.

Kei spielte draußen weiter. Fröhlichere Lieder. Diesmal spielte er World is Mine von Plunkrock.

„I can't-! I don't know how-! I don't-!“ Frustriert patschte Colin mit der Faust auf die Wasseroberfläche. Aber nur sehr halbherzig. Rupert neigte nur etwas den Kopf und hörte und sah weiter genau zu. „I can't keep going-! This is...“ Colin wischte sich über das Gesicht. Nun wusste er sicher, dass er weinte. „It's not even his fault. He doesn't understand anything. I... He doesn't know how... He doesn't see it. Or he doesn't know how to...“ Er gab ein frustriertes Ächzen von sich. Rupert kaute mit besorgtem Blick auf seiner Zunge herum.
„Is that why you want to die?“ wagte er. „Because of him?“
„I don't want to die, for fuck's sake...“ Colin schnaubte etwas genervt, aber sprach ruhig weiter. „I can't die. I just don't want to go on living.“

Kei, sehr gut darin höflich und unhöflich zur gleichen Zeit zu sein, machte mit der akustischen Belästigung seiner Umgebung weiter um sich davon abzuhalten, den beiden zuzuhören.

„Why?“ fragte Rupert weiter.
Colin lehnte sich zurück und sah an die Decke. Sogar die sah edel aus. Er schloss die Augen, um über seine Antwort nachdenken zu können. Keis Musik war nicht mehr auszublenden. Und sie veranschaulichte so wunderbar, was ihn kaputtmachte. Es passierte genau jetzt und er musste nichts weiter tun, als dieses augenblickliche Empfinden zu beschreiben.
„Because half of what he does is amazing. And the other...“ Die fröhliche Musik schob sich durch seinen Körper wie ein scharfer Hobel, der tonnenschwer Teile seiner Seele abraspelte, mit jedem Akkord und jedem Takt. „It's a punch in my guts!“ rief er, damit Kei ihn auch hören konnte.

Tat er. Aber weil er den Rest des Satzes nicht kannte, nahm er sich vor, später danach zu fragen.

Colin sah den immer besorgteren Rupert mit verzweifeltem Trotz an und sprach beinahe so laut weiter: „Do you know how often I've been kidnapped and raped? Neither do I! I've been drugged and unconscious and I JUST LOST COUNT!“ Er sah Rupert nicht einmal mehr direkt an, sondern irgendwie durch ihn hindurch oder knapp an ihm vorbei, sodass dem Mann trotz seines Schreckens über das, was Colin da von sich gab, sofort klar war, dass der Junge nicht ihn anschrie.

Kei hörte das und sollte er mit dem Anschreien gemeint gewesen sein, hätte er ‚Neither do I know‘ zurückgeschrien. Das wollte er allerdings nicht. Zum Einen, weil er wusste, dass Colin das klar war und zum Anderen, weil es nicht seine Schuld war.

Colin stützte sich auf den Badewannenrand und beugte sich darüber vor. „ASK him how defective I am. I can tell you right now what he'll say.“ Das Folgende schleuderte Colin auf Japanisch in den Raum, sodass Rupert nur verständnislos zurückstarren konnte. „Du bist viermal entführt worden, einmal gestorben, hast diverse Male versucht, dich umzubringen, du warst 'ne Untergrundkäfigkampfattraktion, sie wollten dich zu 'ner Crackhure machen, du hast deine abgeschlachtete Familie an Heiligabend gefunden... Du bist also ziemlich kaputt!“ Er hatte sich große Mühe gegeben, nicht zwischendurch zu schluchzen, aber es passierte trotzdem. „He actually said that! Word for word! I'll never forget it! He said that to me!“

Kei wusste, dass Colin deshalb sauer war, aber, dass er sich alles, was er unglücklich formulierte, so sehr zu Herzen nahm, war ihm nie richtig bewusst gewesen.

„He always helps me out when it counts. He's always there when I need him. And then he takes over. He always pulls me out of the deepest shit. He's saving me all the time, from everything. Just so that he can finish me off himself.“ Colin setzte sich wieder hin. „I can't stop letting him. I'll let him treat me any way he wants, literally. But it's... I wish I had an empty chest. I could bear it then.“ Nun sprach er tatsächlich wieder mit Rupert, aber wieder ohne ihn anzusehen. „You know how everything clenches in your ribs? Like something's tugging on it and twisting everything in there... that's when I've wished too much. And he's strangling it all, my lungs and heart and everything, and he doesn't even know.“

Kei wurde mit der Gitarre etwas leiser, als er anfing, wieder ruhigere Lieder zu spielen.

Zeitgleich wurde Colin auch wieder leise und verstummte schließlich ganz. Rupert wartete noch lange stumm und beinahe reglos, bis Colin ganz aufgehört hatte zu weinen, der Schaum komplett verschwunden war und sich sämtliches Blut von Colins Haut im Wasser aufgelöst hatte. Wortlos einigten sie sich darauf, dass er nun hinauskonnte, und Rupert holte ihm ein Handtuch aus dem Schrank und den großen, weichen Bademantel aus dem Schlafzimmer, während Colin das dunkle Wasser ablaufen ließ und sich selbst und die Badewanne noch mit klarem Wasser abspülte.
Zurück in Colins Zimmer sagte Rupert noch etwas, gedämpft von dem flauschigen Stoff des Bademantels auf Colins Schulter, während er ihn umarmte. Als er ihn losließ, schloss er mit: „Your mother was my Kei,“ und lächelte dabei leise.

Kei hatte keine Ahnung wie spät es war und hatte das Bedürfnis sehr laut zu spielen, also ging er, nachdem er sein Plektrum gesucht und gefunden hatte, nach draußen. Er ging irgendwo in den Garten, wo er meinte, dass man ihn zwar hören aber nicht wegen der Lautstärke umbringen würde.
Dort wurde er auch in Ruhe gelassen.

Überhaupt schien auf dieser Seite des Schlosses sehr wenig los zu sein. Vorn war dafür die Hölle los. Kleintransporter und Lieferwagen unterschiedlicher Unternehmen aus der Gegend parkten vor dem Flügel mit dem Seiteneingang, den alle benutzten, wenn sie mit den Motorräden unterwegs waren. Seit dem frühen Vormittag, während Rupert sich noch um Colin gekümmert hatte, herrschte dort und im gesamten Erdgeschoss große Geschäftigkeit, als Leihservice, Catering Service, Floristen und Handwerker Dinge durch die Gegend trugen, Möbel verrückten und ihrer respektiven Arbeit nachgingen.
Rupert ließ sich notgedrungen überall ein paarmal blicken, mischte sich in die Vorbereitung der Gala aber nicht ein. Auch die Planung hatte er anderen überlassen und nur insofern beeinflusst, als dass er die angekündigten Gäste genau überprüft und zu den Vorschlägen seiner Köchin und des Haushälters entweder Ja oder Nein gesagt hatte.

Kei veranstaltete derweil ein leises privates Rockkonzert und zeigte sich nicht unter den Leuten. Da man ihn dort, wo sie unterwegs waren, durch den Trubel überhaupt nur hören konnte, wenn man auf der Rückseite des Schlosses ein Fenster öffnete und genau horchte, oder gar das Gebäude ganz verließ und über die Terrasse in den Garten hinunterging, störte er niemanden. Nur wenn es drinnen zwischendurch ruhiger wurde, fiel den Vorbereitern, die sich für eine Raucherpause auf die Terrasse begeben hatten, die Musik deutlich genug auf, um ihr zuzuhören, wenn sie dazu die Muße hatten.
Irgendwann am Nachmittag trat jemand schwarzgekleidetes zwischen zwei übermannshohen Hecken hervor und schlenderte gelassen auf Kei zu. Es war Delilah. Scheinbar besaß sie keine Kleidung, die nicht aus hautengem schwarzem Leder oder Kunstleder bestand. Sie hielt die Hände locker hinter dem Rücken und wurde langsamer. Kei bemerkte zwar, dass sich ihm jemand näherte, aber es kümmerte ihn nicht weiter. Er achtete auch nicht darauf, wer das sein konnte. Delilah kam bis auf wenige Meter an ihn heran, bevor sie stehenblieb und ihm einfach zusah.
Die Saiten seiner Gitarre waren am Hals mittlerweile vollständig nass und rot von seinen zerschundenen Fingern, was Kei aber nicht zu stören schien. Dank des Plektrums hatte wenigstens seine rechte Hand zu bluten aufgehört.
Delilah hörte zu und beobachtete ihn dabei. Nachdem Kei sie einige Minuten lang gitarrespielenderweise völlig ignoriert hatte, erklang ihre monotone Gedankenstimme in seinem Kopf: ‚Die Karte.‘
„Was für ne Karte?“ fragte Kei und blickte auf. Delilah wischte ein paar Finger gegeneinander um ‚Geld‘ anzudeuten. Dazu sendete sie ihm den Gedanken ‚Rupert‘.
„Ach die.“ Mit der nicht blutigen Hand zog Kei Ruperts Kreditkarte aus seiner Hosentasche und gab sie Delilah. Den Preis seiner E-Gitarre verschwieg er dabei lieber. Sie steckte die Karte in eine Jackentasche und nickte auf Keis linke Hand. Er winkte ab. „Wächst wieder zu.“
Sie nickte. Dann deutete sie zwischen Kei und sich selbst hin und her und mimte ein paar Handkantenschläge. Kei nickte leicht. „Ich bring erst die Gitarre weg.“
Sie winkte ab. ‚Morgen.‘
„Okay.“ Kei machte sich dennoch auf den Rückweg zum Schloss und in sein Zimmer. Delilah sah ihm etwas nach, ehe sie ihre Wachrunde fortsetzte.

Im Schloss wurde Kei von jedem, dem er begegnete, etweder ignoriert oder mit kaum mehr als einem kurzen Blick und einem schnellen Kopfnicken begrüßt. Die zwei bis drei dutzend Menschen, die im Erdgeschoss unterwegs waren, waren allesamt schwer beschäftigt. In der fertig geschmückten Eingangshalle war wenig los, die Menschen eilten nur vereinzelt durch sie hindurch um zwischen Küche und Lagerräumen und dem Saal, der Bibliothek und dem Salon hin und her zu gelangen. Die große Treppe zur Galerie war auf der vierten Stufe mit einer Kordel abgesperrt.
Kei beachtete das Treiben kaum. Er ging in sein Zimmer hinauf, während seine Hand langsam zu bluten aufhörte und die Wunden sich zu schließen begannen.

Als er aus dem Badezimmer Wasserrauschen vernahm, horchte Colin auf. Er hatte den ganzen Mittag und Nachmittag hier drinnen verbracht. Er hatte versucht, seine neuen Kleider auszuspülen und es nicht geschafft, das Blut ganz aus ihnen herauszubekommen, aber da sie dunkel waren, konnte man die ausgewaschenen rostbraunen Flecken sowieso kaum sehen. Jacke, Longsleeves und Hose hingen nun nass auf dem Handtuchtrockner im Badezimmer und tropften auf die Fliesen.
Zwischendurch hatte es kurz an der Tür geklopft. Davor hatte nur eine abgedeckte Suppenschüssel mit rohem Fleisch gestanden. Randvoll. Diese war mittlerweile leer und wieder von seiner Türschwelle abgeholt worden. Die restlichen Stunden hatte er mit Nachdenken, Dösen und auf dem Fensterbrett sitzen verbracht.
Nun hörte er zu, wie Kei duschte. Und wartete. Bereitete sich innerlich auf den Moment vor, in dem das Rauschen aufhören würde.

Kei duschte gewohnheitsmäßig ewig und daher dauerte es ganze zwanzig Minuten, bis Colin vernehmen konnte, wie das Wasser wieder ausging. Beim Verlassen der Dusche fielen Kei die nassen Kleider auf, aber er beachtete sie nicht groß und nahm sich ein großes Handtuch.

Bis dahin hatte Colin es bis zu seiner Badezimmertür geschafft, an der er nun lehnte und horchte.

Halb abgetrocknet verließ Kei das Badezimmer wieder in Richtung seines Zimmers - wohl wissend, das Colin an der anderen Tür stand - und suchte sich ein paar Kleidungsstücke heraus.

Jetzt, dachte Colin, Jetzt, jetzt... Was wollte ich nochmal machen?

Kei zog sich Jogginghose und Tanktop an und legte sich auf sein Bett.

Colin schlug einmal die Stirn gegen die Tür und rubbelte sich über die noch raspelkurzen Haare, bevor er die Tür öffnete und langsam durch das Badezimmer ging.
Kei lag mit Blick in Richtung Decke auf dem Bett.
Colin blieb im Türrahmen stehen und sah Kei an. Er gab sich Mühe, keinen bestimmten Gesichtsausdruck zu haben, was natürlich nur dazu führte, dass man ihm jedes kleine Bisschen seines breit aufgefächerten Unwohlseins ansehen konnte. Kei drehte sich leicht in Colins Richtung und musterte ihn eine Weile, bevor sich sein Blick in ein Fragezeichen verwandelte.
Irgendetwas beschleunigte Colins Herz und Atem, während er sich nicht entscheiden konnte, ob ihn Keis Blick gerade erleichterte, besorgte oder enttäuschte. Seine Finger zuckten und er schob sie sich eilig in die Hosentaschen. Außerdem musste er dringend seine Socken betrachten. Er hatte jedes Wort, das er sich stundenlang zurechtgelegt hatte, vergessen.
Kei verkniff sich ein Schmunzeln. So wie Colin dastand, wirkte er, als müsse er irgendeinen Vortrag halten. „Warum so nervös?“ fragte er schließlich. Colin schluckte und kaute sich auf der Zunge herum.
Don'tcrydon'tcrydon'tcry.
Kei betrachtete ihn geduldig und blieb auf seinem Bett liegen. Er sah, dass irgendetwas mit Colin nicht stimmte, aber was das war, wusste er nicht. „Was ist los?“
Lange stand Colin da und blickte vor sich auf dem Boden herum, unschlüssig und zunehmend verzweifelter, weil ihm nicht einfallen wollte, was er sagen oder tun sollte, musste, wollte... Immerhin schaffte er es tatsächlich, nicht zu weinen.
Kei hatte keine Ahnung, was Colin gerade eigentlich wollte. „Du musst nicht im Türrahmen stehen bleiben...“
Daraufhin hob Colin endlich den ratlosen, verzweifelten Blick, und sah Kei hilfesuchend an. Aber bewegen konnte er sich nicht. Er hätte nicht gewusst, wohin er sich bewegen sollte.
Hätte Kei jetzt sowas gesagt wie ‚Ich beiße nicht,‘ wäre das gelogen gewesen, also tat er das nicht und deutete stattdessen durch den Raum. „Du kannst ruhig herkommen...“ Ich kann dir aber nicht sagen, was du mir sagen wolltest, das muss dir allein wieder einfallen.
Ein wenig verfluchte Colin sich selbst, als er zögerlich auf das Bett zuging und dabei sein Puls schon wieder wilder wurde. Auf dem Weg blinzelte er die Tränen weg, doch seine Augen blieben feucht. Kurz vor der Bettkante blieb er stehen, die Schultern immer noch hochgezogen und die Hände verkrampft in den engen Hosentaschen. Kei sah, dass Colin beinahe weinte, kommentierte das aber nicht. „Ich köpf' dich nicht. Du kannst mir ruhig sagen, was so wichtig ist...“ versuchte er ruhig. Colins Mund bewegte sich etwas. Dann fiel ihm auf, dass gar keine Laute herausgekommen waren, und er begann von Neuem:
„Hast du das ernst gemeint?“
„Heute morgen? ... Ja.“ Sonst hätte ich es dir kaum gesagt...
„... Meinst dus immer noch?“
„Ganz so schnell ändere ich meine Meinung nicht,“ sagte Kei leise.
Ganz plötzlich beruhigte Colin sich zusehends. Seine Schultern senkten sich und er kletterte zu Kei aufs Bett, wo er sich neben ihn kniete, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Kei drehte sich ein Stück zu ihm, sodass er auf der Seite lag.
„Es ist vielleicht,“ begann Colin, dann kniff er die Lippen zusammen.
„Es ist vielleicht was?“ fragte Kei leise. Er hörte Colin aufmerksam zu und beobachtete ihn gleichzeitig.
Das konnte Colin nicht sagen, während Kei in ansah. Er vergaß schon wieder, was er im Begriff war zu sagen. Er legte sich zu Kei, dicht, um sein Gesicht irgendwo an ihm zu vergraben. Kei ließ ihn machen und wandte das Gesicht zur Decke, darauf wartend, wie Colins Satz weitergehen würde.
„Es ist vielleicht dumm, aber ich vermisse dich immer,“ sagte er gedämpft an Keis Schulter. Kei war ein wenig erstaunt darüber, dass das Colins große Schwierigkeit sein sollte, die er nicht sagen konnte. Er legte einen Arm locker auf Colin und drehte den Kopf so, dass er dessen kurze Haare sah. „Weißt du, was du tust?“
„Jetzt gerade?“
„Nein... wenn du... Crackhure und abgeschlachtete Familie sagst.“ Colin klang ruhig, fast matt.
Kei wusste, dass Tatsachen formulieren schon mal nicht die richtige Antwort war. Keine Antwort war auch eine Antwort und in Keis Fall hieß sie eigentlich immer Nein.
Als keine verbale Antwort kam, hob Colin etwas den Kopf, um Kei anzusehen und sein Gesicht zu studieren. „Nicht?“
Er wusste es wirklich nicht. Das sah man seinem Gesicht auch an. Kei hatte keine Ahnung, wie Menschen und ihre Emotionen funktionierten und Colin erschien ihm zudem nicht als normal. Das war zwar gut, aber im Hinblick auf Keis nicht vorhandene Sozialisation nicht gerade vorteilhaft.
Colin schnaubte etwas und nickte, aber musste auch wieder schlucken. Natürlich. Er wusste doch, von Anfang an, dass Kei ein triebgesteuertes Raubtier war. Er wusste auch, dass er selbst, Colin, jeden anderen, jeden normalen und noch so verständnisvollen richtigen Menschen, wahrscheinlich genauso überfordern würde wie diesen soziopathischen Vampir.
Er überlegte kurz, wie er Kei dabei helfen könnte, sein Versprechen, sich zu bessern, einzulösen.
„Ich erklärs dir metaphorisch... Wenn ich so aussehe wie jetzt und du sowas sagst, dann... stell dir vor, ich säße mit gebrochenen Beinen herum, und du... du schießt mir dann noch in die Kniescheiben. Wenn ich so bin wie gestern - und ich erinnere mich sehr gut-“ Er legte den Kopf wieder auf Keis Brust. „Und dich und alles für Phantasmen halte, während ich in Wirklichkeit blind in einem Loch angekettet bin, und du mich dann... bei den Mülleimern...“ Seine Stimme wurde leiser. „Dann liege ich mit offenem Brustkorb auf der Straße herum und du... greifst rein. Und reißt alles raus. ... Verstehst du?“
Kei hörte zu, mit Bildern im Kopf. Er nickte leicht. Colin nahm das Nicken wahr, wenn er auch nicht genau hinsah. „... Ist das bei dir nicht so?“
Da es Kei ziemlich selten so ging, als reiße man ihm sein Herz heraus, war das bei ihm tatsächlich nicht so. „Bisher hat mir noch keiner das Herz herausgerissen... oder es versucht.“
Colin schluckte wieder und musste ein bisschen lächeln, passte aber auf, dass Kei das nicht sah. „Vielleicht war das zu bildhaft.“ Er strich mit einer Hand über Keis Brust und Bauch.
Kei lachte ein bisschen. Auch im metaphorischen Sinne war das noch niemandem wirklich gelungen. Jedenfalls nicht in der Form, die Colin beschrieben hatte.
„Lass es mich so sagen...“ Nun wurde er wieder leiser. Verlegenheit machte das mit seiner Stimme. Er sah auch an Kei hinunter, damit dieser sein Gesicht nicht direkt sehen konnte. „Du hast die Macht, mich glücklich oder unglücklich zu machen. Dafür brauchst du nur den Mund aufzumachen. Oder dich wegzudrehen. Oder mich anzufassen. Irgendwas.“
„Hm.“ Kei nickte. Er wusste nichts darauf zu antworten.
„... Verstehst du?“ fragte Colin zögerlich, ohne den Blick vom Bund von Keis Jogginghose abzuwenden.
Er nickte. „Ja.“
Colins Hand hielt still und blieb irgendwo neben Keis Bauchnabel halb unter seinem Tanktop liegen. „Das war schon immer so.“
Kei machte die Augen zu. Irgendwo war ihm das klar. Er antwortete nicht, weil das so ein Satz war, auf den man schlecht antworten konnte. Colin sagte auch eine Weile nichts mehr, und atmete nur ruhig und warm auf Keis Haut. „Entschuldige,“ flüsterte er schließlich kleinlaut.
„Wofür?“
„... Dass ich so schwierig bin... Aber ich brauche dich, um nicht wahnsinnig zu werden.“ Während er das sagte, spürte er sein Gesicht und seine Hände heiß werden. Etwas drohte, in ihm hochzusteigen und ihn wieder zum Weinen zu bringen, aber er hatte partout keine Lust darauf, also schluckte er das Gefühl der Verlassenheit und Betrogenheit hinunter.
Kei schwieg lächelnd. Zumindest eine Weile. Weil er nicht glauben konnte, dass Colin sich entschuldigte obwohl er nichts getan hatte... Kei verstand Menschen einfach nicht. Sie funktionierten komisch. Colin streichelte seinen Bauch noch ein bisschen. Dann sah er auf.
„Vorschlag.“
„Ich höre.“
„Ich helfe dir dabei, dein Versprechen einzulösen und du hilfst mir dabei, nicht wahnsinnig zu werden.“
„Deal. Ich bin schon wahnsinnig.“
Colin schmunzelte. „Bist du nicht.“
„Meinst du?“
„Nein, ich weiß es.“
„Naja. Eigentlich kann mir das egal sein.“
„Ob du wahnsinnig bist?“ Colin rutschte etwas auf Kei, um sich auf ihn zu stützen und ihn mit dem Kinn auf den Fäusten anzusehen. Um ihm das zu erleichtern, drehte Kei sich ganz auf den Rücken.
„Ja.“
„Wahnsinnig sein ist scheiße,“ entschied Colin gelassen. Mittlerweile hatte er genug damit geflirtet um zu wissen, wovon er sprach. Und er bereute nun, Kei so lange als wahnsinnig bezeichnet zu haben. Ein klareres Bewusstsein als er hatte Colins Erfahrung nach so gut wie niemand.
„Da sind wir uns einig,“ stimmte Kei ruhig zu.
„Warum glaubst du, dass du irre bist?“
„Weil man irre sein muss, um nach unserer Reise nicht durchzudrehen.“
„Bolivien und Brasilien waren schön,“ meldete Colin leise. „Und die Fahrt nach Kuba. So hätte alles bleiben können. Für immer.“
„Ja. Wir reisen einfach bald weiter. Ich kann eh nicht lange an einem Ort bleiben.“
Colin blickte zur Seite. „Was ist mit der Instanz? Die schnappen uns doch sofort.“
„Wir bleiben mit den Leuten hier in Kontakt. Die können uns helfen.“
„...“ Colin schien den Gedanken nicht so super zu finden.
„Hast du ne bessere Idee?“
„Hierbleiben und helfen...“
„Das ist eh der Plan für jetzt. Aber es ist nicht gesagt, wie viele Leute die haben,“ sagte Kei.
„Wer? Dennis oder die Instanz?“
„Beide.“
„Wenn wir die Instanz nicht besiegen können, sind Dennis und seine Leute trotzdem die bessere Wahl,“ sagte Colin. „Sie haben die Ressourcen und die Erfahrung, um uns alle versteckt zu halten. Außerdem mag ich sie.“
„Ich weiß. Ich finde es hier auch nicht schlecht. Aber ich will nicht immer versteckt sein.“
„Solange es die Instanz gibt, müssen wir das aber. Ob mit oder ohne Dennis. Sie kontrollieren ganz Westeuropa,“ gab Colin zu bedenken.
„Vergiss Japan nicht. Und was sie sonst noch kontrollieren, weiß ich nicht.“
Colin nickte. „Darum müssen wir hierbleiben. Allein schaffen wir's nicht, unterzutauchen. Außerdem...“
„Hm?“
„Rupert hat uns angeboten, dass wir hier leben.“
„Ich weiß,“ sagte Kei.
„Ich meine, so richtig, für immer.“
„Ich will trotzdem reisen.“ Keis Heimat würde Japan bleiben. Tokyo. Kein bestimmter Ort. Der Untergrund der ganzen Stadt. Colin sah ihn besorgt an. „Ich kann nicht ewig an einem Ort bleiben,“ wiederholte Kei. Mit etwas traurigem Blick breitete Colin die Arme aus und legte den Kopf auf Keis Brust. „Ich hab nichts dagegen, hier zu bleiben. Ich kann nur nicht ständig an diesem Ort sein.“ Kei war zu rastlos dafür. Er wollte viel unterwegs sein und nicht das Gefühl haben, irgendwo festzusitzen.
„Dennis will dich sowieso einspannen. Dann kommst du rum,“ sagte Colin.
„Ich will auch mit dir rumkommen.“
Darauf konnte Colin nichts entgegnen. Er wollte mit Kei überallhin. Aber mit der Instanz im Nacken...
Die konnte man ja nebenbei vernichten.
Nebenbei.
Kei legte einen Arm wieder locker um Colin. Colin zog sich etwas hoch und stützte sich neben Keis Schultern auf, um ihn sanft zu küssen. Kei erwiderte den Kuss.
„Ich will auch mit dir rumkommen,“ sagte Colin schließlich leise, indem er Kei ernst in die leuchtend blauen Augen sah. „Wenn... später.“
Später. Das war so ein Wort, dessen Bedeutung Kei nicht so ganz geläufig war. Aber er hatte Zeit. Viel davon.
Um seine Arme etwas zu entlasten, legte Colin ein Bein um Kei und kniete rittlings auf ihm. Er sah ihn weiter an. Kei erwiderte den Blick mit einem zufriedenen Lächeln.
„Wollen wir mit dem Unterricht anfangen?“ fragte Colin leise mit etwas verschmitztem Lächeln.
„Unterricht?“ Kei schaute so, als hätte Colin ihm gerade gedroht. Colin musste schmunzeln.
„Du hast versprochen, dich zu bessern. Und ich habe versprochen, dir dabei zu helfen.“
„Achso.“ Kei lächelte. Colin setzte sich auf.
„Also, wir können mit den binomischen Formeln anfangen...“
Kei seufzte. „Dein Ernst?“ Mit sardonischem Schmunzeln und hochgezogenen Brauen neigte Colin leicht den Kopf. „Folter mich doch nicht mit Mathe.“ Kei lächelte. Er ging davon aus, dass Colin das nicht ernst meinen konnte. Nach einem graziösen Schulterzucken beugte Colin sich wieder etwas vor.
„Dann eben Ernst. Die erste Lektion. Sag mir, was du gerade denkst.“
Kei gefiel die Tatsache dass Colin auf ihm saß besser als die, dass er wissen wollte, was er dachte. Zumal das nichts neues war. Doch Colin studierte sein Gesicht und schien auf eine Antwort zu warten.
„Der Tag kann gerne eine Weile so bleiben,“ sagte er schließlich. Er würde Colin seine ganzen Gedanken nie mitteilen, das wollte er auch gar nicht, aber einiges konnte Colin ruhig wissen. Colin schnaubte etwas.
„Komm schon, ganz ernsthaft. Wenn du immer so ein Roboter bleibst, treibst du mich in den Wahnsinn. Bitte.“
Kei wusste nicht so ganz, auf welche Gedanken Colin hinauswollte. „Kannst du nicht gedankenlesen - Nein, das wäre uncool,“ dachte er laut. Colin grinste und winkte ab.
„Egal. Darum geht es jedenfalls. Egal was du jetzt denkst. Du musst - ich kann nicht gedankenlesen, darum musst du mir zwischendurch davon erzählen. Dein Gesicht ist diese perfekte No-Maske...“
„Aber nur manchmal,“ entgegnete Kei mit leichtem Lächeln. Colin nickte. Er sprach leise weiter.
„Manchmal. Wenn dir etwas durch den Kopf geht, das ich wissen soll. Oder wenn es einfach wichtig ist. Oder lustig. Verstehst du? Sonst weiß ich vielleicht nicht, was los ist.“
„Ja, wenn es wichtig ist.“ Keis Verständnis von mitteilungswürdig wich wahrscheinlich sehr von Colins ab.
„Und? Jetzt ist es wichtig. Was fühlst du gerade?“
„Ich bin ein bisschen besorgt und ein bisschen gelangweilt.“
Mit einem frustrierten Stöhnen richtete Colin sich wieder auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Das würde ein langes, hartes Stück Arbeit werden.
Kei musste lachen.
„Lach nicht, du Idiot. Ist für dich alles nur ein Witz?“ Colin wirkte genervt, aber nicht so richtig wütend.
„Dann hätte ich immer gute Laune.“
Colin schnaubte etwas. „Und warum hast du die nicht? Idioten sind doch eigentlich immer glücklich.“
„Weil ich kein Idiot bin... also nicht immer.“
„Oh, verzeih,“ sagte Colin mit leichtem Augenrollen, „sah von hier aus so aus.“ Er wusste, dass er unfair war, aber seine Ungeduld ließ ihn Dinge tun, die sein nackter Verstand nicht guthieß.
„Pff.“ Kei drehte sich einfach unter Colin um, sodass er auf dem Bauch lag und Colin von ihm herunterklettern musste, um nicht mit umzukippen.
„Es tut mir Leid, entschuldige,“ versuchte Colin beschwichtigend.
Es klopfte an der Tür.
„Is offen,“ brummte Kei.


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