Friday, January 8, 2016

Yid


Merder in a schoib
(Jiddisch; Mörder in einer Scheibe/Fenster/Ausschnitt)

Ich gab mir nun keine große Mühe mehr, nicht zuviel vergilbten Gardinenstoff zu berühren, als ich am Fenster stand und schräg hinunter auf die glänzende Gasse blickte. Es hatte immerhin keinen Sinn, zimperlich zu bleiben, wenn man bereits in diesem jahrzehntealten fleckigen Bett geschlafen hatte. Der Geruch meines eigenen Körpers und meines Duftwassers prägte diesen Raum nun mehr als der Schimmel, der Regen und der Kohldunst aus dem Schankraum unter mir. Solange dort unten Betrieb herrschte, brauchte man auch nicht auf das verdächtige Knistern hinter dem Bett und in den Wänden zu achten. Man gewöhnt sich an die meisten Dinge, und was meine Aufmerksamkeit ohnehin mehr beanspruchte als Insekten hinter der Tapete, war das regennasse schwarze Kopfsteinpflaster unter mir, und seine scharfe Biege um die Hausecke, die ich gerade anstarrte. Im Nachhinein ist es verblüffend, wie schwarz Weiß in der Nacht aussehen kann, wie sehr Schwarz glitzern kann, wenn es geregnet hat, und wie scharf und geordnet alles in Stille wirkt. Aber als ich mein Leben mit Spähen und Flüchten verbrachte, hatte ich wenig Sinn dafür. Bewahrt hatte ich mir nicht die alte Art zu denken, sondern allein Haltung. Contenance, Kühle, Vernunft, und Haltung. Oder das, was ich dafür hielt. In Wirklichkeit muss ich einfach nur kalt gewesen sein. Wieso auch nicht? Mitgefühl und Liebenswürdigkeit hätten weder mir noch jemand anderem etwas genützt.
Ein Kind schrie... in einem langgezogenen, unmenschlichen Jaulen, das wie der altbekannte Fliegeralarm anschwoll, höher und wieder tiefer wurde, bis mir einfiel, dass es sich ebensogut um eine rollige Katze handeln konnte. Sie heulte so schmerzvoll, so zumindest klang es, als gehöre sie zu unserer Spezies.
Es hätte nichts gebracht, das andere Ende der Straße zu beobachten. Das Licht der einen Gaslaterne in dieser Gasse reichte nicht bis dorthin, und so hätte ich den Schatten ohnehin nicht kommen sehen. Dessen war ich mir bewusst gewesen. Als er dann kam, schloss ich die Augen und horchte auf die Stimmen in dem Raum unter mir. Sie verstummten.
Ich öffnete langsam die Augen und ging zum Bett, wo mein Mantel, Hut und Musterkoffer bereitlagen. Während ich ruhig den Mantel anzog, knarrte eine Treppenstufe. Ich blickte zur Tür, den Koffer in der Hand, setzte mir den Hut auf, und ging zurück zum Fenster. Lautlos schob ich die Gardine beiseite und legte meine Hand auf den Fenstergriff. Als der Knauf meiner Zimmertür sich zu drehen begann, öffnete ich das Fenster weit.
Der sich öffnende Spalt ließ einen gelben Stich auf die Bodendielen fallen, in dem zum Takt von Stiefeln schwarze Würmer tanzten. Ich warf nur einen kurzen Blick darauf und stieg auf das Fensterbrett. Dann brauchte ich nichts weiter zu tun, als zum Sprung anzusetzen, die Arme auszustrecken, und mich dem plötzlich aufkommenden Wind anzuvertrauen. Er riss mich donnernd aus dem Fenster, zog mich über das matt glänzende Dach des gegenüberliegenden Hauses, und hob mich durch Nebel, Wolken, die alle Geräusche verschluckten, zu den Sternen, und so weit in den Himmel, dass es so dunkel wurde, dass mich fror, und ich das Bewusstsein verlor.
Ich blickte zur Tür, den Koffer in der einen Hand, den Hut in der anderen, und sah zum Fenster. Einen Moment lang hatte ich gedacht, ich könne fliegen.
Verrückt.
Aber es konnte ja niemand ahnen, dass mich nur eine Salve bis auf das nächste Dach tragen würde.



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