Saturday, February 6, 2016

Kei + Colin LXIV: Getrennte Wege



„Wir haben Blättchen, große sogar. Aber keine Filter. Und Tabak nur, wenn du eine Zigarette opferst.“ Akira begann, gelassen rückwärts zum Haus zurückzuschlendern. „Und wenn du das tätest, hätten wir auch einen Filter.“ Er zwinkerte.
„Das dürfte nicht allzu schwer sein.“ Kei schlenderte ihm nach. In seinem Kopf meldete sich das Bedürfnis nach Tod und Blut.
War das alles, was nötig war, ein ‚Gespräch‘? überlegte Akira auf dem Weg durch den Garten, den finsteren Flur und das ebenso finstere Sofazimmer, wo er die Utensilien auf dem Boden liegengelassen hatte. Wenn ich die nächste Panikattacke oder so kriege, weiß ich also bescheid. Einfach den Wahnsinnigen belästigen.
Kei baute zwei Joints nachdem er sich auf das Sofa gesetzt hatte und reichte einen seinem Freund. Akira hatte, so gut es ihm in der Schwärze des Raumes möglich war, augenzusammenkneifend, beim Bauen zugeschaut und nahm nun den Joint vorsichtig entgegen. Er tastete auf dem Boden herum und fand das Feuerzeug, das er dem Peruaner abgenommen hatte.
„Es war wirklich ein Glück, dass wir an der Grenze nicht kontrolliert wurden. Ich hatte da ganz vergessen, dass ich das Zeug in der Tasche hatte.“
„Der hätte uns nicht kontrolliert.“ Kei war fest davon überzeugt, auch wenn er noch nicht wusste, weshalb. Er fingerte sein Zippo aus der Tasche und zündete den Joint an.
Drogen. Das war sehr lange her. Zumindest die menschliche Art von Drogenkonsum. Sie hatte ihm nicht viel an, die Effekte waren immer schwach gewesen.
Akira röstete seinen erst ein bisschen in der Flamme des Feuerzeugs, wie er es Leute auf dem Freakfest hatte tun sehen, bevor er ihn anzündete und zog. Das Kitzeln in seinen Bronchien war gerade noch erträglich, oder eher nicht, aber er schaffte es trotzdem, den drohenden Hustenanfall zu unterdrücken und atmete den Rauch durch die Nase wieder aus.
„Vermisst du etwas?“ Seine Stimme klang unterdrückt, weil er noch gegen das Kratzen ankämpfte.
„Aus dem Leben?“
Ja... Das Leben selbst. Er wollte seinen Herzschlag zurück und spüren was um ihn herum los war. Er hatte keinerlei Empfindungen, wenn er tot war. Nur das dumpfe Verlangen nach Blut.
Akira winkte ein bisschen ab. „Aus Japan. Von zuhause.“ Er selbst vermisste da so gut wie alles. Er vermisste sogar Dinge, die überhaupt nicht passiert waren, wie die Hochzeit seiner Eltern, das Wiedersehen mit seinem Vater und ganz viele Dinge, die er mit Kei hatte machen wollen. Normale Dinge.
„Meine Gitarre.“ Mein ganzes Leben. „Leute, die meine Sprache sprechen...“
Akira faltete seine Beine in den Schneidersitz und streckte seinen Rücken. Der Rauch nagte nun nicht mehr so in ihm, sondern bedeckte die Kapillaren eher mit einer angenehm weichen Schicht, die ihm auch gleich zu Kopf stieg. Es war sehr angenehm.
„Wir sind in Chile. Hier gibt es Gitarren. Wir sind in Chile, Mann. In Chile. Wir werden Straßenmusiker in Santiago.“
Er hatte keine Ahnung, warum er jedes dritte Wort gesondert betonte, aber nun, da er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass sie es hiermit doch ganz gut getroffen hatten. Chile... echt gut eigentlich.
„Wir sollten uns einen Platz zum Bleiben suchen. Dieser hier ist nicht so besonders,“ erwähnte Kei beiläufig und zog an dem Joint, der seine Wirkung bei ihm ziemlich verfehlte. Jetzt wusste er wieder, aus welchem Grund er so selten Drogen nahm.
Kippen zählten nicht.
„Und eine Nagelschere...“ murmelte Akira, der ohne besonderen Grund seine Hände inspiziert hatte. Nun zog er wieder beherzt an seiner Tüte und wankte im Sitzen. „Es muss ein schönes Haus sein, mit Säulen vorne dran und einem Pool!“
Kei gefiel der Gedanke eines Hauses mit Pool. Das wäre ein großes Haus und am besten wohnten sie dort allein. Dann konnten sie unbehelligt leben wie sie wollten. Kei lag relativ viel daran vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Akira verlangte das nicht von ihm und das war sehr gut. Der Vampir schätzte das sehr. Das Unterwegssein gefiel ihm auch. Aber das Schlafen auf Feldern und in Bruchbuden lag ihm nicht besonders.
„Ein Pool wäre gut, ja,“ stimmte er seinem Freund zu. Da gab es nur ein Problem. Hier würden sie für alles selbst aufkommen müssen...
Wobei... Das war nicht wirklich ein Problem.
„Wo gehen wir dafür hin... Brasilien? ... Jamaicaaaa...“ Akira legte sich auf den Boden, die Beine immer noch gekreuzt.
„Ist mir egal...“ Er amüsierte sich stumm über Akiras berauschten Zustand. Jamaica... Vielleicht. Ihm war es egal, wohin es ihn verschlug. Zeit hatte er genug. Das war eines der wenigen Dinge, von denen er sich sicher war. „Wir können überall hingehen,“ fügte er noch hinzu und zog an seinem Joint.
„Aber zuerst...“ In Zeitlupe wedelte Akira mit seiner freien Hand vor seinem Gesicht herum. „... nach Santiago... ich will nach Santiago... Wusstest du, dass es in Argentinien eine Stadt namens El Turbio gibt? Das ist so cool.“ Akiras Stimme und Aussprache klangen so dunstig, wie er sich fühlte.
„Was ist da so besonders dran?“ Fragte Kei leise und lehnte sich an das Sofa, vor dem er sich niedergelassen hatte. Er war nicht besonders lang darauf sitzen geblieben. Der Vampir bevorzugte den Boden als Sitzgelegenheit.
„Santiago ist die Hauptstadt.“
„Dann los. Fahren wir nach Santiago,“ schlug Kei vor und blies Rauch nach oben. Hier wollte er nicht bleiben, es war als wären sie auf der Flucht. Und der Vampir wollte nicht weglaufen, sondern einfach hin, wo er wollte, nicht weil er musste.
„Jaa...“ Akira zog wieder und ließ dann den Arm wieder auf die staubigen Dielen fallen. Der Joint fiel ihm aus den Fingern und verbrannte etwas Staub, glomm aber nur ein paar Sekunden lang, ehe irgendetwas die Glut erstickte.
„Wie fühlst du dich, wenn du tot bist?“ fragte Akira lächelnd an die finstere Zimmerdecke.
„Tot.“ Keis Erklärung war keine, aber das traf es am besten. Tot. Das war alles. Er rauchte den Joint auf und stand langsam auf. Ihm machte das nichts aus, aber er wusste nicht, ob Akira überhaupt fahren konnte. Schließlich kannte er sowas kaum. Der Vampir war fast immer klar im Kopf. Es gab nicht viel, das seine Sinne benebeln konnte. Blut und Akira. Das war alles.
„So leicht – wie ein Gespenst? Wie ein Fetzen Seide oder so...“ Akira wedelte wieder langsam mit einer Hand in der Luft, hin und her, wie ein Stück Seegras unter Wasser, zum Illustrieren seiner Beschreibung. „Ganz ruhig und gelassen, unberührbar. Und friedlich.“ So hatte er sich gefühlt, am Anfang, wenn er tot war. Er tat es immer noch. Tot sein bedeutete für ihn ein Zustand sehr angenehmer Gleichgültigkeit.
„Gleichgültig, aber nicht wie auf Drogen oder so, sondern einfach so, als ob alles egal ist.“ Alles außer Blut. Tot war für Kei fast egal. Es war so, als lebte er noch, nur ohne jegliche Gefühlsregung. Tot eben.
„Alles egal?“
„Ja.“ Kei schlenderte zum Fenster.
Akira reckte seinen Kopf ein bisschen und sah Kei zu. Nun sah er ihn auf dem Kopf. „Bist du jetzt tot?“
Der Vampir ging im Raum umher. Am Fenster gab es nichts zu sehen, da es verrammelt war. Das einzige, was es hereinließ waren kleine Lichtstrahlen durch Spalten und Löcher in den Brettern. „Ja.“ Er ging zu Akira und blieb neben ihm stehen. „Jetzt nicht mehr.“
Akira schmunzelte und lachte ein wenig. „Ich auch nicht. Wenn du weit genug entfernt bist, fühlst du dann nichts mehr?“
„Fast nichts,“ erklärte Kei. Mordlust und Blutdurst waren da. Aber die waren immer da.
Akira lächelte sanft zu ihm hinauf. „Fast nichts. Was fühlst du dann?“
Konnte man das Gefühl nennen? „Da ist immer ein Durst nach Blut.“ Und Töten bereitete ihm auch tot Spaß.
„Ehrlich, das ist alles?“ Akira klang friedlich und amüsiert.
„Ja. Mehr ist da nicht mehr.“
Kei war ruhig und stand neben seinem Freund. Der studierte ihn genau, und richtete sich ein wenig auf, um rückwärts über den Boden zu krabbeln.
„Das heißt, wenn ich weit genug weg bin... so,“ sagte er, als er mit der Schulter in ein paar Metern Entfernung am anderen Ende des Raumes die Wand berührte. Er setzte sich auf und lehnte sich mit dem nackten Rücken an die staubige, zerrissene Tapete. „Jetzt liebst du mich nicht mehr,“ sagte er schlicht. Leise und friedlich.
Kei schaute leicht amüsiert und musterte seinen Freund gelassen. Da war tatsächlich gar nichts mehr. Nur sein Körper, der langsam abkühlte.
„Da ist gar nichts,“ sagte er ruhig.
Akiras Herz hatte die ganze Zeit in Zeitlupe weitergeschlagen, und nun stolperte es ein paarmal über sich selbst. Sein Gesicht wurde warm.
„Nichts? Nur Blut,“ flüsterte Akira. Diesmal klang er irgendwie ergriffen. Seine Augen waren nun geweitet, wie vor Schreck.
Kei musterte ihn genau. Nickte einmal kurz, während er sein Zeug in den Rucksack steckte, neben dem er sich niederließ.
Mit aufgestellten Beinen beobachtete Akira ihn und konnte in der Dunkelheit natürlich nicht besonders viel erkennen. Auch, dass nun Wasser aus seinen Augen lief, half dabei nicht. Er atmete, aber so als ob er es möglichst leise zu tun versuchte.
Er hat schon Recht. Ich würde mich jetzt auch nicht mehr lieben.
Kei beschloss, Akira keine Drogen mehr zu geben und schaute ihn an.
„Du solltest kein Gras rauchen.“ Was geht in deinem Kopf vor?
„Warum nicht? Es ist schön.“ Bin ich so nicht erträglicher? Was würde ich jetzt machen, wenn ich nicht high wäre? Ich würde wahrscheinlich weglaufen und mich mit Absicht umbringen. Er blinzelte ein paar Tränen weg, die sich angesammelt hatten und daraufhin herausliefen um sein Kinn hinunterzutropfen.
Kei hatte keine Lust, jetzt mit Akira zu diskutieren. Er blickte mittlerweile leer durch den Raum. Er begann mit dem Messer zu spielen, das er in einer seiner Hosentaschen trug.
Als er es nicht mehr ertrug, Kei anzusehen, blickte Akira sich um und fand einen großen, verbogenen Nagel und einen dicken Flaschenboden aus Glas in Reichweite. Beides nahm er in die Hand. Auf dem Glas war eine schmierige Staubschicht, und mit dem Nagel kratzte er ein Muster hinein.
Der Vampir musterte mal Akira mit leeren Augen und mal sein Messer. Er wollte hier weg. Dies war kein guter Ort.
„Kommst du mit? Ich will hier nicht bleiben,“ sagte er irgendwann und stand wieder auf.
Akira war es egal, wo er sich befand. Er wollte bei Kei sein, aber das schien nun kein guter Grund mehr zu sein. Er schüttelte den Kopf.
Mach das nicht... Kei kommentierte das nur mit einem „Wenn du meinst... Ich fahr jetzt.“
Fünf Minuten später war er unterwegs. Richtung Santiago.

Akira fragte sich stumpf, ob Kei nur einen Ausflug machte, um dem Lagerkoller zu entkommen, oder ob er tatsächlich allein weitergefahren war. Dass er seinen Rucksack mitgenommen hatte, ließ das vermuten, und da Akira ihm offenbar egal war, schien der Gedanke überhaupt nicht mehr abwegig zu sein.
Als Akira sich selbst satt hatte, vielleicht eine halbe Stunde oder so später, und auch seine Beine wieder bewegen konnte, legte er sich auf das Sofa und schlief ein.


GETRENNTE WEGE

Kei fuhr eine ganze Weile die Straße entlang und fragte sich, was er eigentlich gerade getan hatte und vor allem warum. Er fuhr stundenlang, bis er zum Tanken anhielt. Super Idee ohne Geld. Der Tankwart endete tot in der Ecke und Kei leerte die Kasse. Dann ging es weiter. Aber nicht lange, denn bei Taltal hielt ihn eine Straßensperre auf.

Akira war durch den Rest der Nacht und den größeren Teil des Morgens gekommen, ohne sich umzubringen. Er war zwar wieder ohne Kontrolle über seinen Körper aufgewacht, aber es fiel ihm überraschend leicht, ihn wieder in Besitz zu nehmen. Später beschloss er, dass das an dem Gras liegen musste, denn sein Kopf fühlte sich auch nach dem richtigen Aufwachen noch weich und pelzig an.
Dass Kei nicht zurückgekommen war, ließ seinen Brustkorb etwas zusammenschrumpeln und trieb ihm noch einmal Tränen in die Augen, aber er war fest entschlossen, nicht zimperlich zu sein und nahm diese Gelegenheit als Herausforderung wahr, selbstständiger zu werden.

Im Morgengrauen hielt Kei an der Straßensperre.
Fuck... Einer der Beamten erzählte von einem Überfall auf eine Tankstelle, soweit Kei ihn verstand, und dass sie einen Motorradfahrer suchten, der kurz vor dem Überfall an der Tankstelle gesichtet worden war. Kaito verneinte ihn zu kennen oder dort in der Gegend gewesen zu sein. Einer der Beamten musterte den jungen Japaner eindringlich.
„Es gibt nur eine Straße von hier bis zum Tatort,“ rief er ihm ins Gedächtnis, woraufhin der Vampir ihn einfach nur ansah.
„Ich war nicht dort, Sir, und ich würde jetzt gern weiter...“ Drei... zwei... eins...
Kaito griff hinter sich. „Lass mich durch, Arschloch!“ Der Polizist griff seine Waffe, doch bevor er diese berührte, hatte er drei Kugeln in der Brust und der Vampir mindestens fünf bis aufgehört wurde auf ihn zu schießen.
Die Polizisten lagen alle am Boden und er war wieder auf dem Weg. Und jetzt suchen sie mich... Versucht's doch...

Während Akira am frühen Nachmittag vor einem Elektrogeschäft stand und einen Burger aß, den er sich von gestohlenem Geld gekauft hatte, vergaß er für eine Weile das Beißen und Kauen, während er auf einen der Fernsehschirme starrte, der Nachrichten zeigte.
Er war wirklich weg. Er war schon auf halbem Weg nach Santiago. Und Leichen pflastern seinen Weg, natürlich. Nach dem stummen Wetterbericht drehte Akira sich weg und aß langsam zuende. Als er wieder bei dem abbruchreifen Haus angekommen war, wusste er, was er als nächstes zu tun hatte.

Kei nahm Nebenstraßen für seinen weiteren Weg, was sein Fortkommen erheblich erschwerte, er begegnete mehr Menschen und ließ weitere Leichen zurück, bis er irgendwann in Santiago ankam. Sein erster Kontakt in der Stadt war ein Polizist. Was denn auch sonst. Wo kommen die alle her? Kaito fragte ihn nach dem Weg zum nächsten Motel und gab ihm einen Tipp, wo er nach dem Mörder suchen sollte. Drogengang. Er hatte sie mit Pistolen und einem Motorrad ein Stück die Straße rauf gesehen, die er gekommen war.

Ungefähr um die gleiche Zeit stand Akira von seinem Sitz auf, um sich aus dem Fenster zu hängen und La Paz in der untergehenden Sonne zu sehen, während der Zug darauf zufuhr. Die Grenzkontrolle hatte kein Visum sehen wollen. Sein US-Pass hatte gereicht, und die Tatsache, dass er eine Fahrkarte für die erste Klasse besaß. Oder es war den Männern mit den Hunden einfach nur egal gewesen. Sie hatten niemanden sehr genau kontrolliert, allerdings hatten in Akiras Abteil zu dem Zeitpunkt auch nur noch drei andere Menschen gesessen.
Er hielt die Nase in den staubigen Wind, bis seine Locken zu einer wilden Sturmfrisur geworden waren, und schloss dann das Fenster wieder. Der dicke Mann im Anzug zwei Bänke weiter hatte sich außerdem über den Lärm und den Luftzug beschwert.

Kaito hatte sich in einem kleinen Motel niedergelassen und verfolgte die Nachrichten, die er nicht verstand. Da es Abend wurde, beschloss er, sich die Stadt einmal anzusehen, in die er gefahren war. Er ging einfach los und lief ziellos durch die Straßen.

Akira tat das gleiche in La Paz, nachdem er sich von seinem geborgten Batzen ein Zimmer in einem mittelmäßigen Hotel besorgt hatte.
Auf einer Grünfläche, die vielleicht ein Park sein sollte, wagte er es, im Licht einer hübschen Straßenlaterne, seine Geige auszupacken und etwas zu spielen. Bereits vor der Abfahrt in einem Badehaus in Arica hatte er sich die Fingernägel gestutzt, aber zum Spielen hatte er noch keine Gelegenheit gehabt.
Während er so in allem versank, woran sich seine Finger von Albinoni und Vivaldi erinnerten, warfen ihm ein paar Menschen Geld in den offenstehenden Kasten.

Kei ging auf ein Rockkonzert, das er durch Zufall gefunden hatte und schaffte es, den Gitarristen für einige Minuten um sein Instrument zu erleichtern und spielte den Menschen ein bisschen Musik aus seiner Heimat vor.

Akira spielte auch das Stück für Kei und kam irgendwann bei Volksmusik aus seiner Kindheit an.
Als die zweite Nachthälfte längst angebrochen war und er aufhörte, nahm er verwundert die Münzen und Scheine aus seinem Kasten. Er hatte gehört, wie Münzen hineingeworfen worden waren, aber so viele? Er wusste nicht, wieviel oder wie wenig diese Geldmenge wert war. Es kam ihm nur viel vor. Auf einer Bank, die im Halblicht unter einer weiteren Laterne stand, saß ein bärtiger Mann und rauchte Zigarre. Er schien herüberzusehen und hob eine grüßende Hand. Akira grüßte zurück, während er seinen Kasten schulterte. Ein paar Bänke weiter lag jemand zwischen Zeitungspapier herum. Diesen Mann steuerte Akira an.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, nahm Akira ein Blatt Zeitung von ihm herunter, legte es auf den Boden, und schüttete langsam die Münzen und Scheine der Passanten darauf. Dann wickelte er das Papier zusammen und legte es neben den Kopf des Mannes auf die Sitzfläche.

Kei spielte in der Konzertpause einfach drauf los, während seine Gedanken zu Akira schweiften.
Raus aus meinem Kopf... Los, verschwinde wieder...
Irgendwann spürte er sein Herz zu schlagen beginnen. Fuck... Kaito ging irgendwann nach draußen und brachte ein Drogengeschäft zum Platzen. Die Beteiligten schossen ihn zusammen. Der Vampir war nur mit einem Messer bewaffnet und richtete ein Massaker an. Ein großes. Blutiges. Er wollte gerade nicht leben.

Nach einem interessanten Gespräch mit dem Zigarrenmann begab Akira sich in sein Hotel und legte sich dort mit hellem Zitronenbier, das er in der Minibar gefunden hatte, erst in die Badewanne und dann auf das Bett, und dachte nach.
In den Nachrichten – er verließ sich nicht nur auf den Fernseher sondern fragte auch Leute, wie den bärtigen Zigarrenmann – hatte er keine Hinweise auf Kei mehr gefunden.
Er kommt schon klar. Er kommt immer klar. Ich bin der, der nicht allein zurechtkommt. Und das hat ihn vergrault. Also...
Als er doch irgendwann, als die Sonne längst wieder aufgegangen war, eindöste, tat er das mit schmerzenden Gedanken an Kei.

Kei hatte sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, bevor er sich in das Motel zurückbegab und seine Zeit damit verbrachte, an die Decke zu starren.
Wo bist du gerade?

Tatsächlich schlief Akira ein wenig, bis zum Mittag, um dann am Nachmittag das zu tun, worüber der Zigarrenmann mit ihm gesprochen hatte.
Nach einem langen Spaziergang durch Stadt – mit einigem Verlaufen und kurzen Gesprächen mit Einheimischen, die sich auskannten – fand Akira die Adresse. Es war ein großes, gläsernes Bürohochhaus, wie es sie überall zu geben schien. Trotzdem war es voller Spuren von Südamerika. Die Einrichtung, wie der Teppich auf den Fluren, war bunt gemustert, es standen überall Planzen mit dicken, großen, glänzenden Blättern und leuchtenden Blüten in Tontöpfen und Körben, die mit sehr detaillierten Mustern bemalt waren, und die Menschen, die hier unterwegs waren, waren alle irgendwie braun. Und auf der Etage, in die er sich begab, sehr bunt und modisch und laut.

Kaito vertrieb sich die Zeit mit sinnlosem Zeug. Er hatte einfach nichts zu tun. Am Nachmittag klopfte jemand. Die Polizei. Einer von ihnen hielt ihm eine Waffe an den Kopf.
„Was wollt ihr?“ fragte er gelassen, woraufhin ihm erklärt wurde, dass er festgenommen sei. Wegen Mordes. „Ihr könnt mich mal -“ Kei wurde durchsiebt, als er den Beamten den Rücken zuwandte. Er brach zusammen, nachdem ihn eine Kugel ihn in den Brustkorb getroffen hatte.

Gleichzeitig stand Akira neben einem Klavier. Seine Violine hatte er schon benutzt und auf einem Tisch abgelegt. Nun wollten sie noch wissen, was er sonst noch konnte.
„... If you want to, I can save you,
I can take you away from here –
So lonely inside, so busy out there,
And all you wanted was somebody who cares...“
Es schien ganz gut zu laufen, aber er war trotzdem verdammt nervös.

Kei lieferte sich eine Schlägerei mit den Pseudobullen in der Tür, bis er nicht mehr kämpfen konnte.
„Was... zum...?“ Seit wann bitte ballerte die Polizei ohne Provokation so großzügig um sich?
... Als er wieder zu sich kam, lag er gefesselt auf dem Boden eines großen, leeren Raumes.
Das waren nie im Leben Bullen gewesen...
aber wer dann?
Der Vampir befreite sich von den Fesseln und stellte dabei fest, dass diese Leute ziemlich dumm waren. Das Klebeband war sehr einfach zu lösen und sein Rucksack lag in der anderen Ecke des Raumes.
„Tzz, Idioten...“
Verdammt... Wo bist du?
Der Japaner sah sich um. Bald darauf fand er die Tür und verschwand wieder. Eine einfache Verriegelung hatte ihm nichts entgegenzusetzen.

Die Frau mit den großen Ohrringen, die sehr gut Englisch sprach, versicherte ihm, dass sie das mit den fehlenden Papieren schon regeln würden. Das seien alles nur Formalitäten und der Manager würde sich schon um all diese Dinge kümmern.
Angel E. Wallace unterschrieb an diesem Morgen also drei Verträge, direkt nacheinander. Der eine war für einen Agenten. Der zweite für die Anstellung und das Coaching. Der dritte sollte das Album, Werbung und öffentliche Auftritte regeln.
Colin. Akira. Angel.
Diese Leute waren schon gestern beim Vorspielen und -singen von seinem Namen begeistert gewesen und wussten schon genau, wie sie ihn vermarkten würden.

Als Kaito nach draußen ging, stellte er fest, dass es Morgen war und erstaunlicherweise keine Leute zum Bewachen da waren. Er ging mit seinen Sachen auf dem Gelände herum.
Was waren das gestern für Typen...? Der Vampir wusste nicht, wo er war. Den nächsten Passanten fand er erst nach einer guten Stunde und was der ihm sagte, gefiel ihm gar nicht. Er befand sich nicht mehr in Santiago.

„Angel Wallace. Yes.“ Akira nickte und ließ sich von der Frau skeptisch begutachten, die ihn irgendwo abhakte oder notierte und lauter Mist an einem Computer machte, bevor sie ihn durch das Haus führte, einige Räume zeigte, und schließlich im Flur der ersten Etage eine Tür öffnete.
„This is your room. We don't have many candidates now, so you don't have to share. The second bed is only ever in use when we accommodate groups, you know?“ Sie lächelte freundlich. „You have another appointment at two, don't you?“ Akira nickte. Er sollte mit seinem Agenten Mittag essen und dann Kleider kaufen und zu einem Frisör.

Kei erfuhr, dass er sich nahe der Grenze zu Bolivien befand. Er schaffte es einige Zeit später, einen Wagen anzuhalten und ließ sich mitnehmen. Egal wohin. Der Mann wollte wissen, warum Kaito ein Schwert mit sich herumtrug und bekam die Antwort, dass es ein Erbstück sei.

Akira bekam eine komplette Garderobe und eine Auffrischung seiner tiefroten Haarfarbe geschenkt – oder vielmehr vorgeschossen, denn letztendlich musste er ja mit seiner Arbeit dafür aufkommen – und am Abend lernte er im Haus noch mehr Leute in ähnlicher Situation wie seiner kennen.

Kei machte den Tag über eine kleine Reise, weil er nicht wusste, wo er hinsollte. In die nächsten größere Stadt - er wusste nicht mehr, wo er eigentlich war und es interessierte ihn auch nicht. Zu Fuß erkundete er die Innenstadt. Am nächsten Musikladen hielt er an, sah sich das Schaufenster an und dachte nach.

Akiras Nacht in seinem schicken Plattenfirmenzimmer war unruhig. Sie begann schlaflos, und als irgendwann zwei Mädchen hereinkamen, wurde sie zu einer Pyjamaparty. Glücklicherweise waren diese beiden jungen Frauen als angehende Popstars genug von sich selbst eingenommen, dass Akira nicht viel von sich preisgeben musste, da sie genug über sich selbst redeten. Er hätte nicht gewusst, was er hätte sagen sollen. Und nachdenken wollte er darüber auch nicht. Nachdenken führte in Keis Richtung. Das führte zu Gefühlen, die er ignorieren musste. Nur wenn er Geige spielte oder sang, konnte er sie für sich nutzen, zu jeder anderen Zeit waren sie gefährlich.
Er ließ die Mädchen also reden, steuerte ab und zu einen Kommentar bei und starrte ansonsten den fast vollen Mond vor seinem Fenster an.

Die Nacht verbrachte Kaito auf der Straße mit ein paar Jungs, die in einer durchlöcherten Tonne ein Feuer gemacht hatten und spielte Lieder auf der Gitarre von einem von ihnen. Er gab eine traurige Ballade zum besten. Die Verständigung untereinander war schwierig, denn keiner von ihnen sprach wirklich gutes Englisch.

Der nächste Tag sah für Akira Coaching von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends vor, sowie Spanischunterricht um halb acht abends. Letzterer fand als einziges nicht auf diesem eingezäunten Grundstück in diesem idyllisschen Stadtteil von La Paz statt, sondern in der Innenstadt. Er fuhr selbstständig mit dem Bus dorthin.

Kaito blieb eine Weile bei den Straßenjungs und ging dann weiter. In einer Bar erfuhr er, wo er gelandet war - in Bolivien, nahe der Grenze zu Chile. Auch dort waren seine Polizeimorde in den Medien. Man suchte nach ihm. Nur wusste keiner, wer er war und das war gut so.
„Weißt du, wo man hier schlafen kann?“ erkundigte er sich beim Barmenschen. Er sollte einen Typen namens Jack fragen, der hätte sicher was und das tat Kaito auch, nachdem er den Mann in derselben Kneipe gefunden hatte.
„Klar... hab ich einen Schlafplatz für dich. Wenn du mir wenigstens deinen Namen verrätst?“ fragte Jack, nachdem er mit Kaito vor die Tür gegangen war.
„Kageyama, Kaito.“
Die beiden unterhielten sich auf dem Heimweg eine Weile, über Geld und Konditionen, und das eine oder andere an persönlicher Information. Kei gab nicht viel von sich preis, fast nichts. Aber er hatte einen Platz wo er vorerst bleiben konnte.


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