Friday, February 5, 2016

Kei + Colin LXII: Die Panamericana


| Clannad - Na Laethe Bhi |


Wenige Minuten später war das Herz komplett verspeist und Akira streichelte eine Wange der Leiche. Beim Aufstehen fiel ihm die Plastiktüte mit dem trockenen grünen Pflanzenmaterial auf, die der Mann beim Sterben schon in der Hand gehalten und dann fallengelassen hatte. Er hob sie auf und fand in der anderen Innentasche noch große, feine Blättchen und ein generisches Feuerzeug. Das steckte er alles in seine Bauchtasche.
Gras wird geteilt,“ sagte Kei schmunzelnd. Er zog die Leiche ein Stück weiter hinter das Haus, sodass man sie nicht gleich sah, wenn man die Gasse betrat. Danach ging er zu Akira und küsste ihn. Blutig und eifrig erwiderte er den Kuss. Der Standardbefehl Fleisch in seinem Gehirn verschwand noch nicht, sondern formte sich nur sachte um, in Fleisch mit etwas anderem Unterton. Trotzdem schaffte er es, seine blutigen Hände von seinem Freund zu lassen. Es reichte, wenn er ihm das Gesicht einsaute. Grinsend leckte Kei dem Kleineren das Blut von den Lippen. Es störte ihn nicht, Blut im Gesicht zu haben.
Allerdings störte es Akira allmählich, Kei im Gesicht zu haben. Seine Zunge funktionierte etwas zu gut und hatte seinen Puls wieder gestartet, der nun zu rasen begann und sein eigenes Blut an eine Stelle pumpte, die er gleich zum Motorradfahren brauchen würde. Nach einer Weile kam Kei von selbst darauf, dass sie besser schnell abhauen sollten und ließ von seinem Freund ab. Mit einem etwas enttäuschten Geräusch wankte der etwas rückwärts.
„Wir müssen los. Bevor hier einer langkommt,“ meinte Kei und ging zurück zu den Motorrädern. Sie konnten der Straße folgen, weiter nach Süden. Das zumindest hielt Kei für eine gute Idee. Er wollte weg aus Lima. Die Stadt und ihre Bewohner gefielen ihm nicht und seit dem Vortag noch weniger.
Ja,“ hauchte Akira abwesend und ging auf die Straße, ohne sich nach Passanten umzusehen. Seine Hände und sein Gesicht versuchte er nicht zu verstecken, daher war es reines Glück, dass nun zufällig niemand nah genug kam und in seine Richtung blickte. Er tastete nur kurz auf seinen Rücken, um sicherzugehen, dass der Rucksack noch da und der Geigenkasten noch daraufgeschnallt war, ehe er auf Gnome stieg, den Ständer wegtrat und den Motor startete. Kei folgte seinem Beispiel, nachdem er sich die Sonnenbrille aufgesetzt und seine Kapuze ins Gesicht gezogen hatte. Unter der Lederjacke sah es aus, als hätte sein Körper etwas mehr Masse, als es in Wirklichkeit der Fall war. Er fuhr los, die Straße runter, tiefer in die Stadt. Der schnellste Weg aus ihr hinaus führte mitten hindurch. Der Vampir fühlte sich ein wenig wie ein Tourist.
Während der langsamen Anfahrt setzte sich Akira wieder die Kapuze auf, aber die Sonnenbrille hätte seine Sicht zu stark geschwächt, um nachts zu fahren, also ließ er sie weiter vom Kragen baumeln.
Wo die Straße leer und breit genug war, fuhren sie nebeneinander oder versetzt hintereinander. Akira fragte sich, wie weit außerhalb der Stadt diese Straße beleuchtet sein würde. Vielleicht war sie wirklich gut, wenn sie die breite Schnellstraße nahmen, die die Sattelschlepper benutzten. Kei entschied sich ohne jegliche Absprache dafür. Das brachte sie aus der Stadt und aus der Sicht von Anwohnern und Polizisten. Die vermutete Kei irgendwo anders und nicht auf einer Schnellstraße.
Womit er zwar gehörig falsch lag, wie sich nach fast zwei Stunden herausstellte, als sie einen stehenden Streifenwagen passierten, der mit Blaulicht hinter einem entweder gestrandeten oder aufgehaltenen Lastwagen stand, was aber nichts auszumachen schien. Die Polizisten sahen auf, als Kei und Akira sich näherten, doch dass beide mit Licht fuhren, schien ihnen zu genügen, denn einer von ihnen winkte nur locker. Aus Reflex wollte Akira den Gruß erwidern, doch als seine Hand hochzuzucken begann, wurde er plötzlich der getrockneten Blutschicht auf seiner Haut gewahr, die nun leicht spannte. Kei ignorierte die Polizisten, sobald er sah, dass sie ihn und Akira einfach passieren ließen.
Die Laternen wurden spärlicher, aber die Reflektoren an den Leitplanken und die reflektierende Bemalung der Straße reichten aus. Noch waren sie nicht in der Öde, denn diese Straße war vielgenutzt und umgeben von Siedlungen und Landwirtschaft. Außerdem näherten sie sich nun der nächsten Stadt, die entsprechend ihrer Haupteinnahmequelle den passenden Namen Pisco trug. Ihre Lichter wurden immer zahlreicher. Auf der linken Seite rauschten dafür ständig Plantagen an ihnen vorbei.
„Kei!“ Akira holte auf und setzte sich neben ihn. „Ich weiß, wo wir gleich Pause machen!“
Kei schaute aus dem Augenwinkel zu Akira. „Wo?“
„In den Zitronen!“ Akira zeigte nach links, wo die Zäune und Mauern, die die Felder und Plantagen hinter einem breiten Staub- und Schotterstreifen von der Straße abschirmen sollten, alles andere als fortlaufend waren, sondern viele Lücken aufwiesen und zum größten Teil relativ niedrig waren. Die Obstbäume dahinter konnte man auch mit normaler menschlicher Sicht im Dunkeln sehr gut erkennen. Kei sah in die Felder. Finden würde man sie da jedenfalls nicht.
„Willst du jetzt schon Pause machen?“
„Eigentlich nicht! Aber ich hoffe, es geht noch eine Weile so weiter. Ich wollte schon immer unter einem Obstbaum schlafen!“
„Ich denke, davon gibt es hier viele.“ Südamerika. Natürlich gab es hier viele Obstbäume. In der Ferne waren leise Schüsse zu hören. Akira schien sie auch gehört zu haben, denn er begann, sich genauer umzusehen und drosselte seine Geschwindigkeit, damit Gnome ein wenig leiser wurde.
„Die Schüsse sind weit weg,“ sagte Kei und wurde ebenfalls langsamer. Er sah sich um. Nichts zu sehen, außer Autos und Obstplantagen.

Weitere zwei Stunden, zwei Tankstopps und zwei- bis dreihundert Kilometer später näherten sie sich San Juan. Akiras kleines Motorrad war mittlerweile unangenehm warm geworden und hatte den hinten an den Sitz geschnallten Reservekanister zweimal leergefressen.
„Wenn wir noch viel weiter fahren, gibt es gleich gekochte Eier,“ meldete er.
„Lass uns da reinfahren.“ Kei deutete mit einem Arm in Richtung Straßenrand. Dort war nicht viel zu sehen. Eine kleinere Straße, die von der Schnellstraße wegführte und einige Felder. San Juan lag noch etwa zehn Kilometer vor ihnen. Bald würde die Sonne wieder aufgehen und ein neuer Tag anbrechen. Kei fragte sich, wie lange es dauerte, bis er und Akira von ihren Morden in Lima hören würden und ob sie diese Nachrichten überhaupt erreichen würden. Akira bog hinter ihm auf die Landstraße ein und wurde langsamer. Hier gab es keine Straßenbeleuchtung oder gut sichtbare Begrenz-ungen und die Straße war uneben und zum Teil unbefestigt. Hier begegneten sie keinen weiteren Fahrzeugen. Kei fuhr langsam noch ein gutes Stück weiter. Er war auch in Japan gelegentlich auf unbeleuchteten Straßen unterwegs gewesen, obwohl die dort rar gesäht waren. Am Rande einer kleineren Obstplantage machte er Halt.
Die plötzliche Stille nach dem Abstellen der Motoren erschreckte Akira fast. Bis er die Vögel hörte. Das Dämmerlicht weckte sie nun alle auf und brachte sie zum Singen, Quaken und Kreischen. Dennoch war es hier ziemlich friedlich. Diese Ansammlung an Mandarinenbäumen war mehr ein Hain als eine Plantage, und umsäumt von struppigem Gebüsch und Pflanzen, die für den botanisch ungebildeten Akira wie verschiedene Ausführungen von Gummibäumen aussahen. Kei sah sich einfach nur kurz um und schob sein Motorrad so hinter ein paar Büsche, dass man es nicht sah, wenn man die Straße herunterkam. Mit seinem Rucksack setzte er sich unter einen der Bäume unweit der Motorräder.
Akira zögerte. Bevor er sich Kei näherte, wollte er sich das Bild vor ihm einprägen. Auf der anderen Seite dieses Gartens glänzte eine weite Wasseroberfläche, sowas wie ein Baggersee oder ein Reservoir. Um sie herum war es noch dunkel, aber es stieg bereits leichter Dunst auf, der die Pflanzen tot und still und die ganze Szenerie geisterhaft erscheinen ließ. Die Geräusche der Vögel, die man nicht sehen konnte, machten davon nichts realistischer. Eher gespenstischer. Und der Vampir passte in diese Welt wie die Schokosplitter aufs Sahnetörtchen. Oder mit anderen Worten, er war hier ein schöner und äußerst appetitlicher Anblick. Kei lehnte sich an den Baum und nahm seine Sonnernbrille ab, hängte sie in den Kragen seines Tanktops und streckte die Beine aus. Er betrachtete Akira, der noch dort stand. Es sah so unwirklich aus. Das Land war so friedlich.
Für ihn war das nichts, schon gar nicht für länger.
Akira hielt Keis Blick genau so lange stand, wie er brauchte, um verlegen zu werden. Er kam etwas näher, kniete sich dann hin und fuhr mit den Händen durch das feuchte Gras, um sich dann mit den Händen über das Gesicht zu wischen. Dass er das Blut des Peruaners die ganze Nacht lang an sich hatte kleben lassen, wurde ihm nun langsam peinlich. Der kalte Tau funktionierte allerdings gut als Reinigungsmittel, zumindest für seine Haut, und als er die letzten braunen Flecken von seinen Händen an das Gras abgegeben hatte, ging er zu Kei und stellte seinen Rucksack neben den anderen. Gemächlich legte er sich vor Kei auf den Rücken und sah mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in den grauen Himmel.
Der Vampir folgte seinem Blick – nur um festzustellen, dass es aussah, als würde es bald zu regnen beginnen.
Oh super. Regen.
Kei mochte Regen, aber er fuhr nicht allzu gern mit klatschnassen Kleidern durch die Gegend. Für den Moment aber war das egal. Langsam machte sich Hunger in ihm breit. Er lehnte den Kopf an den Baumstamm. Akira schloss lächelnd die Augen und bewegte sich nicht mehr. Kei beschäftigte sich irgendwann damit, dem Kleineren zuzusehen. Er konnte nicht schlafen.

Über eine halbe Stunde lang lag Akira tot und friedlich da, ohne sich zu regen. Als die Sonne hinter der nun sachte nieselnden, dichten Wolkendecke bestimmt längst aufgegangen und fast eine Stunde vergangen war, bewegte Akira sich zum ersten Mal. Einer der langsamen, dünnen Regentropfen, die er bisher ignoriert hatte, landete auf einem seiner Augenlider, das daraufhin zuckte. Seine Arme zuckten auch. Und seine Füße. Langsam, aber irgendwie ruckartig, so als ob er seine Gliedmaßen nicht ganz beherrschte, drehte er sich auf die Seite, mit dem Rücken zu Kei, und stellte sich auf alle Viere.
Der Vampir beobachtete ihn bloß. Der Regen, oder besser das, was mal ein Regen werden wollte, tröpfelte ihm auf die Kapuze während er weiterhin die Augen auf seinen Freund geheftet hatte und ihm dabei zusah, wie er wieder zu sich kam. Seine Inneres schrie nach Blut.
„Ich geh mich hier mal umsehen,“ sagte er und stand langsam auf.
„Hm,“ sagte Akira dumpf und knapp.
Scheiße, was ist das?! Ich kann mich – nicht – Ohne es zu wollen, setzte er sich auf die Fersen, sodass er kniete, und sein Gesicht wandte sich von selbst Kei zu und nickte mechanisch.
Während Kei sich wunderte, was mit Akira nicht stimmte, ging er los, zwischen den Obstbäumen hindurch.

Der blauäugige Japaner hatte bald ein Wohnhaus gefunden... und die zur Plantage gehörenden Saisonarbeiter. Einen der jungen Männer winkte er mit seinem wunderbaren Englisch hinter eine Ecke. Er gab vor, ihn etwas fragen zu wollen, weil er sich verirrt habe.
Der Mann kam nicht mehr dazu, ihm den Weg zu erklären oder zu schreien – oder zu sonst irgendetwas.

Unter den Bäumen hinter dem Gesträuch befand Akira sich wieder auf Händen und Knien. Nur gut hundert Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt. Nun trennten ihn noch weitere hundert Meter von dem Gewässer, das ihm bei ihrer Ankunft aufgefallen war. Er wollte nicht dorthin, aber... sein Körper schien das zu wollen. Er konnte nicht einmal sagen, was er wollte, oder überhaupt etwas sagen das er seinen Stimmbändern in Auftrag gab. Seine Augen starrten von selbst nach vorn auf den See, der zwischen den niedrigen Heckenzweigen glitzernd zum Vorschein kam. Er kroch langsam und roboterhaft und – nein, nicht er, sein Körper. Vielleicht war es seinem Willen zu verdanken, dass er wenigstens so langsam war und so zitterte. Seine Augen brannten.
Ich träume doch. Ich bin im Gras eingeschlafen und noch nicht aufgewacht. Da hinten liege ich noch irgendwo rum... Auf einmal hielt er an. Ja! Und stand auf. Nein... Staksig ging er nun zu Fuß weiter. I'm a bleedin' zombie! Ihm war nach Heulen zumute, aber selbst das passierte nicht.

Kei bekam von alledem nichts mit. Er erleichterte den Mann um jeden Tropfen Blut, der aus seinem Körper zu kriegen war. Dann ging er zurück. An den anderen Arbeitern vorbei. Die fragten scherzhaft, ob Kei ihren Kollegen aufgefressen habe.
„Yeah!“ erwiderte Kei darauf mit vielsagendem leichtem Grinsen und schlenderte dahin zurück, wo er hergekommen war.
Er sah sich um, zündete sich eine Zigarette an. Irgendwann fiel sein Blick in Richtung des Gewässers, das er beim Ankommen kurz gesehen hatte und sah Akira dort im Gras stehen... gehen.

Über seinem mittlerweile furchterfüllten innerlichen Fluchen nahm Akira nicht einmal mehr die lauten Vögel wahr, oder das Rauschen von der Schnellstraße. Er starrte nur auf die sich stetig, wenn auch ruckelnd, nähernde Wasseroberfläche.
STAND STILL, YOU STUPID FUCK, STOP!
Tatsächlich bewegte er sich ziemlich zombieartig langsam weiter. Ohne die Arme mitzubewegen, setzte er ruckartig einen Fuß vor den anderen, was einigermaßen angestrengt aussah.
Kei schaute dem zu. Nicht allzu lange allerdings, dann ging er zu Akira hinüber.
„Warum läufst du so merkwürdig?“ fragte er mit den Händen in den Hosentaschen. Er hörte einen Aufruhr auf der Plantage... Anscheinend suchten die anderen Arbeiter den Kollegen, den Kei kurz entführt hatte.
...“ Akira antwortete nicht. Er starrte nur mit aufgerissenen Augen weiter zum Wasser. Am Rande seines Sichtfeldes konnte er Kei erkennen, und er hörte ihn, und er wollte ihm antworten, mit ganzer Kraft...
machte er noch einen Schritt vorwärts.
Scheiße! Dieser Schritt war geschmeidiger und schneller gewesen. Sofort kämpfte Akira wieder um die Kontrolle über seine Beine. Seinem versteinerten Gesicht war nichts von seiner Panik anzusehen. Nur etwas Wasser lief aus seinen geröteten Augen, die er nicht bewegen konnte. Es half nicht. Was auch immer ihn bewegte, war darin besser geworden und steuerte ihn nun sicherer und schneller auf den See zu. Keine fünfzig Meter mehr. Kei stellte sich in den Weg.
„Ich bin nicht geduldig genug um zu raten, was mit dir los ist.“
Vor Erleichterung über Kei als Hindernis ließ Akira locker und das war ein Fehler. Sein Körper drehte sich und machte eine Kurve um den Vampir. Halt mich einfach auf! Gib mir eine Ohrfeige, damit ich aufwache!
Kei knallte ihm tatsächlich eine. Allerdings mehr aus dem Grund, dass er davon ausging, ignoriert zu werden. Seine Faust krachte direkt in Akiras Magen.
„Hngk!“ Akira krümmte sich und fiel auf die Knie. Als er die Arme vor dem Bauch verschränkt hatte, musste er nervös lachen.
„... Danke... ngh... danke!“ Er schien wieder Herr über seine Motorik zu sein. „Danke...“ Erleichtert fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht, das sich wieder wie seines anfühlte, und sein Blick schnappte hinauf zu Kei. Der sah ihn leicht verwirrt an.
„Seit wann bedankst du dich für Schläge?“ Sollte so viel heißen wie ‚Was ist mit dir los?‘
Ich weiß nicht – danke,“ sprudelte Akira und umarmte Keis Beine. Oh, süße Freiheit. Plötzlich sah er auf. Moment. „Du hast mich doch geschlagen, um mich aufzuhalten, oder?“ fragte er stirnrunzelnd. Kei schaute ihn an.
„Du hast mich ignoriert – aufhalten von was?“ Kei wusste nicht, was gerade mit Akira los war. Der kniete weiterhin vor ihm und hielt immer noch seine Oberschenkel fest, legte aber den Kopf zurück und schaute entrüstet.
Du hast mich geschlagen, weil ich dich ignoriert habe? Ist das dein Ernst?“ Mein eigener Körper wollte mich im Wasser verschwinden lassen – oder so vermutete er – und du versuchst nicht, mich zu retten, sondern schlägst mich zusammen, weil du keine Aufmerksamkeit bekommst?!
„Du läuft wie ein Filmzombie durch die Gegend und antwortest nicht oder machst irgendetwas sondern krüppelst nur auf das Wasser zu... Was hätte ich sonst machen sollen? Freundlich winken?“ Kei verstand nicht, wo das Problem war. Akira ließ ihn los und sein Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich zu einem etwas weniger brüskierten.
„Ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht gehen. Aber... Seit ich aufgewacht bin, konnte ich nur sehen und hören und... fühlen... und nichts tun. Ich hatte gehofft, das wäre ein Alptraum.“ Und auch, dass du mich aus edleren Motiven, wie zum Beispiel Besorgnis, geschlagen hättest.
„Es war erstaunlich real,“ kommentierte Kei und hockte sich vor ihn. „Wir sollten nicht lange hier bleiben. Die Typen von der Plantage vermissen einen Kollegen.“
Natürlich.“ Ungeachtet der Tatsache, dass Kei sich gerade erst zu ihm auf den Boden begeben hatte, und ohne ihn anzusehen, stand Akira auf. Seine Wange ziepte etwas und seine Magengegend fühlte sich verformt an, als hätte Kei eine Delle hineingeboxt. Der Schmerz und jeglicher möglicher Schaden würden in ein paar Sekunden verschwunden sein, aber dass er ihn überhaupt hatte, hatte er Keis Eitelkeit zu verdanken. Denselben Weg, gegen den er gerade eine gefühlte Ewigkeit lang angekämpft hatte, stiefelte er nun geschmeidig in die entgegengesetzte Richtung zu ihren Rucksäcken zurück. Der Vampir folgte ihm und schulterte seine Tasche, kaum dass er dort angekommen war.
„In die Stadt oder weiter nach Süden?“
„Zuerst brauchen wir eine Tankstelle. Und dann sollten wir so weit fahren, wie es geht. Ich will nicht in Peru bleiben.“ Akira zog seinen Rucksack an und setzte sich die Sonnenbrille auf. Man konnte die Sonne zwar nicht direkt sehen, aber das Licht, das diffus durch die Wolken schien, die nun noch zaghafter troffen als bisher, war hell genug, um zu blenden. Kei stieg auf sein Motorrad.
„In der Stadt werden wir eine finden. Dann fahren wir die Schnell-straße weiter. Irgendwann kommen wir aus Peru raus.“ Von der Plantage aus waren mittlerweile aufgebrachte Rufe zu hören.
„Hast du noch Geld für Benzin übrig?“ rief Akira, während er losfuhr.
„Ja,“ gab Kei zurück und fuhr ihm hinterher, zurück auf die Schnellstraße und in die Stadt. Er war froh, die Plantage hinter sich lassen zu können.

Als ihre Tanks und der Reservekanister wieder voll und Keis Kasse um einen Batzen Nuevo Sol erleichtert waren, hatte Akira noch kein Wort mehr gesprochen. Während der Tankpause hatte er nur kurz die Straßenkarte, die er aus dem Mietzimmer hatte mitgehen lassen, konsultiert. Kei hatte nicht das Bedürfnis, ein Gespräch anzufangen. Er wollte nur wissen, warum Akira wie ein Zombie gewirkt hatte. Da er aber bezweifelte, dass sein Freund das wusste, sprach er es nicht an. Nach der Tankpause ging es weiter die Schnellstraße entlang.
Als sie sich Stunden später einer großen Abzweigung nach Osten, in Richtung Arequipa, näherten, zeigte Akira auf ein Hinweisschild auf die Stadt mit Kilometerangabe. Danach wurde er langsamer und hielt auf dem Standstreifen an. Kei stoppte neben Akira und sah ihn an – fragend. Der kramte die Karte heraus und breitete sie zwischen ihnen auf den Lenkern aus.
„Die Panamericana zweigt hier nochmal ab, wie bei San Juan. Wenn wir durch Arequipa fahren, kommen wir, wenn wir bei Puno am See hier weiter nach Osten statt nach Norden fahren, direkt nach Bolivien. Wenn wir hier weiter nach Süden fahren, kommen wir nach Chile. Das können wir noch vor Morgen schaffen, wenn wir irgendwie über die Grenze kommen. Ich weiß nicht, wofür unsere Visa gelten. Aber jetzt können wir uns zwischen Meer und Dschungel mit Steppe entscheiden.“
Kei dachte kurz nach, wo er lieber hinwollte. „Ans Meer,“ sagte er. Zwar wusste er nicht, wo ihn das hinführen würde, aber raus aus Peru und ans Meer waren sicher zwei sehr gute Ideen. Er sah kurz in seinen Ausweis. „Wir haben nur'n Visum für Peru, aber wir kommen auch so über die Grenze.“
„Willst du uns ein Paar Schlepper suchen, oder was?“ Akira war skeptisch. Er wollte sich die Art der Grenzbefestigung erst einmal ansehen, bevor er irgendeine Entscheidung traf.
„Nein. So kommen wir nie dahin, wo wir hinwollen. Das klappt auch so.“ Zwar war der Vampir sich dessen nicht sicher, aber über die Grenze kamen sie sicher... wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeiten.
„Wie denn?“ Akira packte die Karte wieder ein und startete den Motor.
„Weiß ich noch nicht.“ Kei fuhr los.

Etwa vier Stunden später kamen Kei und Akira an der Grenze an, an der es ein großes Polizeiaufgebot und viele Kontrollen gab. Dort gab es Herbergen und Motels, Wachtürme und massenhaft Fahrzeuge, in der Hauptsache Laster der größeren Kragenweite aber sonst jeglicher Art, und alle warteten nur. Es war Das Große Warten, das sich auf Parkplätzen und in langen Schlangen vor dem Grenzübergang völlig ereignislos ereignete.
In eine kleine Nische zwischen all der Warterei, die wohl als Rastplatz gedacht war, steuerte Akira zuerst. Kei fuhr ihm nach und blieb irgendwann stehen.
„Das kann dauern.“ Kei wollte nicht warten. Denn das hier sah aus als würden sie hier morgen noch stehen. Er stieg von seinem Motorrad. „Ich rede mal mit dem Wachmann da hinten.“ Der Vampir zeigte auf einen der Grenzdurchgänge an dem keine Wagen, sondern nur ein paar Fußgänger und einige zum Teil schwer bewaffnete Polizisten standen. Es war eine heftige Auseinandersetzung im Gang.
„Soll ich gleich mitkommen?“ Akira wusste nicht, was Kei unter ‚ich rede mal‘ verstand.
„Nein, warte hier. Ich vertraue den Leuten hier nicht.“ Kei ging zu den Polizisten hinüber.
„Hey you!“ rief er ihnen zu und unterbrach ihre Diskussion mit den Leuten, die dort herumstanden. Einer drehte sich um. Kei nahm seine Sonnenbrille ab und ging zu ihm. „My friend and I want to cross this border,“ teilte er den Polizisten in seinem wunderbaren Japanerenglisch mit und deutete in Richtung Akira, während er den jungen Mann einfach nur ansah, der ihm sagte, dass er erst durch die Kontrolle müsse, wenn er passieren wollte. „I don't think so. You'll let us pass and you won't have any trouble.“ Kei sah dem Typen direkt in die Augen.
„Okay... okay,“ sagte der junge Mann, nachdem er und Kei sich eine Weile angestarrt hatten.
Wow... das war einfach... Er schlenderte zu Akira zurück.
„Auf! Bevor er es sich anders überlegt!“ Der Vampir stieg auf sein Motorrad und startete den Motor. Akira folgte auf dem Fuß und nahm sich vor, seinen Freund über diese Szene genau auszufragen, sobald sie außer Sichtweite der Gewehrträger wären.

CHILE
In Arica, der ersten vernünftigen Stadt hinter der Grenze, nachdem sie schwer gesichertes Gebiet durchquert hatten, wurden sie Keis letzte Nuevo Sol für mehr Benzin und ein deftiges Burgeressen in einer Kneipe los.
„Wir sind offiziell pleite,“ verkündete der Vampir nach dem leckeren Essen, bei dem er Akira nur zugesehen hatte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Einen kleineren Teil seines letzten Geldes hatte er schon an der letzten Tankstelle für Zigaretten ausgegeben. Davon hatte er jetzt genug für die nächste Weile. Was er sich in der Bar gegönnt hatte, war ein Glas des lokalen Alkohols gewesen, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Er hatte die Jacke ausgezogen und über den Stuhl gehängt. Akira hatte zum Essen seine Haare zu einem zerzausten Pferdeschwanz gebunden und seine weiten Ärmel etwas hochgekrempelt. Nun putzte er sich nur noch die Finger und den Mund, die in so effizienter Kooperation das fettige, salzige und vor allem fleischige Mahl verschlungen hatten, mit einer Papierserviette ab.
„Das macht nichts. Das ist sowieso nicht die richtige Währung gewesen.“ Er grinste zufrieden und trank von seinem kalten Keche- Quechu- Pexe- Wasauchimmer. Es schmeckte dezent zitronig und sehr erfrischend. Nun waren sie nicht nur aus Japan raus, sondern hatten es unbehelligt wochenlang in Peru ausgehalten und es da auch ohne jeglichen Schluckauf durchgeschafft.
Da fiel ihm wieder der Grenzübergang ein und er beugte sich mit hochinteressiertem Blick über den Tisch vor. „Was war das da an der Grenze? Was hast du gesagt?“
„Dass wir die Grenze passieren wollen und ich nicht denke, dass er uns kontrollieren muss,“ sagte Kei, als würde das einfach so gehen. Akira hob eine einzelne Augenbraue.
„Ernsthaft. Ehrlich jetzt. Wie ist das abgelaufen?“
„Ich hab ihm in die Augen geschaut und gewartet... dann hat er uns passieren lassen,“ erklärte Kei, der nicht ganz verstand, was so interessant daran war. Akira runzelte nun ernst die Stirn. Langsam sah er sich im Raum um. Kei folgte seinem Blick kurz und wendete sich dann seinem Glas zu.
„Was ist so interessant daran?“ fragte er nach, während er sein Getränk vernichtete. Akira bedachte ihn mit einem finsteren, nachdenklichen Blick.
„Es ist unwahrscheinlich. Es ist so unrealistisch, dass es äußerst verdächtig ist, dass wir einfach so durchgewunken wurden, ohne irgendeine Kontrolle, bloß weil du nett gefragt hast,“ sagte er leise und eindringlich. „Sowas passiert einfach nicht. Es sei denn, man wollte uns durchlassen, und wer sollte warum ein Interesse daran haben? Könnte es sein, dass wir beschattet werden, ist dir was aufgefallen? Oder hast du ihn irgendwie bestochen?“
Kei entgegnete: „Nö, ich hab ihn nicht bestochen. Ich kann mir selbst nicht ganz erklären, warum er uns durchgelassen hat. Fakt ist, wir sind durchgekommen.“
„Aber ist uns jemand hinterhergefahren? Oder werden wir hier drin beobachtet?“ Akiras neue Lieblingssorge schien Paranoia zu sein. Und schon war er wieder unruhig.
„Nein. Uns ist keiner gefolgt,“ versicherte Kei ihm, der sich dieser Tatsache sehr sicher war. Ihnen war niemand gefolgt und beobachtet wurden sie auch nicht. Trotzdem hatte der Polizist ihn durchgelassen – warum auch immer.
Er wurde von Akira ausgiebig gemustert, erst fast misstrauisch, dann immer ruhiger, aber immer ernst. Kei erwiderte seinen Blick die ganze Zeit ruhig. Zwischendurch trank Akira ein bisschen, entschied dann dass Kei das milchig aussehende Getränk besser mundete als ihm selbst und schob es seinem Freund hinüber, ohne den Blick von seinem Gesicht mit den glühenden blauen Augen abzuwenden.
Der Vampir nahm das Getränk an sich – er mochte es wirklich und schaute sich ein wenig im Lokal um. „Wo gehen wir nachher hin?“
Zaghafte Enttäuschung darüber, dass Kei den Moment so salopp beendet hatte und wachsende Hoffnung bezüglich des Nachher wechselten sich in Akira ab, der sich erst einmal räuspern musste, ehe er nonchalant antworten konnte.
„Wo es uns gefällt,“ bot er an, womit er eigentlich meinte Egal, kommt wohl darauf an, wie weit wir kommen, bis ich dir die Kleider runterreiße.
Kei nickte. Da beide kein Geld mehr hatten, konnten sie wirklich überallhin. Ein Motel konnten sie sich nicht leisten. Der Vampir zog einen fremden Geldbeutel aus der Tasche und schob ihn zu Akira über den Tisch. „Das hab ich dem Typen an der Plantage in Peru abgenommen, hab noch nicht reingeschaut.“ Daran hatte der Vampir gar nicht gedacht, nachdem sie aufgebrochen waren. Akira zog das Portemonnaie zu sich und öffnete es, als gehöre es ihm oder seinem Freund. Es war nicht sehr viel darin, aber genug für mindestens zwei Tankfüllungen inklusive Reservekanister. Die Ausweise und Karten darin ignorierte er. Akira schloss die Geldbörse wieder und hielt sie hoch.
„Das ist Treibstoff. Für die Räder.“
„Ja. Den Rest lassen wir den Bullen zukommen – ich hab's gefunden.“ Kei leerte sein Glas und wendete sich dem von Akira zu. Alkohol hatte nur in sehr großen Mengen einen Effekt auf seinen Körper und seit er gestorben war, war seine Toleranz noch höher geworden. Nicht nur gegenüber Alkohol. Man konnte ihn mit Schüssen durchsieben und er spürte es nicht einmal. Kei hatte das Gefühl, überhaupt nicht mehr viel zu spüren. Zumindest, wenn er sich gerade im toten Zustand befand, ohne Puls. Das war häufiger der Fall als die Alternative. Leben tat er nur, wenn Akira in unmittelbarer Nähe war.
Und die stellte der Junge auch augenblicklich her, indem er seinen Stuhl eilig um den runden Tisch herum näherrückte, während er noch darauf saß, und sich dicht zu Kei beugte, um eindringlich zu flüstern: „Die Polizei, bist du verrückt? Du hast den Besitzer umgebracht. Wir müssen das Teil fingerabdrucksfrei beseitigen.“ Er war nicht paranoid, oh nein, sir, er war bloß vernünftig. Kei hatte davon keine Ahnung.
„Gut, dann verbrennen wir's halt,“ meinte Kei dazu und spürte einen Moment später einen langsamen Herzschlag einsetzen. Akira nickte nur. Er blieb so dicht vorgebeugt bei ihm sitzen und sah ihn weiter an. Das schien ihm gar nicht sonderlich bewusst zu sein. Dafür war er zu stark darauf konzentriert, sein Blut, das sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, nicht zu rasch komplett nach Süden, also in seine Hose, rauschen zu lassen. Das war ihm schon zu häufig passiert, fand er, und führte meistens zu nichts als Peinlichkeit.
Trotzdem glotzte er Kei einfach weiter an. Kei musterte seinen Freund und kommentierte seinen Blick nicht, dafür lauschte er dem Herzschlag des Kleineren.
Der milde interessierte Blick des im-Moment-gar-nicht-so-Wahnsinnigen ließ Akira ein winzigkleines Bisschen erröten und unbewusst lächeln. Kei leerte Akiras Glas und sah ihn weiter an. Mit einer Mischung aus eindeutigem Interesse und einigen anderen Dingen.
„Lass uns das Portemonnaie verbrennen,“ sagte er schließlich.
In Akiras Ohren klang der Vorschlag wie ein Code für Lass uns v-
Langsam nickte er. Hastig stand er auf. Zu hastig, wie ihm peinlich bewusst wurde. Er war froh, dass die Körperstelle, die er Kei nun durch seine Eile versehentlich entgegenreckte, wenigstens durch sehr viel Stoff von Keis Gesicht abgeschirmt war. Kei erhob sich ebenfalls, etwas langsamer, und schulterte seine Tasche. Den fremden Geldbeutel steckte er in eine Hosentasche.



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