Hier geht es zum ersten Teil.
Am späten Nachmittag begann es zu regnen, und es hörte bis zum
nächsten Vormittag nicht auf.
Kei, diesmal ganz ohne Uniform in Tanktop und langer zerrissener
Hose, schlenderte in die Schule. An seinen Armen baumelten Bänder
und von seinem Hals die Münze. Kei war froh, dass es Freitag war.
Die Nacht hatte er draußen verbracht. In den morgendlichen
Nachrichten waren Berichte von etwa fünf Toten in einem
Stadtviertel, an denen keinerlei Spuren gefunden worden waren.
Entweder waren einfach keine hinterlassen worden, oder der Regen
hatte sie weggespült.
Als er die Bilder sah, schaute er sie erstaunt an. In einem der
Schulflure hingen große Bleistift- und Kohleporträtzeichnungen von
Schülern. Auf einer davon war Colin abgebildet. Vor diesem Portrait
blieb er stehen. Er hatte keine Ahnung wer dafür verantwortlich war.
An ein größeres Kunstprojekt konnte er sich nicht erinnern. Ein
kleines Schild neben dem ersten Bild in der Reihe deklarierte die
Zeichnungen als Werke des Kunstclubs. Unter jeder Zeichnung hing ein
weiteres Schild mit den Namen des Zeichners und des Modells.
Ein paar Schüler gingen durch den Flur, und Colin betrat ihn nun
auch und begann, sich die Bilder anzusehen. Anstelle des großen
Rucksacks trug er seinen Geigenkasten auf dem Rücken.
Kei fand, dass die Bilder wirklich gut waren. Nicht alle, aber
einige. Er ging an Colin vorbei.
"Du
wurdest gut getroffen," sagte er, als er an ihm vorbeikam. "Wo
hast du dein Zeug gelassen?" fragte er beiläufig.
Colin sah sich um und lächelte Kei zum Gruß an. "Hier in der
Schule. Wo hast du deins gelassen?" Er sah gründlich an Kei
herunter.
"Welches?" Kei trug obenrum nicht viel, aber seine Hose war
dekoriert. Er hob seine Umhängetasche hoch. Bedeutete mit dieser
Geste, dass er sehr wohl etwas dabei hatte. Er war kaum nassgeregnet,
weil er einen Schirm besaß, mit dem er seine Haare trocken hielt.
Ansonsten störte ihn der Regen nicht. Colin war ebenfalls trocken.
Er blinzelte verständnislos. "Deine Uniform."
"Waschmaschine," antwortete Kei, dessen Uniformjacke beim
gestrigen Blutbad etwas abbekommen hatte. Kei schaute weiter auf die
Bilder.
Colin nahm das so hin, guckte Kei aber weiter an, dann auch zurück
auf die Bilder, als der seinen Blick abwandte.
Er sah sich um, entdeckte seins und sah es sich an.
Kei bleib noch eine Weile bei den Bildern und betrachtete Colin auch
noch ein wenig.
Eilig hatte er es immerhin nicht. Er grinste ein wenig als er an dem
Kleineren vorbeischlenderte. Ein Grinsen, das nicht freundlich war,
aber auch nicht abgrundtief böse. Ein wenig fasziniert. Er wusste
nicht, was er von Colin halten sollte. Interessant war das richtige
Wort. Colin sah sein Bleistiftabbild ein wenig nachdenklich an, bis
Kei an ihm vorbeiging. Er wandte sich stracks zum Gehen, mit verlegen
gesenktem Blick. Diese Reaktion amüsierte den jungen Vampir.
Weitergrinsend machte er sich nun auf den Weg zum Klassenzimmer.
"Colin!" rief er ihm nach und warf ihm eine Packung Kippen
zu. "Du bist ja noch zu klein um dir welche zu kaufen,"
grinste er und ging in die Klasse.
Colin drehte sich automatisch um und fing die Schachtel aus Reflex
auf. Er sah sie verwirrt an und steckte sie hastig in die
Jacketttasche, bevor jemand sie sah, und ging auch in den
Klassenraum. Er vermied es wieder, jemandem lang ins Gesicht zu
sehen, besonders Kei, aber linste immer wieder kurz zu ihm hin, vor
dem Unterricht und währenddessen.
An dem ging das nicht unbemerkt vorbei. Es amüsierte ihn. "Bin
ich so interessant?" flüsterte er, über seine Aufgaben
gebeugt.
Colin machte ein leises Schnaubgeräusch und lächelte ein bisschen
wenig überzeugend, neigte dann den Kopf etwas nach vorn, stierte
demonstrativ in sein Buch und ließ seine Haare auf der Kei
zugewandten Seite von hinter seinem Ohr als Vorhang herunterfallen.
Kei musste lachen. Amüsiert wendete er sich wieder seinen Aufgaben
zu.
Dann halt nicht.
Kurz vor der Mittagspause fragte Tomoko, die vor Colin saß, ob er
nach der Schule zum Geigenunterricht müsse. Sie nickte auf den
Kasten, der hinten auf einem der Reservetische lag.
"Nein, ich spiele heute vor."
"Oh! Wo denn?"
"Hier. Bei Frau Hasegawa."
Kei hörte das auf einem Ohr mit, als er aufstand. Da er sowieso
nichts anderes vorhatte, nahm er sich vor, sich das anzuhören. Frau
Hasegawa hatte einen ziemlich strengen Ruf.
"Dürfen wir mitkommen? Oder sind keine Zuschauer erlaubt?"
fragte Tomoko gespannt. Colin zuckte mit den Schultern.
"Ich glaube schon. Es ist in der Aula, also wird es bestimmt in
Ordnung sein."
"Wenn sie dich nimmt, dauert es aber noch ewig, bis du auftreten
darfst. Sie lässt alle erst ein Jahr lang proben, bevor sie
öffentlich spielen dürfen."
Colin zuckte nur wieder mit den Schultern.
"Kann mir recht sein."
"Wann musst du denn hin?"
"Um viertel nach zwölf."
Tomoko machte riesige Augen.
"Das ist gleich!"
"Oh damn," Colin sprang auf, grabschte sich den
Geigenkasten und stürzte aus dem Raum.
Kei lachte. Er schlenderte aus dem Raum und machte sich auf zur Aula.
Gemütlich. Wenn er wollte, konnte er verdammt schnell da sein. Er
nutzte das Gedränge auf dem Flur aus, um sich unbemerkt in die Aula
zu setzen. Er saß irgendwo auf dem Boden herum, außerhalb der
Sichtweite der Mädels. Colin konnte ihn sehen, wenn er wollte. Es
waren nur eine handvoll Leute da. Tomoko und Ayane natürlich, sie
hatten noch einen Jungen mitgebracht, Frau Hasegawa, die sich mit
einem dicken Hefter in die erste Reihe gesetzt hatte und zwei weitere
Lehrer, die scheinbar nur aus Interesse da waren.
Colin selbst ging auf einer Seite der Bühne hin und her und stimmte
dabei die Geige. Er schien etwas atemlos, aber mit jedem Strich über
die Saiten etwas gelassener. Sein Kasten lag offen auf der
Bühnenkante. Nun schob er ihn mit der Fußspitze etwas zur Seite.
Frau Hasegawa sagte etwas - unverständlich, weil leise und zur Bühne
hin, Colin sah sie an und sagte: "Corelli. La folia." Frau
Hasegawa sagte noch etwas und Colin schmunzelte etwas, sah zu den
Mädchen und entdeckte dabei Kei im Gang sitzen. Er grinste ihn an
und sagte: "Irrsinn," setzte sich dann die Geige auf die
Schulter.
Keis Gesichtsausdruck ließ den Hauch eines Lächelns vermuten.
Irrsinn, ja das passt gut, dachte er und lauschte
nachdenklich. Er machte die Augen zu und hörte dem Kleineren zu. Er
lehnte sich an die Wand und sah fast schon friedlich aus, wie er
dasaß.
Colin begann langsam und sauber zu spielen, sehr kontrolliert und
etwas steif, bis er nach ein paar Sekunden außer der Geige alle
Geräusche ausgeblendet hatte und nun nur ernst, aber scheinbar sehr
gelassen spielte. Nach einer Weile begann er damit, auf der Bühne
etwas umherzugehen, einen Schritt nach vorn, nach hinten, beugte sich
ab und zu ein bisschen vor, als ob er nicht allein mit den Armen
spielen könnte.
Anfangs sah er dabei ernst in seinen geöffneten Geigenkasten hinein
und später zu Kei.
Der begann irgendwann, ihn zu beobachten - fasziniert zu beobachten.
Musterte jede Bewegung genau, malträtierte sein Piercing beinahe
unbemerkt. Nicht einmal, als Colin ihn direkt ansah, genierte er
sich. Sah ihm einfach weiter zu. Blickte ihm kurz direkt in die
Augen, mit einer Mischung aus Faszination und noch etwas anderem.
Grinste leicht. Trotzdem hatte sein Blick etwas Freundliches. Colin
sah schrecklich ernst aus, und als es am Schluss daran ging, auf
mehreren Saiten gleichzeitig zu spielen, geradezu wütend.
Das legte
sich in den letzten Takten und sein Gesichtsausdruck beruhigte sich.
Er richtete sich wieder auf und ließ Bogen und Geige sinken.
Ayane und Tomoko sprangen auf und fingen an zu klatschen.
Kei blieb sitzen und blickte noch weiter kurz und sehr fasziniert in
Colins Richtung. Erst als die Weiber ihrem Lob freien Lauf ließen,
stand er auf und lehnte sich an die Wand. Er wartete noch eine Weile,
ehe er zu Colin hinüberging, ihm einen undefinierbaren Blick zuwarf.
Colin war von der Bühne gesprungen, stand steif davor, hörte brav
nickend Frau Hasegawas Kommentaren zu und bemerkte gar nicht, wie Kei
näherkam, bis Frau Hasegawa ihre Ausführungen abbrach und Kei
pointiert anblickte. Colin sah ihn mit einer Mischung aus Misstrauen
und Verwunderung an und zuckte überrascht zusammen, als er ihm ins
Ohr flüsterte.
"Du bist gut, Kleiner," hauchte er ihm grinsend ins Ohr und
ging an den Weibern vorbei, in Richtung Tür. Colin sah Kei nach und
musste sein Ohr anfassen. Hoffte, dass er nicht gerade rot wurde.
Frau Hasegawa war ganz sicher total pikiert und Colin mindestens
verblüfft. Mission erfüllt. Kei war sich ziemlich sicher, bei Colin
keinen schlechten Eindruck hinterlassen zu haben. Grinsend
schlenderte er nach draußen und zündete sich eine Zigarette an.
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