TEIL I
BELIEBIGE
SCHULE IN TOKYO
Colin Hammerer wurde auf dem Flur angerempelt und ließ sein Buch
fallen, ignorierte geübt den dämlichen Spruch des dämlichen
Idioten, der keine Manieren kannte und hob sein Buch wieder auf.
Dabei wischte er sich demonstrativ den Ärmel der nagelneuen
Schuluniform ab. Ein nasses Blatt von seinem Mathebuch abpopelnd ging
er weiter und studierte dabei die Nummern an den Klassentüren.
Nachdem Keisuke es mit lediglich der Jacke der Schuluniform und
ansonsten Freizeitkleidung in das Gebäude geschafft hatte – er
war sowieso schon spät dran gewesen – rannte er auf der Suche nach
dem richtigen Raum den erstbesten Mitschüler über den Haufen. Da er
es ziemlich eilig hatte, sah er sich nicht einmal mehr um.
Irgendetwas war auf den Boden gefallen, aber das war nicht wirklich
sein Problem.
Nach gelassenem Abgehen des Flures fand Colin endlich den richtigen
Raum. Mittlerweile war er der einzige auf dem Schulflur, aber er
rechnete sich aus, dass er es sich als neuer Schüler leisten konnte,
zur allerersten Stunde zu spät zu kommen. Das war um Längen besser,
als abgehetzt seinen ersten Eindruck zu hinterlassen.
Er schob sich die Haare hinter die Ohren und nickte sich selbst
grimmig zu, bevor er die Tür öffnete.
Gerade noch eine Minute vor dem Unterrichtsbeginn rechtzeitig in die
Klasse gekommen – oder besser gestürzt – hatte Keisuke es sich
auf einem der hinteren Plätze bequem gemacht und wartete ab, was
passieren würde. Er spielte an dem Ring herum, der sich mittig in
seiner Unterlippe befand und besah sich gelangweilt den Raum, als
sich die Tür öffnete.
Ein neuer Schüler? Warum hat niemand etwas erwähnt? Der
Lehrer machte Anstalten, den Neuankömmling zu begrüßen. Der
Ausländer mit den blonden Locken verbeugte sich brav vor dem Lehrer
und blickte beinahe gelangweilt drein, als er als Colin Hammerer aus
Schottland vorgestellt wurde.
Colin verbeugte sich auch vor der Klasse, das Mathebuch vor sich
haltend, mit seinem grünen Armeerucksack auf dem Rücken.
"Hallo, ich bin Colin. Ich freue mich ... " Er guckte kurz
ratlos zur Seite. "... auf das Schuljahr."
Er ließ seinen Blick kurz über die Gesichter schweifen.
Auch das noch, dachte Kei, dessen gesprochenes Englisch nun
wirklich nicht gerade sehr gut war. Schließlich hatte er keine
Ahnung, wie das Japanisch des Neuen war. Auf den ersten Ton gar nicht
so schlecht, aber man konnte ja nie wissen.
Er würdigte den jungen Schotten kurz eines Blickes. Habe ich den
nicht vorhin umgerannt?
Dieser Tatsache maß er keine weitere Bedeutung bei, jedoch wollte er
nicht unbedingt, dass der Neue ihm hinterlief, nur weil er ihn schon
einmal gesehen hatte. Daran glaubte er nicht.
Er wandte seinen Blick aus dem Fenster. Es war noch früh. Das
Gelände sah noch friedlich aus.
Colin wurde vom Lehrer angewiesen, sich einen der Reservetische von
der Rückwand zu nehmen und sich damit in eine Lücke in der
hintersten Reihe zu setzen. Er nickte und folgte, selbst verfolgt von
Blicken und dem obligatorischen Gemurmel, das er geflissentlich
ignorierte.
Als er sein ausgesuchtes kleines Pult hingestellt hatte und seinen
Rucksack daneben absetzte, erkannte er den Jungen wieder, der da
neben ihm aus dem Fenster guckte. Er ließ sich auf den Stuhl fallen
und murmelte dabei hörbar genervt: "Bloody brilliant."
Keisuke nahm zur Kenntnis, dass er nun einen unfreiwilligen
Sitznachbarn hatte, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Die
morgendliche Ruhe auf der anderen Seite der Scheibe war irgendwie
interessanter anzusehen. Sie lenkte ihn etwas vom Geschehen um ihn
herum ab, allerdings ohne das Gemurmel seiner Mitschüler verstummen
zu lassen. Der Neue, Colin oder so, schien seinen neuen Platz
nicht optimal zu finden.
Ich sollte den Teufel vielleicht nicht gleich an die Wand malen...
Kei war kein besonders kontaktfreudiges Geschöpf und hoffte, dass
das auch für Colin galt. Das würde ihm lästige soziale Interaktion
ersparen.
Nach einer Weile drehte er sich um und musterte den Neuen von oben
bis unten.
Colin hatte sein Papier, Stifte, Taschenrechner und das Mathebuch –
auf der richtigen Seite aufgeschlagen – zurechtgelegt und schien
dem Geschehen an der Tafel ohne Schwierigkeiten zu folgen. Seine
Kleidung war neu und vorschriftsmäßig, nur die Haare grenzwertig
lang und nicht zusammengebunden, sonst ließ nichts auf etwaige
Unangepasstheit schließen. Er wirkte nur etwas schmächtig und jung
für diese Klasse. Und, natürlich, europäisch.
Er würdigte Keisuke keines weiteren Blickes und als es daran ging,
die Aufgaben zu bearbeiten, machte er sich konzentriert, aber
scheinbar nicht allzu angestrengt, an die Arbeit.
Dabei lugte ein rotes Band unter seinem rechten Jackettärmel hervor.
Es passte nicht so ganz zu Colins Vorzeigeoutfit. Es machte das Bild,
das Kei sich von dem Neuen aufzubauen begann, kaputt.
Kei hatte weit mehr Probleme mit dem Stoff, auch wenn er ihn
einigermaßen konnte und nicht den Anschluss verlor, aber sein Fall
war er nicht. Eine dunkelgrüne Haarsträhne in seinem Mund
bearbeitend kritzelte er seinen Block voll mit Aufgaben und Auswürfen
seiner Gedanken. Er hatte eine Mischung aus blauen, schwarzen und
grünen Strähnen in den Haaren. Die Lehrer hatten es aufgegeben, ihm
dieses Auftreten auszureden zu versuchen.
Nach viel zu kurzer Zeit legte Colin seinen Druckbleistift hin, zog
ein kleines Büchlein aus seinem Rucksack und lehnte sich damit
zurück. Er machte keine Anstalten, das kleine gelbe Buch mit
lateinischer Schrift zu verbergen und las seelenruhig darin, während
Kei weiter über seinen Aufgaben grübelte. Zwischendurch seufzte er
und malte auf seinem Block herum. Ihm war nicht nach Konzentrieren.
Als er sich im Raum umsah, fiel ihm Colins Buch auf.
Na toll, der ist schon fertig. Kei versuchte zu lesen, was da
in dem Buch des anderen stand. Vergeblich.
Als er sich wieder die grüne Strähne in den Mund steckte und sich
zurück über seine Aufgaben hängte, sah Colin zu ihm herüber. Er
schien seinen Blick bemerkt zu haben und linste seinerseits auf das
Chaos auf Keisukes Schreibblock. Mit einem dreckigen Schmunzeln, das
er ebensowenig zu verstecken versuchte wie sein Buch, las er gelassen
weiter. Dabei rutschte ihm beim Hochhalten des Buches sein Ärmel
etwas weiter herunter, sodass das rote Armband mit seiner schwarzen
Aufschrift "--Freakfest 2014--" ganz sichtbar wurde.
Huh? Kei las die Aufschrift auf dem roten Festivalarmband an
Colins Handgelenk. Was macht der bitte auf so einem Festival?
Das kam unerwartet und riss das Nerdbild noch weiter kaputt.
"Grins nicht so dreckig," kommentierte der Japaner das
Schmunzeln, das eindeutig ihm galt und widmete sich wieder seinem
Mathebuch.
Colin grinste daraufhin noch breiter, nun aber mehr amüsiert als
schadenfroh.
"Achte lieber mehr auf deine Arbeit als auf mein Gesicht."
Er hob den Blick nicht aus seinem Buch und blätterte dabei sogar
gelassen um.
"Wow, sind wir witzig," murmelte Kei und beendete das
Gespräch, das eine solche Bezeichnung nicht verdiente. Irgendwie
mochte er den Neuen nicht besonders.
So viel stand schon mal fest.
Der größte Teil der Mathestunde, bis zu ihrem viel zu weit
entfernten Ende, war mit Papierrascheln, Schreiberkratzen und
Gemurmel angefüllt, bis der Lehrer in die Hände klatschte und alle
unterbrach, um der Klasse den Rest der unerledigten Aufgaben als
Hausaufgabe aufzutragen.
Eine Stunde weniger. Kei notierte sich, was er nicht erledigt hatte
und stopfte das Notizheft in seine Umhängetasche. Ordnung war darin
nicht zu finden. Mit der gepackten Tasche, wenn man das so nennen
wollte, marschierte er nach draußen. Sie hatten jetzt Pause, wenn
auch keine allzu lange.
Colin blieb die paar Minuten im Klassenraum und saß bei Keisukes
Rückkehr auf seinem Tisch, von Mitschülern umringt, mit denen er
sich jovial unterhielt.
...
"Vielleicht könntest du Tomoko Nachhilfe geben," Ayane
knuffte besagte Tomoko in die Seite und grinste.
"Sei ruhig, du kannst das genauso wenig."
"Ich kann euch allen beiden Nachhilfe geben," leistete sich
Colin und erntete dafür Gelächter und irgendwoher ein
Schulterklopfen.
Kei, der seine Raucherpause beendet hatte, sah seine geliebte Ruhe
gestört, die er bis dahin genossen hatte, da sich nie beonders viele
Menschen in die Nähe seines Sitzplatzes begeben hatten.
Ein stummes Seufzen und ein genervter Blick in Richtung der
Störenfriede reichte ihm aus.
Er setzte sich. "Wie wär's wenn ihr euch verpisst? Danke."
Sein Blick ging wieder aus dem Fenster.
Ein paar ließen sich davon tatsächlich einschüchtern und gingen zu
ihren Plätzen zurück, oder es lag nur daran, dass Englisch nun
beginnen würde.
Colin sah zu Keisuke und dann zurück zu Ayane und Tomoko. "Er
verwechselt 'hospitality' und 'hostility', scheint mir." Die
beiden lachten ein bisschen und machten sich auch zu ihren Tischen
zurück. Colin kletterte vom Tisch auf seinen Stuhl und tauschte
Mathe- gegen Englischbuch aus.
Keisuke nahm sein Zeug hervor und tat so, als würde er dem
Unterricht folgen, er schrieb lediglich das nötigste und sah lustlos
auf die Tafel und immer mal im Raum umher. Colin ignorierte er
einfach. Nahm nebenbei zur Kenntnis, dass dieser tatsächlich
Japanisch konnte und kaute auf seinem Lippenpiercing herum, während
er sich wünschte, dass der Schultag entweder enden oder spannender
werden würde.
Während Englisch durfte Colin ein bisschen öffentlich von sich
erzählen und tat dies roboterhaft, mit geübter
Begeisterungslosigkeit, bearbeitete die Aufgaben genauso schnell wie
in Mathematik und vertrieb sich so gut wie die ganze Zeit weiter mit
seinem Buch, bis es endlich zur Mittagspause läutete.
Am Ende der Stunde, Kei hatte seine Aufgaben gerade mal angefangen,
meldete er sich ab. Schenkte dem Lehrer einen mehr als tödlichen
Blick und musste daraufhin keine Proteste befürchten. Dass die Pause
sowieso gleich anfangen würde, war ihm gleich. Er hatte nicht vor,
an diesem Tag wieder zurückzukehren.
Am Abend desselben Tages stieg Colin um kurz vor sieben Uhr vor der
Konzerthalle in der Innenstadt aus einer schwarzen Limousine,
begleitet von einer mit engem, langem Kleid, Seidenschal und langen
Handschuhen bekleideten Dame, die ihm nach dem Aussteigen gleich das
schicke Jackett zurechtklopfte. Er nahm den Geigenkasten entgegen,
den der Fahrer ihm reichte, und entwand sich sichtlich genervt seiner
Mutter.
Kei, der sich gerade sein Abendessen besorgt hatte, stand über dem
Blutbad in einer dunklen Gasse nahe eines Straßenstrichs, der sich
unweit eines Konzertsaales befand. Er nahm dem Toten neben dessen
Blut auch sein Geld ab. Verbrannte die Papiere, die er bei sich
getragen hatte. In einem dunklen Club ging er sich die Hände waschen
und bestellte einen Drink.
Ihm war ein Werbeflugblatt für ein klassisches Konzert über den Weg
geflattert.
-- Tschaikowskys Traumtänzer--
- Adrian Mills-Cohen -
- Kaori Yamagata -
- Colin Hammerer -
- Sarah Wu -
Kei dachte nach, über den Flyer den er gesehen hatte. Da stand
tatsächlich der Name des Neuen drauf. Zufall? Wohl kaum. Und
klassische Musik war nicht gerade eine seiner Begeisterungen. Davon
gab es sowieso wenige. Aber es wäre etwas, das er tun könnte um die
ewige Zeit totzuschlagen.
Er zahlte seinen Drink mit dem geraubten Geld und warf das Glas
einfach an die Wand hinter dem Tresen.
Draußen ging er umher, sich darüber wundernd, dass ihm niemand
hinterherlief.
Auf dem Dach der Konzerthalle gab es ein Glasdach, auf dem der junge
Mann sich niederließ. Neben einem offenen Fenster. Colin würde nie
erfahren, dass er tatsächlich dorthin gekommen war um sich den
anderen beim Spielen anzuhören.
Colin hörte dem Pianisten und der Cellistin bei ihrem angeregten
Privatgespräch zu, weil er nunmal danebensaß, und starrte dabei auf
das Schaltpult, das da an der Wand hing und von dem aus man die
Kulissen und Lichter bedienen konnte.
Noch fast zehn Minuten bis sie rausdurften. Und dann erstmal stimmen.
Und dann endlich für eine gute Stunde kein Zombie sein. Er umarmte
gelangweilt seine Geige.
Nach dem Stimmen auf der riesigen Bühne kam der Dirigent unter
Applaus ebenfalls heraus und begann damit, das Orchester und die vier
Solisten vorzustellen. Sarah Wu habe bereits dies und das gemacht,
Adrian Mills-Cohen gerade geheiratet - Extra-Applaus! - und würde
bald eine Professur in New York antreten, blah blah, Colin Hammerer
habe mit seinen 14 Jahren schon mit He Wang Bao und Gerhard Oppitz
gespielt und man solle sich nicht durch sein zartes Alter und die
unschuldige Erscheinung hinters Licht führen lassen sondern ihm erst
einmal zuhören.
Dann begann endlich die Musik. Erst hob das Orchester an, und nach
und nach setzten dann die Soli ein und wechselten sich ab.
Colin lächelte die ganze Zeit. Das machte er nicht mit Absicht. Er
schloss zwischendurch die Augen und wand sich mit der Geige durch die
Musik der anderen Solisten, als ob sie greifbar wäre und sich wie
lange Schleifen über die Bühne schlängelte.
Kei war geplättet. So jung hätte er Colin nicht geschätzt. Er
hatte dessen Vorstellungsmonolog vor der Klasse einfach ignoriert.
Trotzdem hörte er dem Gespielten zu und legte sich auf dem Dach hin.
Das war sogar gar nicht mal unbequem. Beobachten tat er ihn nicht.
Stattdessen sah er sich um. Natürlich konnte er seinem Mitschüler
auch den Tag verderben. Er fand eine Münze in seiner Tasche.
Blutverschmiert. Die konnte er ihm nicht einfach in die Geige fallen
lassen. Dann eben nicht heute.
Er hörte dem Kleinen lieber weiter zu. Geige spielen konnte er. Das
klang schön. Warum war er nie zuvor auf ein klassisches Konzert
gegangen?
Keisuke begann, mit der blutigen Münze zu spielen und warf sie hoch,
fing sie wieder auf und so weiter.
Von der Musik abgelenkt vergaß er die kleine Münze irgendwann. Sie
musste herunterfallen - direkt vor Colins Füße.
Colin runzelte die Stirn und hielt kurz inne, als die Münze vor ihm
vom Parkett abprallte und machte instinktiv einen Schritt zurück.
Der Bogen kratzte mit einem unschönen Kreischen über die Saiten,
als ihm die Münze ins Gesicht sprang.
Das Orchester spielte professionell weiter, doch aus dem Publikum
waren ein paar überraschte Geräusche zu hören, und Sarah Wu, die
gerade kein Solo hatte, ging besorgt zu Colin, der sich verwirrt über
das Gesicht wischte und nachsah, ob eine Saite gerissen war. Die
Cellistin sprang derweil spontan für ihn ein und nahm seine
fallengelassene Melodie mit ihrem viel tieferen Instrument gekonnt
auf.
Kei machte kurz ein Uppsgesicht trauerte seiner blutigen Münze
hinterher.
Hörte den unter ihm Spielenden aber weiterhin zu.
Colin bemerkte die Münze, hob sie auf und steckte sie schnell ein,
als Sarah Wu sein Gesicht nach Kratzern untersuchte. Sie nickte ihm
zu, er nickte zurück und spielte bei seinem nächsten Einsatz
weiter. Bei den ersten Takten klatschten einige Zuhörer kurz.
Kei, der seinen blutigen Talisman sehr mochte, wollte diesen
natürlich wiederhaben und sah so gar nicht ungern, dass Colin die
Münze einsteckte.
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