Kei bedankte sich, als er sein Zeug bekam und schüttelte leicht den
Kopf.
"Nein. Aber ich sehe es mir an, wenn ich auf dem Rückweg bin,"
versprach er.
Er mochte Teehäuser. Zwar war er kein allzu großer Teetrinker, aber
sie waren einfach schön.
Colin nickte zufrieden. Dann stand er nur so rum und musterte Kei.
Kei lächelte leicht, als er sich die Tasche umhängte.
"So. Ich bin dann mal weg, bevor deine Mutter mich hier
erwischt. Sie ist ja nicht besonders gut auf mich zu sprechen,"
erklärte er und schaute dem Kleineren dabei in die Augen.
Colin erwiderte den Blick, immer noch friedlich. "Ja. Warte."
Er machte einen Schritt auf Kei zu, streifte ihn dabei etwas und
lehnte sich neben ihm auf die Fensterbank, um hinauszusehen.
"Vielleicht sind die Hunde draußen," erklärte er leise,
etwas verschämt. Er war in Lügen und Vorwänden gleichermaßen
schlecht. Vielleicht war Kei es aber auch einfach egal und es fiel
ihm nicht auf, dass er nur dicht neben ihm stehen wollte. "Bei
dem Regen aber eher nicht mehr," er zuckte wieder mit den
Schultern und richtete sich wieder auf.
"Ich bin ein bisschen schneller als deine Hundchen," sagte
Kei mit einem Hauch Amüsiertheit. "Worauf warten?" wollte
er wissen und schaute ein bisschen hinaus in den Regen. Dieser war in
den letzten Minuten zu einem starken Schauer mutiert. Ihm fiel zwar
auf, dass Colin der schlechteste Lügner der Welt war, aber er ließ
das Kommentieren davon einfach bleiben.
"Möchtest du einen, äh... Regenschirm haben?" fragte
Colin. "Oder vielleicht... warten bis der Regen nachlässt?"
Kei dachte kurz nach, lächelte ein ganz kleines bisschen. "Warten
ist gut." Er bezweifelte, dass ein Schirm bei dem Regen auch nur
den kleinsten Hauch von Schutz geben könnte und der Vampir hatte
keine wirkliche Lust darauf, wieder bis auf die Knochen nass zu
werden.
Colin gönnte sich wieder ein Lächeln und ging gemächlich zum
Schreibtisch zurück, um seine eigenen Schulsachen einzupacken.
"Willst du die E-Geige mal ausprobieren?"
"Das könnten deine Ohren bereuen, aber gern." Kei hatte
nie eine Geige mit der Absicht, ihr einen Ton zu entlocken, in der
Hand gehabt.
Er setzte seine Tasche wieder auf dem Boden ab.
Colin hockte sich vor den Verstärker, stöpselte ihn ein und
schaltete ihn ein, stellte ihn dann etwas mehr in den Raum hinein und
nahm die Geige auf die Schulter. Aus dem Regal nahm er einen Bogen,
spannte ihn und begann, die Saiten zu stimmen. Nach weniger als einer
Minute war er zufrieden und schaltete einen kleinen Regler an der
Geige ein.
Kei sah ihm dabei zu und ging zum Verstärker herüber. Seiner
Meinung nach stand Colin die Geige wirklich gut. Genau, wie ihm der
Anblick von Colin in Zivilkleidung - so ganz unförmlich - ziemlich
gut gefiel.
Das behielt er jedoch für sich.
Nachdem er noch die Lautstärke etwas ausprobiert hatte und damit
zufrieden war, hielt er Kei die Geige und den Bogen hin.
Kei nahm die Geige und den Bogen entgegen.
"Wenn du keinen Hörschaden erleiden willst, musst du mir
helfen, ich hatte noch nie eine Geige in der Hand," erklärte
er. Sein Blick war freundlicher geworden. Zwischendurch folterte er
sein Piercing, das nur als schwarze Kugel direkt unter der Unterlippe
sichtbar war.
"Okay, also zuerst hör auf, auf deiner Lippe herumzukauen. Wenn
du deinen Kiefer so bewegst, während du Geige spielst, beißt du dir
nur die Zunge ab." Er nahm seine Geige vom Bett und klemmte sie
sich auf die Schulter. "Mach es so wie ich. Das schwarze
Plastikteil da ist für dein Kinn."
Kei folgte Colins Anweisungen und tat dem Stecker an seinem Mund auch
den Gefallen, ihn in Ruhe zu lassen.
"So?"
Colin nickte und hielt Kei seinen Bogen hin. "So hält man den
Bogen."
Kei begann ein wenig deutlicher zu lächeln, und hielt den Bogen, so
wie es ihm gezeigt wurde.
"Halte deine Finger locker, damit sie nicht verkrampfen. Das
passiert am Anfang leicht, wenn du dich darauf konzentrierst, den
Griff so zu halten." Er setzte den Bogen auf die Saiten und
strich sanft und langsam über die tiefste.
Das war tatsächlich nicht so einfach, wie es aussah. Der erste Ton,
den Kei dem Instrument vorsichtig entlockte, war sehr schief. Der
nächste Versuch war etwas besser.
"Du musst den Bogen ruhig halten und darfst nicht drücken.
Probier die anderen Saiten aus. Es wird alles ein wenig...
künstlicher klingen als bei mir." Er nahm seine Geige wieder
herunter.
Kei probierte ein wenig herum und fand den Klang einer E-Geige
ziemlich ungewohnt, aber irgendwie gut, auch wenn er das Instrument
nicht spielen konnte. Ein paar gar nicht mal so dramatisch schlecht
klingende Töne bekam er heraus. Das Probieren machte ihm sichtlich
Spaß.
Colin sah lächelnd zu und nickte ermutigend. Er zeigte Kei ein paar
einfache Griffe und zeigte dabei auf die Saiten, die er gleichzeitig
streichen sollte.
Kei, der mit einer Gitarre ziemlich geschickt war, stellte sich beim
Greifen auf der Geige zwar weniger gut, aber nicht gänzlich dämlich
an. Die Handhaltung war für ihn mehr als ungewohnt.
Mit einem leichten Lächeln, das vor allem seiner gar nicht mal so
unterirdischen Leistung geschuldet war, spielte er unter Colins
Anweisung. Es machte ihm Spaß.
Colin lächelte breiter und zeigte Kei eine einfache Melodie. Es
gelang ihm nach einer Weile, dem Instrument die gewünschten Töne zu
entlocken, wenn auch etwas holprig. Dass er eigentlich nur kurz
vorbeikommen wollte, hatte er längst wieder vergessen.
Colin nickte und ließ Kei damit weitermachen, während er sich auf
das Bett hinter sich setzte und sich seine Geige auf den Schoß
legte. Er sah Kei gespannt und mit wachsender Amüsiertheit zu. Der
Vampir machte einfach weiter damit, mit leichtem Lächeln auf den
Lippen, Colins Geige ein wenig zu malträtieren. Eine ganze Weile
sogar. Colin faltete seine Beine in einen Schneidersitz, stützte die
Ellenbogen auf die Knie und sein Kinn in eine Hand. Er schmunzelte
friedlich.
Als das Telefon in seiner Hosentasche anfing zu plärren, nahm Kei
das Instrunment herunter und nahm das kleine nervige Gerät in die
Hand. Ein Anruf. Er ging dran und grüßte den Anrufer mit: "Was
willst du? Wo hast du meine Nummer her?" Nachdem er dem anderen
kurz zugehört hatte, sagte er: "Klär das nicht mit mir. Ruf
Izawa an." Er legte auf.
Genervt seufzte er.
Colin hob die Augenbrauen. Er musterte Kei. Der schaute ihn
schulterzuckend an und kommentierte sein Telefonat mit: "Ein
nerviger Penner."
"Und wer war am anderen Ende der Leitung?" Colin kniff die
Augen zusammen. Warum kann ich mir das nicht verkneifen?! Grrr.
Kei steckte das Handy wieder weg. "Ein Typ, der nichts besseres
zu tun hat, als mir auf den Sack zu gehen," erklärte er
möglichst nichtssagend.
Colin musste nicht wissen, mit wem er telefonierte.
"Es gibt noch einen? Und ich dachte, ich wäre der Einzige!"
Colin legte sich eine Hand auf die Stirn und schluchzte filmreif.
Gleich darauf musste er grinsen.
Jetzt musste auch Kei lachen.
"Da muss ich dich leider enttäuschen, du wirst dir diese Ehre
teilen müssen."
"Ehre? Das ist harte Arbeit! Hast du eigentlich eine Vorstellung
davon, wieviel Zeit und Aufwand dafür draufgehen, dir fachgerecht
auf die Nerven zu gehen?"
"Ich hatte angenommen, dass das inzwischen zum Hobby geworden
ist." Kei grinste. "Ich kann mir aber vorstellen, dass das
seeehr zeitraubend ist."
Colins Augen wurden groß. "Und wiiee!"
"Es scheint dich nicht zu stören. Sonst würdest du's ja nicht
machen." Er grinste immer noch. "Irgendwas muss ich an mir
haben."
Colins Lächeln wurde süffisant, aber er sagte nichts und musterte
Kei nur weiter.
Kei grinste weiter und musterte Colin ebenfalls.
"Du siehst surreal aus," sagte Colin nach einer Weile,
immer noch amüsiert. "Ich habe dich mir nie mit Violine
vorgestellt," erläuterte er.
"Ich mich mir auch nicht," sagte Kei dazu. Er fand, dass
ihm die Gitarre bestimmt besser stand als eine Violine. Mittlerweile
hatte er das Instrument vorsichtig auf Colins Bett gelegt.
Colin setzte die Füße wieder auf und beugte sich vor, um den
Verstärker auszuschalten.
"Du hast dich aber sehr gut angestellt."
"Danke." Er lächelte leicht, ganz leicht. Dieses Mal in
Richtung Colin.
Er setzte sich neben Colin und schaute kurz aus dem Fester. Es goss
noch immer.
"Ja. Sehr geschickt." Colin griff nach seiner stromlosen
Holzgeige und stellte sie sich wie eine Gitarre auf den Schoß, griff
dann irgendwelche Saiten und zupfte sie sachte.
"..." Er wirkte verlegen, als wolle er etwas sagen, aber
nicht auf seine übliche beklommene Weise. Er lächelte zufrieden,
während er herumklimperte.
Kei grinste. "Ich bringe dir mal meine Gitarre mit," sagte
er freundlich. Das was Colin da gerade fabrizierte klang wirklich
interessant, also positiv interessant. Colin grinste ihn an, dann
machte er ein unernstes zweifelndes Gesicht.
"Hast du vielleicht eine Ukulele? Deine Gitarre ist bestimmt
viel zu groß und schwer für mich." Er versuchte erfolglos,
sein Grinsen in Schach zu halten. Kei schmunzelte. Er stellte sich
vor, wie Colin mit einer Gitarre umgehängt, zu Boden gezogen wurde.
Hinzu kam eine Comicoptik. Vergeblich versuchte er ebenfalls, die
allzu offensichtlichen Gedanken aus seinem Gesicht verschwinden zu
lassen. Die Vorstellung war zu gut. Er fing an zu lachen. Als er sich
wieder einigermaßen gefangen hatte, sagte er: "Das schaffst du
schon, du bist schon groß."
Colin hatte mitgelacht und machte jetzt wieder große Augen. "Findest
du wirklich?" fragte er hoffnungsvoll. "Werde ich jetzt
endlich Feuerwehrmann?"
Kei kam aus dem Grinsen, Schmunzeln oder Lachen gar nicht mehr
heraus. "Nein... Dafür bist du noch zu klein. Aber nur ein
bisschen."
"Ah, muss ich dann doch mein Gemüse aufessen... damit ich noch
wachse," brummte Colin zerknirscht. "Meine Eltern sind
übrigens gar nicht da, du kannst also nicht rausgeschmissen werden.
Sie arbeiten heute abend beide."
Kei war tatsächlich gar nicht mal wenig froh darüber, immerhin
konnte er so, wie Colin schon sagte, nicht rausgeworfen werden und,
was noch viel besser war, er musste sich gar nicht mit Colins Eltern
herumschlagen.
"Warum warst du denn nicht in der Schule?" Colin war
aufrichtig interessiert.
"Ich hab geschlafen," sagte Kei.
Colin stutzte kurz, nickte dann und klimperte weiter.
"Did you practice your English," fragte er langsam.
"Not today," erwiderte Kei, er hatte gelernt. Wirklich
ernsthaft gelernt.
Er verunglimpfte das Gezupfe mit Griffen in Colins Saiten. Der musste
schmunzeln und nahm seine Hand weg, um Kei da machen zu lassen.
"Gute Aussprache."
Kei verunglimpfte munter weiter, sodass da irgendwas extrem Schiefes
bei herauskam und grinste.
"Thanks."
Colin legte den Kopf schief und sah Kei vorwurfsvoll an. "Hör
auf, Jenny zu befummeln. Sie mag das nicht. Das hörst du doch. Sie
sagt nein."
Kei prustete beinahe los vor Lachen. "Ein schönerer Name ist
dir nicht eingefallen?"
"Nein," sagte Colin mit beinahe ernstem Gesicht. "Keisuke
war leider schon vergeben." Er brachte es fertig, Kei
offenherzig anzusehen, aber man konnte ihm deutlich ansehen, dass er
sich anstrengen musste.
Kei hatte lange nicht mehr so viel gelacht. "Es gibt noch mehr
schöne Namen," kommentierte er und versuchte ebenfalls ernst zu
klingen, was ihm aber hoffnungslos misslang.
"Stimmt. Kunibert. Und Helga."
"Neee."
"Sondern? Archibald? Hirohito? Akihito?"
"Ne. Ich hab ne Idee. Nimm eine Sprache, die keiner von uns kann
und blättere blind in einem Wörterbuch."
"Hmm..." Interessanter Einfall. "Taugt die
Schulbibliothek was? Ich war noch nicht da."
"Tatsächlich tut sie das. Da könnte man fündig werden, wenn
man diverse Wörterbücher sucht," meinte Kei. Nur afrikanische
Sprachen würde man dort wohl nicht finden, aber sonst...
"Hast du eigentlich noch andere Namen?"
"Wie, andere Namen? Meinst du Zweitnamen?"
Colin nickte.
Kei verneinte das. "Ich habe nur einen Vornamen. Hast du nen
zweiten?"
Er nickte. "Ich habe zwei. Also insgesamt drei. Also Vornamen."
"Verrätst du die?" fragte Kei.
Colin nickte wieder und zuckte mit den Schultern.
"Colin Taliason Alasdair."
Kei hatte die letzten beiden Namen noch nie in seinem Leben gehört.
"Klingt ungewöhnlich, wo kommen die letzten beiden her?"
"Alasdair ist ein gälischer Name. So heißt mein Opa, und
Taliason ist mein toter Onkel. Der Name ist glaube ich aus Wales. Ich
weiß aber nicht, was sie bedeuten."
"Schade." Kei hätte das gern gewusst. Er mochte Namen.
Japaner suchten Namen häufig wegen des Klanges aus. Er würde nie
erfahren, was sich seine Eltern bei der Namensgebung gedacht hatten
und als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hätte, war er noch zu
klein gewesen um darüber nachzudenken.
"Das lässt sich leicht herausfinden." Colin legte die
Geige aufs Bett und stand auf, um zum Schreibtisch zu gehen. Kei sah
ihm nach.
"Fragst du das Internet?"
"Ja." Er schaltete Bildschirm und Rechner an und setzte
sich auf den Drehstuhl, mit dem er daraufhin zu Kei zurückrutschte,
während der Rechner hochfuhr.
Der Bildschirmhintergrund war schwarz mit dem Bild einer vergilbten
Porträtzeichnung in der Mitte. Colin rutschte zum Schreibtisch
zurück, öffnete einen Browser und tippte herum...
Kei ging zu ihm herüber und schaute auf den Bildschirm.
"Uh... 'leuchtende stirn'? Da steht 'shining forehead' für
Taliason."
Kei grinste und schaute auf Colins Gesicht. "Ne, passt nicht,
außer es ist dein Geist oder so gemeint."
"Strahlende Stirn, hmm... bescheuert."
"Hier steht noch, dass ein Seher und Dichter so hieß. Dann
ergibt die strahlende Stirn einen Sinn."
Kei nickte. "Dann ja."
Er suchte nach dem anderen Namen und klickte durch ein, zwei Seiten.
"Alasdair soll die schottische Version von Alexander sein. Bla
bla, Verteidiger der Menschen..."
"Es klingt auf jeden Fall schön. Auch wenn mir nicht einfällt
wen du verteidigen könntest." Kei grinste.
Colin bedachte Kei mit einem abschätzigen Blick aus dem Augenwinkel.
Dann begann er, nach 'Keisuke' zu suchen.
Kei schaute auf den Bildschrim.
Colin klickte auf den angebotenen Wikipediaartikel.
"Mister Miyagi aus Karate Kid heißt so wie du. Und die meisten
Berühmtheiten namens Keisuke sind Fußballer." Colin lachte.
Kei kommentierte das mit: "Ich bin kein besonders guter
Fußballspieler."
"Nein. Du bevorzugst Bloodsports." Colin lächelte sachte
und sah dann ernst zu Kei auf. Kei grinste minimal bei Colins
Kommentar.
"Ich muss dir was erklären, glaube ich," sagte Colin und
sah auf Keis Hose. "Lass mich ausreden, ja? Auch wenn es für
dich vielleicht keinen Sinn ergibt."
Kei nickte. "Okay..."
Er war gespannt, was Colin eventuell sinnloses zu sagen hatte. Mochte
er doch gerade solche Gesprächsanfänge überhaupt nicht.
"Also... was meine komische Reaktion angeht, nach der du gefragt
hast... Ich nehme dir übel, dass dir nicht leidtut, was du mit mir
gemacht hast," beichtete Colin leise, indem er wieder zu Kei
aufsah. "Aber ich weiß, dass das vielleicht nicht ganz fair
ist, weil du ja kein richtiger Mensch bist und so. Vielleicht
funktioniert das bei dir ja anders, und du hast nie Schuldgefühle.
Das wäre dann gut für dich, weil sie dich am Überleben hindern
würden... Aber dann kannst du nicht mit Menschen umgehen. Hat dir
niemand beigebracht, dass man Leute, die man mag, nicht... so
überfällt und dann ohnmächtig auf der Straße liegen lässt? Und
wenn du mich nicht umbringen willst, hättest du dich hinterher mehr
zurückhalten sollen. Letzte Woche." Es fiel ihm schwer, das
alles zu sagen, er war nicht so mutig. Er gab sich die Blöße. Er
machte sich für Kei verwundbar, ausgerechnet vor ihm, der ihm schon
gesagt hatte, dass ihm sein Zustand egal war. Aber er war
hiergeblieben und war in der Zeit scheinbar ehrlich glücklich
gewesen. Heute war er auch offen und interessiert, er sah ihn
ausnahmsweise nicht wie ein Raubtier an.
Kei hörte ihm aufmerksam zu. Schuldgefühle hatte er tatsächlich
keine. Dieses Gefühl war ihm vollkommen fremd. Nachdem er eine Weile
über das von Colin Gesagte nachgedacht hatte, begann er zu erklären:
"Mir hat nie jemand erklärt, was man tun und nicht tun darf
oder sollte. Nur, dass ich irgendwie überleben muss und möglichst
nicht dabei draufgehe oder jemand weiß, wer ich bin." Er machte
eine Pause.
Wie erklärte man, dass man nicht weiß, was gut oder schlecht ist
oder gar, wie man sich schuldig fühlt?
Dem Vampir war es vollkommen egal ob jemand starb oder getötet
wurde.
Nur Colin wollte er nicht umbringen. Soziale Interaktion, vernünftige
vor allem, war ihm größtenteils unbekannt. Irgendwo war ihm Colins
Gesundheit nicht einmal völlig egal, das wusste er auch. Sonst würde
er immerhin nicht ständig an ihn denken. Oder gar - sich Sorgen
machen. Ein bisschen.
"Ich bin überwiegend allein groß geworden. Da gab es nie
jemanden, der mir irgendwas erklären konnte. Nicht lange
jedenfalls."
Colin musterte Keis Gesicht.
"Du hast keine Eltern?" Er klang eher interessiert als
schockiert.
"Nein. Nicht mehr," erklärte Kei, als sei das was völlig
normales. War es für ihn ja auch.
"Wie lang bist du schon allein?"
Kei dachte kurz nach. "Ich lebe seit drei Jahren ganz allein,
davor einige Jahre hier und da."
Er fügte noch hinzu, dass er keine Eltern mehr hatte seit er fünf
oder sechs Jahre alt gewesen war.
"... Hattest du einen Vormund oder andere Verwandte?"
"Das Amt bestimmt mal, irgendwann war ich abgehauen. Dann
niemanden mehr. Verwandte habe ich keine von denen ich weiß."
Colin staunte ihn unverhohlen an. Er drehte sich mit dem
Schreibtischstuhl zu ihm.
"Warum gehst du zur Schule?"
"Um nicht den ganzen Tag sonstwo zu verbringen und damit mir
keiner auf die Nerven geht, bis ich mit der Schule fertig bin.
Dadurch, dass ich tatsächlich gemeldet bin, weiß die Präfektur
oder wer auch immer da die Register führt, dass ich siebzehn Jahre
alt bin. Ich will nicht, dass die mir auf den Sack gehen, nur weil
ich die Schule schmeiße," erklärte er.
"Das erklärt so viel..." Colin stand auf. Kei schaute ihn
an und wusste nicht so ganz, was genau seine Erläuterung Colin jetzt
erklärt hatte.
Colin schluckte und blickte seitwärts auf seinen Schreibtisch. "Ich
mag dich wirklich, weißt du?" Er wusste nicht, wohin mit seinen
Händen, und steckte sie in seine Bauchtasche. "Und du hast
gesagt, dass du mich magst, und das glaube ich dir sogar... aber ich
weiß nicht, wie. Du behandelst mich mehr wie... " Er kratzte
sich am Nacken.
Kei lehnte sich an Colins Schreibtisch, sodass er ihm direkt
gegenüberstand, eher halb saß, und betrachtete den Jüngeren
weiter. Nickte leicht.
Ihm fiel kein passendes Wort ein, mit dem er Colins Satz beenden
konnte, das nicht völlig daneben klang. Etwas zu essen, war das
erste, was ihm einfiel, wobei das auch nicht passte, weil man sein
Essen nicht K.O. schlägt um es dann liegen zu lassen. Er sagte
leise: "Nicht so, wie man jemanden behandeln sollte, den man
mag..."
Colin wagte es, ihn kurz anzusehen und nickte etwas.
"Wie ein Ding." Er brachte es nicht fertig, Keis
außerirdische Augen weiter anzusehen und senkte den Blick wieder.
"Das ist auch in Ordnung, das würde ich mitmachen."
Braucht er überhaupt mein Einverständnis? "Aber ich
möchte es wissen. Soll ich dein Besitz sein? Oder dein -" Er
benutzte alle schamvollen, bescheidenen Floskeln, die die Regeln der
japanischen Konversationskunst kannten. Das war sein Schild aus
Formalität gegen seine Scham für diese Offenheit.
Kei benutzte viele von Colins Höflichkeitsfloskeln äußerst selten.
Auch war er überhaupt nicht gewohnt, dass jemand so vernünftig mit
ihm sprach. Und er noch nicht Reißaus genommen hatte.
Er lächelte irgendwann ganz leicht.
Begann in seinem Kopf nach englischen Vokabeln zu kramen.
"I do not need you... as a property... but as mine." Er
brauchte eine ganze Weile um diesen Satz zu formulieren.
Colin wurde rot.
"Du hast ja wirklich geübt," flüsterte er und sah Kei
zuerst immer noch nicht an. "Okay," man konnte sehen wie er
sich zusammennahm, bevor er zu Kei aufsah. Seine Stimme war aber noch
nicht ganz wiederhergestellt. "So... kiss me?"
Dieser Bitte kam der Vampir sehr gern nach.
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