Hier geht es zum ersten Teil.
Am nächsten Morgen fing er den Jüngeren vor dem Eingang zum Gebäude ab.
Am nächsten Morgen fing er den Jüngeren vor dem Eingang zum Gebäude ab.
"Colin!" Mit Höflichkeiten hielt er sich nicht auf.
Colin stutzte. "Äh... Kerl."
"Kei, aber das tut nichts zur Sache. Du hast was gefunden, das
mir gehört, ich hätte es gern zurück." Von Freundlichkeit war
in seiner Stimme kein Hauch zu vernehmen.
Colin sah kurz überlegend zur Seite.
"Äh. Deine Höflichkeit? Die könntest du fallengelassen haben,
als du mich gestern angerempelt hast."
"Nein, etwas größeres."
Colin musste plötzlich lachen.
"Okay, dein Ego?"
"Kleiner. Etwas greifbares. Es ist dir vor die Füße gefallen."
Colin lächelte freundlich. "Du irrst dich. Das Schulbuch gehört
mir." Er schob die Hände zurück in die Hosentaschen und machte
Anstalten, an Kei vorbeizugehen. Dessen Geduldsspanne war nicht
gerade die längste, also hielt er den kleineren mühelos an der
Schulter fest und somit auf.
"Die Münze, du Blitzbirne. Die blutige, wenn dir das denken
hilft."
Colin blickte finster auf. "Fass mich nicht an."
"Heul nicht rum und gib mir die Münze zurück, dann kannst du
da gern hineingehen." Keis gelangweilter Blick hatte sich zu
Aggression gewandelt. Colin versuchte, sich mit einem Ruck aus seinem
Griff zu befreien und weiterzugehen, doch Kei drückte nur fester zu.
"Hörst du schwer?"
Colin kniff aus Unwohlsein die Augen etwas zusammen, aber blieb bloß
stehen und ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten.
"Ja. Ich bin furchtbar schwerhörig. Könntest du das bitte
wiederholen? Laut, bitte."
Anstatt die Stimme zu erheben, hob Kei den Kleineren einfach in die
Luft und drückte ihn an die Wand. "Du hast mich genau
verstanden, Zwerg."
Der Zwerg vergaß vor lauter Verblüffung, sich zu wehren und guckte
den Verrückten nur entgeistert an.
"Hast du sie noch alle?"
"Nein. Damit das geklärt ist. Und jetzt rück meine Münze
raus." Kei machte gar nicht erst den Versuch, zu erklären, dass
ihm etwas viel an dem kleinen Stück Metall lag. Er trug es seit
jenem Tag mit sich herum. Immer. Was war er auch so dumm gewesen,
ausgerechnet diese Münze fallen zu lassen...
"Es sind lächerliche hundert Yen, du Wahnsinniger!"
"Hör das Diskutieren auf und gib sie mir zurück." Keis
Blick wandelte sich von Aggression zu etwas anderem. Wut vielleicht.
Etwas derartiges, nur tödlicher. Colin konnte gerade noch schlucken.
"Okay, lass mich los," flüsterte er.
Kei ließ ihn los - ohne ihn abzusetzen. Machte aber keine Anstalten
ihm Raum zur Flucht zu geben und wartete. Beim Herunterkommen
rempelte Colin ihn etwas an und richtete sich eilig wieder auf. Er
griff in seine Hosentasche, zog die Hand wieder heraus, blickte auf
die kleine Münze und
- steckte sie sich in den Mund. Er sah Kei ins Gesicht und schluckte
demonstrativ.
Keis Geduld war endgültig am Ende.
"Spuck die verdammte Münze aus, oder es klebt DEIN Blut daran."
Das brachte Colin wieder zum Lachen und er lehnte sich zurück an die
Wand. Er bewegte den Mund etwas, grinsend, öffnete ihn dann und
streckte kurz die Zungenspitze heraus, auf der die Münze lag.
Nachdem er den Mund wieder geschlossen hatte, schmunzelte er immer
noch.
Am liebsten hätte Kei ihm das Gesicht zerschnitten. Das käme in der
Schule allerdings schlecht. Ein bisschen jedenfalls. Mit einem
Messer, welches er aus seiner Hosentasche zog, strich er Colin über
die Wange.
"Gib mir die Münze wieder, du bereust das noch," sagte er
fast schon zu freundlich.
Als er das Messer bemerkte, hörte Colin auf zu lächeln und
versuchte, kontrolliert zu atmen und Kei weiter fest anzusehen. Er
sah aber eher fasziniert als ängstlich aus.
Nachdem er Keis Gesicht etwas gemustert hatte, öffnete er langsam
wieder den Mund und schob sich die Münze zwischen die Lippen.
Keis Gesicht verzog sich zu einem mörderischen Grinsen.
"Danke, Verehrtester," sagte er leise, kam dem Jüngeren
sehr nahe. Die Münze holte er sich mit den Zähnen zurück.
Mit dem Stückchen nicht mehr wirklich blutigen Metalls zwischen den
Lippen ließ er schließlich von Colin ab, drehte sich um und ging,
als wenn nie etwas gewesen wäre. Vorher jedoch schnitt er nicht tief
und nicht lang in Colins Arm. Ließ ein, zwei Tropfen Blut auf die
Münze tropfen. "Mach das nicht nochmal," sagte er, während
er durch die Tür ging.
Colin sah ihm nach und schauderte. Als Kei außer Sicht war, zog er
sich den Ärmel wieder herunter und ging zögernd hinterher zum
Klassenraum.
Beim Eintreten vermied er es, jemanden direkt anzusehen und steckte
sich nervös viel häufiger als nötig die Haare hinter die Ohren.
Kei schaute gelangweilt drein, wie den gestrigen Tag auch. Er grinste
kaum merklich als er sah, dass Colin etwas unsicher in den
Klassenraum kam. Er war selbst Schuld. Der Siebzehnjährige genoss
das ein bisschen, ehe er dazu überging, wieder teilnahmslos aus dem
Fenster zu starren.
Colin derweil baute seinen Krempel auf und linste dabei zu Keis Tisch
um zu sehen, was darauf herumlag.
Kei hatte die Münze in der Hand herumgetragen, da das Blut darauf
erstmal trocknen musste. Um sie nicht wieder zu verlieren nahm er
eine kleine Silberkette aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch
zusammen mit Block und Federtasche. Die Kette fädelte er durch die
Münze, die ein kleines Loch zu diesem Zwecke aufwies. Irgendwer
hatte vor etlichen Jahren mal ein Loch hineingebohrt. Kei hatte das
nie interessiert, bisher war ihm die Münze auch noch nie abhanden
gekommen. Er befestigte das nun Schmuckstück an seinem Hals, Noch
rot von Colins Blut.
Colin beobachtete das und wartete, bis Kei mit dem Schließen der
Kette fertig war, bevor er sich zu ihm beugte und flüsterte: "Warum
hast du mich damit beworfen, wenn du sie behalten wolltest?"
"Das war ein Versehen. Ich wollte sie nicht fallen lassen,"
erklärte Kei kurz.
Colin runzelte die Stirn. "Fallen lassen," wiederholte er
trocken.
"Ja. Problem damit? Wenn ich dich damit beworfen hätte, würde
ich sie sicher nicht wiederhaben wollen. Das wäre ein Geschenk
gewesen." Kei verstand nicht ganz, was Colin daran so
ungewöhnlich fand. Bis ihm einfiel, dass er unbemerkt geblieben war
und man denken musste, dass er die Münze geworfen hatte. "Ich
saß auf dem Dach."
Colin gab ihm einen unüberzeugten Blick. "You're shitting me."
"Was kann ich dafür, wenn du nicht schaust, wo die Dinge
herkommen, die ausversehen vor deinen Füßen landen?"
Verstanden hatte er ihn kaum, der Blick war aber eindeutig.
"Das kitschige Glasdach. Ich lag neben dem Fenster, das war
offen. Erklärung genug?"
Kei war angepisst, aber die Aggression von vorhin ließ sich in
seinem Blick nicht vermuten, er schaute einfach genervt.
Colin gab sich Mühe, nicht zu grinsen, war aber offensichtlich
amüsiert. "Warst du da, weil du dir keine Karte leisten
konntest? Oder ist das ein guter Platz für ein Nickerchen?"
"Es ist ein guter Platz für ein Nickerchen," erwiderte Kei
trocken. Dass er wegen Colin dagewesen war, musste der ja nicht
wissen.
Colin lächelte breit. "In dem Fall ... Muss ich dich ja gut in
den Schlaf gewiegt haben. Du warst nicht mal mehr dazu in der Lage,
dein Schmusegeld festzuhalten." Er machte ein fast mitleidiges,
aber eher amüsiertes Gesicht und eine vage, schwächlich winkende
Geste mit der Hand.
"Ja, Einschläfern kannst du auf hohem Niveau. Das muss man dir
lassen." Kei veränderte seine Miene kein bisschen. "Du
hast 'ne große Fresse für deine vierzehn Jahre, Kleiner. Pass gut
drauf auf, wir wollen doch nicht, dass dein hübsches Gesicht kaputt
geht, oder?" Kei war verdammt leicht zu provozieren und sehr
ungeduldig. Er hatte nicht wirklich Lust das Gespräch mit dem
Kleinen fortzuführen, schließlich hatte der ja seine Antwort
bekommen.
Colin hatte seinen Kopf auf die Faust gestützt und Kei dreist weiter
angelächelt, und nickte nun verständnisvoll. "Es rührt mich,
dass du mein Handwerk anerkennst und sogar mein Gesicht hübsch
findest. Ich werde gut darauf aufpassen. Aber wenn nochmal Geld vom
Himmel fällt, kann ich nicht dafür garantieren." Er zuckte mit
den Schultern und machte ein gekonnt unschuldiges Gesicht.
Die Lehrerin rauschte endlich herein, knallte einen dicken Hefter
aufs Pult und verkündete den Beginn des Unterrichts.
"Los, Allemann, Japanisch, Seite 35!" rief sie
feldwebelhaft in den Raum hinein.
Kei hasste diese Frau, aber das tat er mit allen Menschen. Bei Colin
war er sich noch nicht sicher.
"Keine Sorge, die Versuchung wird dir erspart bleiben." Kei
blätterte in seinem Japanischbuch herum und landete irgendwann
tatsächlich auf der gefragten Seite. Beim Lesen fing er wieder damit
an, auf einer seinen grünen Haarsträhnen herumzukauen.
Colin öffnete das Buch auf Seite 35 und wurde als Neuling gleich zum
Vorlesen der halben Seite aufgefordert. Es war ein alter
Zeitungsartikel voller antiquierter Ausdrücke und heute fast
ungebräuchlicher Kanji. Er stand auf und las ihn flüssig vor.
Kei staunte nicht schlecht. Ein weiteres Mal hatte der Kleine ihn
verwirrt und verblüfft. Während er sich fragte, wo Colin diese
Kanji gelernt hatte, las er beiläufig mit und driftete mit seinen
Gedanken ab.
Er sah wieder aus dem Fenster.
Colin beantwortete noch ein paar Fragen zu der Bedeutung einiger der
Wörter und setzte sich wieder. Er folgte einigermaßen interessiert
dem Unterricht und machte sich unaufgefordert ein paar Notizen,
während Kei sein Heft vollmalte, solange er nichts schreiben musste.
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