Hier geht es zum ersten Teil.
Colin saß bei Beginn der ersten Stunde nach der Mittagspause wieder
auf seinem Tisch und unterhielt sich mit Tomoko, Ayane und Shingo. Er
schien sich von jeglichem potentiellen Schrecken völlig erholt zu
haben.
Kei kam in die Klasse und setzte sich. Musterte Colin ein wenig und
schaute aus dem Fenster.
Der Lehrer verspätete sich ziemlich.
Scheinbar waren Colin und die anderen sich darüber einig, nicht mit
Kei oder über ihn zu sprechen, und führten ihr ursprüngliches
Gespräch über das Neujahrskonzert fort, aber nur für ein paar
kurze Minuten, da endlich der Mathelehrer hereinkam. Colin wechselte
von der Tischplatte auf den Stuhl, während die anderen sich auch
setzten, und nahm Buch und Taschenrechner heraus. Er sah Kei nicht
an. Der hatte ganz vergessen wie amüsant die Schule doch sein
konnte. Colins Benehmen war wieder so ein Moment. Er nahm sein
Mathezeug raus und blickte aus dem Fenster. Davor schien nie etwas
los zu sein. Es liefen kaum Menschen dort herum, wenn Unterricht war.
Hin und wieder musterte er Colin.
Seine Lust auf Unterricht war verschwindend gering.
Colin vertiefte sich in die Aufgaben und arbeitete schnell und
effizient wie zuvor, aber er schien trotzdem nicht fertig zu werden.
Ihm fiel nicht auf, dass er zuviel rechnete, bis er beim nächsten
Kapitel ankam. Als er die Überschrift sah, stutzte er, sah
überrascht auf, sah sich um, zu Kei, und dann schnell wieder nach
vorn.
Er pulte schnell sein kleines Buch heraus und beugte sich darüber,
sorgfältig darauf achtend, dass seine Haare Keisukes Blick auf sein
Gesicht verhinderten. Diesmal las er die Noten, indem er ihnen mit
dem Zeigefinger folgte, und starrte regelrecht darauf.
Kei, der bald mit seinen Aufgaben fertig war, hatte nichts weiter zu
tun und beoachtete Colin, der dies offensichtlich nicht wollte. Er
begann, rhythmisch auf seinem Tisch herumzuklopfen und sich damit
abzulenken. Der Unterricht ging zum Glück bald zuende. Lange würde
es bis zum Schulschluss nicht dauern.
Irgendwann murmelte Colin: "Hör auf, mich anzustarren."
Kei musste lachen. "Hm, nein. Den Wunsch erfüll ich dir nicht."
Colin drehte sich demonstrativ weg und lehnte sich mit dem Rücken zu
Kei mit dem Ellenbogen auf den Tisch.
Grinsend sagte der Ältere: "Du bist auch von hinten ganz
ansehnlich." Er blickte irgendwann aus dem Fenster und amüsierte
sich im Stillen.
Colin grunzte missmutig und drehte sich wieder nach vorn.
Kei ging nach dem Klingeln aus der Klasse. Endlich Wochenende.
Draußen regnete es in Strömen. Er zündete sich unter dem Vordach
seine Kippe an und spannte den Schirm auf.
Am Abend rannte Colin ohne Regenschirm, aber mit Kapuzenjacke,
durchnässt auf das Schulgelände. Er kletterte über das
verschlossene Tor und rüttelte an den verschlossenen Türen des
Haupteingangs.
Kei, nachts gern auf der Suche nach Opfern, kam an der Schule vorbei,
da in der Nähe eigentlich immer etwas zu holen war. Lärm drang an
sein Ohr und er drehte sich um. Huh?
Er sprang mühelos über den Zaun und lief in Richtung des Lärms -
erblickte Colin.
"Was machst du um diese Uhrzeit hier?" fragte er den
Kleineren, während er in seine Richtung ging. Colin drehte sich
erschrocken um. Er machte den Mund auf und zu. Er sah einigermaßen
verzweifelt aus.
"Hab ich dir die Sprache verschlagen?" Er besah sich die
Situation. "Soll ich dir helfen, da rein zu kommen?" Kei
grinste. Colin nickte nur eilig. Er machte einen Schritt zur Seite
und gab die Tür frei. Er schien zu erwarten, dass Kei die Tür
eintreten würde oder sowas in der Art. Kei grinste immer noch. Diese
Tür wollte er gar nicht öffnen.
"Die Tür zum Dach ist nie abgeschlossen. Ich bring dich da
hoch, wenn du da unbedingt reinwillst." Er besah sich den
Kleineren und verstand nicht, was er da wollte. Es wollte ihm auch
kein einziger Grund einfallen. Colin hatte immer noch große, etwas
ängstliche Augen, aber nickte entschlossen.
"Ja.
Wo?" Er sah rechts und links an der Fassade entlang. "Wo
kommt man da hoch?"
"Festhalten." Kei nahm Colin halbwegs in den Arm und sprang
aufs Dach. Ohne große Probleme. Es hatte was von Parcour. Oben
angekommen, grinste er schon wieder. "Da wären wir. Das Dach."
Er dachte für den Moment nicht daran, den Kleineren wieder
loszulassen.
"Ah, what the-" Colin hielt sich instinktiv fest, aber auf
dem Dach angekommen, versuchte er sofort, Kei wegzustoßen.
Der grinste nur.
"Der Versuch ist erfolglos, Kleiner. Ich bin stärker als du."
Nachdem er Colin - spaßeshalber - an die Wand des
Dachtreppenhäuschens gedrückt hatte, ließ er ihn aber wieder los.
"Viel Spaß noch. Man sieht sich, Süßer." Kei schlenderte
wieder zum Rand des Daches, blieb dort stehen.
Colin starrte Kei erstaunt und ziemlich schockiert an. Er öffnete
und schloss noch ein paarmal erfolglos den Mund.
"Warte! Was- wie hast du- " Er stieß sich von der Wand ab
und begann auf Kei zuzurennen und rutschte dabei auf dem nassen Boden
aus.
Kei hörte es glitschen und war schneller bei Colin, als dem lieb
sein konnte und hielt ihn vom Fallen ab. "Nicht so eilig,
Kleiner," grinste er. Im nächsten Moment sah man ihn noch vom
Dach fallen. "Bis dann, Süßer," verabschiedete er sich,
während er rückwärts nach unten fiel. Unten landete er wie eine
Katze auf den Beinen und verschwand im Dunkeln.
Colin hockte sich an die viel zu niedrige, praktisch nicht
existierende Brüstung, stützte sich auf die Kante und brüllte
hinterher: "Warte doch! Komm zurück, du Ar-" da fiel ihm
ein, dass Kei gesagt hatte, die Tür sei nie abgeschlossen.
Herauskommen würde er außerdem bestimmt durch irgendein Fenster.
Er stand also wieder auf und ging in die Schule.
Amüsiert saß Kei auf dem Zaun, der das Schulgelände vom Weg
trennte. Was Colin in der Schule machte, war nicht seine
Angelegenheit. Er konnte ihn immer noch fragen, wenn er ihn traf. Er
nahm sich eine Kippe, zündete sie an und rauchte gemütlich. Der
Regen des Tages hatte schon vor einer Weile aufgehört, jedoch war es
noch ziemlich nass. Kei schaute sich um. Hunger nagte an ihm, viel zu
oft in der letzen Zeit.
Keine zwanzig Minuten später kam Colin um die Ecke des Gebäudes in
Richtung Tor gelaufen. Er ging zügig, schien es aber nicht mehr
allzu eilig zu haben. Er wollte offenbar nur schnell wieder weg,
bevor er bei dem kleinen Einbruch ertappt werden konnte. Seine Jacke
war geöffnet und er hatte ihre Ärmel hochgekrempelt.
Kei grinste. "Da ist ja unser kleiner Einbrecher. Das war aber
ein kurzer Besuch." Er hatte seine dritte Kippe in der Hand und
schaute in Colins Richtung. Immer noch hungrig. Irgendwo hoffte er,
dass Colin ihn einfach ignorierte und weiterging. Er beobachtete ihn
genau. Der Junge nickte und lächelte erleichtert. Er war beim Laufen
und Klettern ein bisschen rot geworden und atmete etwas schwerer als
sonst.
"Danke." Er runzelte kurz verwirrt die Stirn. "Wofür
auch immer. Wie hast du das gemacht?" Er trat ans Tor heran und
kletterte hinauf.
"Vergiss das am besten gleich wieder," meinte Kei, Colin
immer noch anschauend. Geh einfach weiter...
Er wollte Colin nicht umbringen, aber ihn leben zu lassen wäre auch
kaum eine Option. Verschwinden wäre eine. Er ließ seine Kippe
fallen und machte Anstalten, sich rückwärts vom Zaun fallen zu
lassen. Colin war gerade oben angekommen und hockte rittlings auf dem
Tor. Als er sah, wie Kei umkippte, packte er ihn sofort vorn beim
Hemd und seinen Arm mit der anderen Hand.
"Pass auf!"
Kei, der sich absichtlich, zwecks Abgangs hatte fallen lassen,
verfluchte Colin diesem Moment. Er hielt sich mit den Beinen am Zaun
und mit einer Hand an seinem Klassenkameraden fest. Zog ihn fast nach
unten.
"Du
lebst verdammt gefährlich," sagte er leise, versuchte an etwas
anderes zu denken als das rote Gold in den Venen des anderen. Colin
hakte sich mit den Füßen und Knien zwischen den Gitterstäben fest
und versuchte, Kei unter Ächzen wieder heraufzuziehen. Es war
offensichtlich, dass seine schmächtige Statur nicht nur seinem
zarten Alter, sondern großer Unsportlichkeit geschuldet war. Er
brachte es trotzdem fertig, trotzig zu entgegnen: "Ich
lebe gefährlich? Du gammelst fast zwei Meter hoch - und wie zur
Hölle bist du mehrere Stockwerke - hrrmgrrf," schnaufte er
angestrengt.
Kei hätte keine Mühe gehabt, so hängen zu bleiben und erleichterte
Colins Arbeit, indem er sich einfach aufrichtete und wieder gerade
auf dem Zaun saß.
"Ja du,"
grinste er, ein wenig mörderisch. "Du solltest Sport machen.
Dann würdest du ein Leichtgewicht wie mich auch hochziehen können."
Kei wog tatsächlich nicht viel. Er war sehr schlank, ohne Gürtel
würde seine Hose ständig herunterrutschen. "Wenn du mich
entschuldigen würdest..." sein Blick wanderte zu einem Mann,
der in eine Gasse in Colins und seiner Blickrichtung schlenderte.
Colin hielt sich dankbar wieder selbst am Tor fest und versuchte,
seinen Atem zu beruhigen. Er entgegnete nichts, sondern folgte nur
Keis Blick. Er sah den Mann und beeilte sich, vom Tor
herunterzukommen.
Kei war schneller unten als Colin und ehe der sich versah, ebenfalls
in der Gasse verschwunden. Um Colin machte er sich wenig Gedanken.
Er schlug den Mann von hinten K.O. - gezielt, geübt - und riss mit
einem Messer dessen Handgelenk auf, bis auf die Aterie. Er verschwand
mit seinem Abendessen hinter einer weiteren Ecke - sicher war sicher.
Leicht blutbeschmiert saß er neben dem Toten, dessen Blut so schnell
in seinem Körper verschwunden war wie Wasser es bei einem Menschen
gewesen wäre. Er sah zufrieden aus und verstaute den Toten in einer
Mülltonne.
An der Hausecke stand Colin und flüsterte "Holy fuck,"
sobald der Deckel der Mülltonne wieder auflag. Er starrte Kei mit
offenhängendem Mund an und stand versteinert da.
Kei, der sich am Hemd seines Opfers den Mund abgewischt hatte, drehte
sich um, als er etwas hörte - und sah Colin da stehen. "Fuck."
Er starrte ihn nur an, einige Sekunden lang.
Ehe er an ihm vorbeiging. "Jetzt hast du's doch rausgefunden."
Er hatte ein zufriedenes Grinsen auf den Lippen, hauchte ihm "Das
wird dir keiner glauben" ins Ohr. Hoffend, dass das stimmte und
Colin die Fresse hielt. Er konnte keinen Stress gebrauchen.
Der Junge starrte weiter und zuckte bei dem Flüstern wieder
zusammen. Er drehte sich um und machte einen Schritt hinter Kei her.
Anstatt etwas zu sagen, brachte er zuerst nur ein quietschendes
Geräusch zustande und griff nach Keis Arm, um ihn aufzuhalten. Kei
blieb stehen. Verblüfft über irgendeine Reaktion. Drehte sich um,
sagte aber nichts. Wartete ab, was Colin wollte. Der sah Keis
Gesicht, schluckte, starrte ehrfürchtig... "Warum..."
-schluckte- "... Warum gehst du zur Schule?"
Colin merkte, dass er Kei noch immer festhielt, ließ ihn los und zog
seine Hand schnell zurück.
Kei war platt. Von all den Fragen, die man ihm hätte stellen können,
stellte Colin diese.
"Ich hab nichts besseres zu tun," antwortete er -
wahrheitsgemäß. Zumal er wirklich erst siebzehn Jahre alt war und
keinerlei Abschlüsse besaß.
Colin sagte "Ah," und starrte nicht mehr ganz so sehr,
hatte aber immer noch große Augen. Er schluckte nochmal und sah kurz
zur Seite.
"Und warum. Warum hast du. Warum hast du mich da warum hast du
mich aufs Dach gebracht?"
"Betrachte das als ehm, nette Geste oder so," sagte Kei.
Colin hatte da schließlich reingewollt.
Er würde sich die Nacht noch um die Ohren schlagen.
"Was hast du gedacht, hm?" er grinste.
Colin musterte Keis Gesicht und der größte Teil der Furcht wich aus
seinem und machte einer typischeren genervten Trotzigkeit Platz. "Ich
dachte, es wäre vielleicht klüger gewesen, sich den Leuten nicht zu
offenbaren - warum grinst du mich eigentlich immer so an? ... Du
wolltest nur angeben," fiel ihm ein.
"Natürlich wollte ich das," gab Kei zurück. "Du bist
ein amüsanter kleiner Kerl."
Er war sich ziemlich sicher, das sein nicht ganz so kleines Geheimnis
bei Colin gut aufgehoben war. Die Frage nach dem Grinsen überhörte
er gekonnt. "Man sieht sich!" Er wandte sich zum Gehen.
Colin stutzte bei 'amüsanter kleiner Kerl' und seine Miene
verfinsterte sich.
"Ich bin ein was?" Er folgte Kei forschen Schrittes.
"Du hast mich schon verstanden," erwiderte der und ging
einfach weiter.
Colin hielt Schritt. "Freut mich, dass ich dich so gut
unterhalte," er klang ein wenig patzig. "Ich wusste doch,
dass es einen Grund dafür geben muss, dass du mich ständig
verfolgst. Wenigstens tust du das nicht, weil du mich aussaugen
willst, das ist so eine große Erleichterung!"
Kei lachte. Er war tatsächlich zufällig an der Schule
vorbeigekommen. Plötzlich drehte er sich um und beförderte Colin an
die nächstgelegene Wand, hielt ihn dort fest.
"Sei dir da mal nicht so sicher," er grinste mordlustig.
Colin schloss schnell den Mund. Aber nur kurz.
"Wie soll ich dich ernstnehmen, wenn du selber dauernd lachst?"
frug er trocken, aber sein schneller Atem und erhöhter Puls
verrieten doch etwas Furcht. Etwas viel.
"Wohl noch nie einem gut gelaunten Vampir begegnet?" er
grinste dreckig. Wohl wissend, dass Colin sich fast in die Hose
machte. Er genoss das. Sehr sogar. Kostete den Moment aus. Sah Colin
tief in die Augen und machte keine Anstalten ihn loszulassen. Colin
versuchte, seinen Atem etwas unter Kontrolle zu bringen, denn es war
ihm peinlich, Kei direkt ins Gesicht zu pusten. Er begegnete Keis
Blick und wurde wieder rot, aber das konnte nicht aus Anstrengung
sein.
"Zählt meine Mutter?"
Kei verzog keine Miene. "Meinetwegen. Dafür hast du ziemlich
Schiss." Er grinste. "Du musst nicht gleich rot werden."
Er drückte ihn ein wenig fester gegen die harte Wand. Colin verzog
etwas das Gesicht und ächzte leise.
"Ich
habe keine Angst. Offensichtlich hängst du ja ziemlich an mir."
Kei ließ ihn noch immer grinsend wieder los. "Fühl dich
geehrt, Kleiner." Mit diesen Worten zog er von dannen. Er hatte
ja noch endlos viel Zeit, sich Colin zu widmen. Der sah ihm nach und
hielt sich den Arm an der Stelle an der Kei ihn festgehalten hatte.
Hier geht es zum nächsten Teil.
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