Hier geht es zu Teil I.
SONNTAG
Colin stand am nächsten Vormittag blass, mit schwarzem
Rollkragenpullover, Barett und Kilt - und natürlich seiner Geige -
in einem der eleganten holzgetäfelten Säle des Miwa-Museums. Zur
Eröffnung einer Wanderaustellung über die Shetlandinseln gab es für
die Gäste des ersten Tages Freigetränke und Häppchen, sowie auf
das Thema abgestimmte Musik.
Augenblicklich spielte Colin und versuchte dabei, die tadelnden
Blicke seiner Mutter zu ignorieren, die seinen Zustand verdächtig
und seine Halsdekoration fast so schrecklich fand wie er selbst. Die
Besucher, die meisten von ihnen ernsthaft in Schale geworfen,
betrachteten die Gemälde, Drucke und Fotografien, und nahmen den
Fiedler hier und den Dudelsackspieler und die Harfistin dort nur am
Rande zur Kenntnis.
Kei schlief noch in seinem großen Bett. Er schlief lang.
Nachdem er aufgestanden und geduscht war, suchte er sich ein paar
Kleidungsstücke heraus. Eine schwarze Hose und ein Kapuzenshirt ohne
Ärmel.
Mit der Kapuze auf dem Kopf und einer Sonnenbrille auf den Augen,
sowie seiner Münze und einem kleinen Vorhängeschloss um den Hals,
ging er nach draußen. Er streifte ziellos durch die Stadt, bis er
irgendwann mit Zigarette zwischen den Lippen vor dem Miwa-Museum
stehenblieb. Auf den Bannern, die vor der Fassade in der Brise
flatterten, waren Segelboote, stürmische Klippen und rauhe
Landschaften abgebildet.
Kei
beschloss, hineinzugehen und sich die Gemälde in Natura anzusehen.
Der Eintritt war preiswert und etwas besseres hatte er sowieso nicht
zu tun.
Colin stand gerade zwischen der Harfistin, die ein bisschen wie eine
Märchenfee oder eine Elfe aus dem Herrn der Ringe aufgemacht war,
und einer Vitrine, in der ein zum Teil vergoldeter Holzwikinger
stand, und blickte ziemlich fröhlich drein, als sie ein genauso
fröhliches und leichtes Duett spielten. Er tippte gelegentlich mit
der Schuhspitze im Takt auf den Boden und gab sich Mühe, nicht
herumzuspringen. Seine Mutter hatte mittlerweile von ihm abgelassen
und sich auch der abbildenden Kunst gewidmet.
Kei, der optisch kaum in diese Gesellschaft passte, schaute sich
interessiert um. Gemächlich ging er, auf einem Piercing in seiner
Unterlippe herumkauend, in Richtung der Musik und wich dabei den
Menschen aus, die mit Sektgläsern in kleinen Grüppchen herumstanden
und sich unterhielten. Irgendwann fand er den Saal, aus dem die
fröhliche Musik drang und sah sich dort weiter um.
Ein Mann kündigte laut "A reel!" an, und das Tempo sowie
die Lautstärke der Geige nahmen zu, als sich eine zweite Fiedel
dazugesellte und ein ausgelasseneres Stück anstimmte. Der Japaner
mit der Viola stellte sich vor Colin und beugte sich etwas zu ihm
vor, Colin grinste ihn an und beugte sich ebenfalls zu ihm und sie
spielten und stampften beide scheinbar um die Wette, während die
Harfistin kurz auflachte und dann, anstatt Pause zu machen, die
beiden mit ihrer eigenen Improvisation begleitete. An einer Stelle
hüpfte der Japaner auf einem Bein und drehte sich dabei einmal im
Kreis, und die Harfistin und Colin mussten laut lachen, spielten aber
weiter. Das Stück schien eher in einen Pub voller gröhlender
rothaariger Fischer zu gehören anstatt in diese gesetzte,
hochgeschlossene Gesellschaft im Museum.
Kei hörte der Musik zu, die sich langsam in seinen
Aufmerksamkeitsvordergrund schob. Vor allem als diese immer lauter
und fröhlicher wurde. Er drehte sich in Richtung der Musik und
musste schmunzeln, als er Colin sah. Nicht nur deshalb, weil er
gerade herumhüpfte, sondern auch, weil er ihm mal wieder aus
Versehen über den Weg lief.
Der Japaner im Anzug und Colin im Kilt standen für die letzten Takte
nebeneinander, völlig synchron mit einem vorgestellten Bein nach
vorn gebeugt und spielten die Melodie noch ein paarmal laut in
rasendem Tempo bis zur höchsten Note, schwangen dann die Bögen
gleichzeitig wie Degen zur Seite, senkten ihre Geige respektive
Bratsche und verbeugten sich gleichzeitig. Ein paar Gäste im Saal
lachten und alle applaudierten.
Kei hatte sich an die Wand gelehnt und die beiden beobachtet. Er
folgte dem Applaus und lächelte leicht. Er fragte sich, wann und ob
Colin ihn sehen würde. Am liebsten hätte er sich einfach hinter ihn
gestellt, aber er wollte den anderen den Herzinfarkt ersparen.
Kei fiel Colin gar nicht auf, denn er gewährte den Gästen, derer
nun recht viele hier im Saal angekommen waren, nur ein
umherschweifendes glückliches Gesamtlächeln und eine Verbeugung,
bevor er mit dem Japaner abklatschte und sich von ihm auf die
Schulter klopfen ließ. Dann sprach er mit der Harfistin auf
Englisch, während der Japaner wieder grinsend davonspazierte.
Kei besah sich das Ganze und beschloss, sich Colins Aufmerksamkeit
einfach selbst zu holen, wenn der ihn schon übersah. Worüber er
sich mit den anderen unterhalten hatte, hatte er nicht verstanden,
weil einfach zu viele Leute im Raum waren. Er wüsste es allerdings
gern.
Leise wie er war, ging er zu ihm und blieb schräg hinter ihm in
seinem toten Winkel stehen.
"Hi," grüßte er.
Es herrschte allgemeines Raunen, aber diese Stimme war nicht zu
überhören. Colin fuhr herum und entdeckte Keisuke. Zuerst war nur
Erstaunen in seinem Gesicht zu sehen, dann Scham, etwas Farbe kroch
in sein weißes Gesicht und er sah schnell wieder weg.
Mit ernstem Blick begann er etwas sehr langsames, tiefes zu spielen.
Die Harfistin schien davon nichts gewusst zu haben. Das Stück war
nicht geplant gewesen.
Colin schloss kurz die Augen. So zart und mit absteigender Melodie
stand es im krassen Gegensatz zu dem wilden Volkstanz von vor zwei
Minuten und klang sehr elegant, aber auch ziemlich verzweifelt und
traurig. Wenn er zwischendurch die Augen öffnete, sah er in die Luft
vor sich oder zu Keisuke.
Keisuke sah mit leichtem Schmunzeln in Colins Gesicht, dessen
Ausdruck sich gewandelt hatte, ehe es wieder wegsah. Er begann
zuzuhören. Stand einfach da und schloss die Augen. Na super. Colin
hatte eine Waffe gefunden, ihn zum Schweigen zu bringen. Ganz toll.
Dem spielenden Jungen zuhörend, lehnte er sich an die Wand hinter
sich. Schaute die ganze Zeit in Richtung Colin, auch wenn er ihn
nicht sah. Er schenkte ihm ein kaum merkliches Lächeln.
Colin hatte keine Wahl, das Stück ausklingen zu lassen, als es zu
Ende war, obwohl er das Thema am Schluss zweimal wiederholte. Er ließ
den Bogen sinken aber behielt die Geige wie einen Schild auf der
Schulter, um möglichst nicht ansprechbar auszusehen, aber als die
Harfistin wieder zu spielen begann, konnte er nicht weiter so tun als
ob und nahm die Geige auch herunter.
Kei schaute Colin an, amüsiert über dessen Versuche, ihm die kalte
Schulter zu zeigen.
"Das finde ich jetzt nicht nett, dass du mich ignorierst,"
sagte er und musste sich wirklich beherrschen, nicht gleich
loszulachen.
"Nett?!" Vor Entrüstung brachte Colin nicht mehr heraus.
Der Kerl war ein waschechter Stalker! Er nagte ihm den ganzen Hals
wund, begrapschte ihn unaufgefordert, kletterte ihm ins Klo
hinterher, kam zu jedem seiner Auftritte seit er auf der Schule
war...
Das dachte er, während er Kei anstarrte, war aber zu
verärgert - und zu gut erzogen - um es hier laut auszusprechen.
Stattdessen wandte er sich wieder von dem Freak ab.
"Was hast du überhaupt an, du passt hier gar nicht hin,"
maulte er. Dass seine nackten Arme trotzdem echt gut aussahen, fügte
er nur in Gedanken hinzu.
Kei lachte. Dann eben nicht, dachte er und amüsierte sich in
Gedanken weiter. "Ein Shirt, ne Hose und Schuhe,"
kommentierte er trocken, musste sich wirklich dazu zwingen. Von
Dresscode stand nichts an der Tür. Und was kümmerte es Colin, wie
er aussah? Der stampfte gerade entrüstet irgendwoanders hin.
Kei lehnte weiterhin an der Wand, lief ihm nicht hinterher. Colin
ging zielstrebig auf eine Wand zu, an der ein riesiges Gemälde von
Klippen in einem Sturm hing. Als er es bemerkte, schlug er einen
Haken und ging stattdessen auf eine Tür zum nächsten Raum zu. Dort
waren auf einem Tisch Gläser mit Wein, Wasser und Saft aufgebaut,
die ständig nachgefüllt wurden. Dahinter lag auch Colins
Geigenkasten. Er packte sein Instrument weg und nahm sich ein Glas.
Nach kurzem Zögern nahm er noch ein zweites mit rotem Traubensaft
und ging damit zurück.
Kei beobachtete von seinem Platz an der Wand die Menschen um sich
herum und die Gemälde und Ausstellungsstücke. Er sah wirklich
unpassend aus, wie er dastand, an die Wand gelehnt, sich mit leicht
gesenktem Kopf umschauend. Er sah, wie Colin mit zwei Gläsern wieder
zurückkam und schmunzelte innerlich. Der war viel, viel zu gut
erzogen, fand er. Das konsequente Ignorieren musste er echt noch
lernen.
Langsam ging Colin zurück zu Keisuke und baute sich vor ihm auf. Mit
einem der vollen Gläser deutete er vage durch den Raum. "Weißt
du überhaupt was das hier ist?" fragte er giftig. Sein Blick
sagte 'Erzähl mir nicht, dass du nicht meinetwegen hier bist.'
"Eine Ausstellung in einem noblen Museum," antwortete er,
"Mal abgesehen davon, dass ich das Thema interessant finde und
es mir wirklich angesehen habe - ja. Ich hatte dich hier vermutet,
nachdem ich reingegangen bin und die Musik gehört habe. Ich kann
aber auch wieder gehen, wenn dem Herrn meine Anwesenheit nicht in den
Kram passt." Mit dieser uncharakteristisch langen Erläuterung
und ganz ruhiger Stimme ließ er keine bemerkenswerte Spur von
Emotion vermuten.
Colin errötete etwas und sah in das zweite Glas, das er mitgebracht
hatte. Wortlos hielt er es Kei hin, ohne ihn anzusehen. Kei bedankte
sich japanisch höflich und nahm ihm das Glas ab. Er besah sich
Colins Kleidung und befand, dass das besser zu ihm passte als die
Schuluniform. Zwischendurch sah er sich im Raum um. Vieles, was hier
abgebildet war, hatte er noch nie gesehen. Fernsehen tat er kaum,
also bekam er auch keine Dokumentationen über das Ausland zu
Gesicht.
Colin trug die Tracht, als wäre sie normal für ihn. Er trank einen
Schluck und tippte dann verlegen gegen sein Glas. "Also... was
hast du... dir denn so... angesehen?"
Kei fand Colins Verhalten fast schon niedlich, das würde er aber
nicht freiwillig zugeben. Am längsten war er tatsächlich in Räumen
mit Bildern von Landschaften und Architektur geblieben, bevor er in
diesem Raum gelandet war. "Landschaftsmalerei," begann er.
"Die sind wirklich schön. Sieht so ganz anders aus als hier."
Er erzählte Colin, was er sich alles angesehen hatte und auch, dass
er sich das wohl irgendwann einmal vor Ort anschauen wollte. Die
schönen Küsten der Inseln, die grünen Hügel, die Felsen und
alles, was er sich sonst noch angesehen hatte.
Colin hörte zu und sah Kei dabei an. Er sah aus, als habe er ein
schlechtes Gewissen.
Am Schluss sagte er tonlos: "Es ist viel kälter als hier. Und
dunkler," als ob das irgendwie relevant wäre. "Und
windiger." Dabei lächelte er.
Kei lächelte. "Kälter und dunkler ist okay, das macht mir
nichts. Und mit ein bisschen Wind im Urlaub kann ich leben. Zur Not
muss ich etwas mehr Haarspray mitnehmen." Er grinste. Er würde
sich das gern ansehen. "Und du zeigst mir die Gegend, weil ich
mich verlaufen würde," fügte er an.
Colin schmunzelte. "Weil ich die Inseln ja auch wie meine
Hosentasche kenne. So wie jeder Japaner schonmal auf den Fuji
gestiegen ist und sich in Tokyo auskennt."
Kei grinste. "Naja Schottland ist kleiner als Japan. Und ICH
kenne sowohl den Fuji als auch Tokyo." Wobei er damit wohl
ziemlich alleine dastand, sich in Tokyo auszukennen. Immerhin war er
ständig zu Fuß in der Stadt unterwegs. Er war aber auch ein kleines
bisschen fitter als die allermeisten anderen.
"Das behauptest du einfach mal." Colin gab das Grinsen
zurück. Er linste auf Keis Haare. "Haarspray ist schlecht für
die Ozonschicht," sagte er und rubbelte ihm kurz über den Kopf,
machte dann schnell einen Schritt rückwärts.
"Ja, soll ichs dir beweisen?" Er grinste. Er funkelte ihn
kurz sehr böse an - grinsend, was dem Ausdruck jegliche Gefahr nahm.
Stattdessen hob er Colin mit einem Arm hoch, in der anderen Hand trug
er das Glas, und hielt ihn in die Luft.
"Soll ich deine Haare ruiniern? Ich glaub du musst heute noch
ein bisschen länger gut aussehen als ich."
Gleichzeitig schockiert und amüsiert musste Colin fast lachen und
war drauf und dran, etwas zu entgegnen, als ein Herr sie unterbrach:
"Colin, deine Mutter sucht nach dir. Der Termin ist gleich,"
sagte der beanzugte Japaner. Er bedachte Keisuke mit freundlich
hochgezogenen Augenbrauen.
Tatsächlich stand die Dame mit den rotblonden Locken im Nachbarsaal
und winkte herüber.
Kei setzte Colin mit leicht argwöhnischem Blick auf den Anzugjapaner
ab.
Er grinste. Trank sein Getränk. Verabschiedete sich höflich.
"Bis nachher. Oder morgen."
Colin nickte und deutete ganz automatisch eine Verbeugung an. "Bis
morgen." Er ging mit dem Japaner mit, der ihn fragte, wer dieser
Junge gewesen sei - Als sie bei der Mutter ankamen, half sie Colin in
sein Jackett und gab ihm den Geigenkasten. Dann sah sie sich ein
wenig misstrauisch nach dem anderen Jungen um, den der Japaner
erwähnte.
Hier geht es zu Teil IX.
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