Monday, October 5, 2015

Kei + Colin XLI: Neuausstattung




Nach einer ganzen Weile erst kam Colin heraus. Er war wieder angezogen und hatte das Handtuch noch unter den frisch gefärbten Haaren über den Schultern liegen. Als er ins Wohnzimmer kam, blieb er dicht bei der Tür stehen.
"Kannst du mir ein bisschen Geld leihen?" fragte er verlegen.
"Ja, wie viel brauchst du?" fragte Kei.
"Äh, so zehn- bis zwanzigtausend?" riet Colin. Er brauchte Schuhe und passende Kleider. Aber er wusste nicht genau, woher und mit wieviel Geld er da rechnen musste. Solche Einkäufe hatte er nur selten selbst bezahlt. Oder getätigt.
Kei ging zu seiner Jacke, holte seinen Geldbeutel heraus und zählte Scheine. "Heute ist dein Glückstag!" rief er Colin zu, als er mit etwa vierzigtausend zurückkam. "Wofür brauchst du das eigentlich?"
"Kleider. Ich bin stolzer Eigentümer einer Hose und einer Geige," erkärte er matt. "... und die ist, glaube ich, geklaut." Er konnte sich nicht erinnern, wo er die Geige hergenommen hatte.
Kei lachte ein bisschen. "Gute Mischung, eine Hose und eine Geige." Er reichte ihm das Geld. "Ich würde nicht zu lange brauchen, die Polizei sieht Minderjährige nicht gern spät draußen," erklärte er.
Colin nahm das Geld und steckte es ein. Er nickte und schluckte seine Nervosität herunter. An die Zeit hatte er nicht gedacht. Und auch nicht daran, sofort loszugehen. Aber irgendwann musste er, also warum nicht gleich?
"Darf ich mir... noch eine Jacke und Schuhe leihen? Und vielleicht... ne Sonnenbrille oder so? Du weißt schon... anonym..." Scheiße, er war nicht gewohnt, Bittsteller zu sein.
"Bedien dich. Du weißt ja mittlerweise, wo du was findest," sagte Kei und schaute ihn an. "Du solltest um 22 Uhr von den Straßen verschwunden sein, die Läden hier haben zum Glück ziemlich lang geöffnet," fügte er noch hinzu.
"Danke." Colin sah auf den Boden und ging, um sich die benötigten Teile zusammenzusuchen. Als er sich die halbtrockenen Locken über eine Schulter legte, um den Kragen der Jacke nicht einzusauen, fiel ihm noch etwas ein.
"Ich kanns dir eine Weile nicht zurückzahlen. Bekommst du Schwierigkeiten, wenn du das Geld jetzt nicht hast?"
"Ne, das geht schon," sagt Kei und grinste. "Du färbst nicht mehr ab," sagte er und deutete auf Colins Haare. Der nickte, strich sich die Haare hinter die Ohren und ging zur Tür.
"Bis nachher," verabschiedete Kei den Kleineren und nahm sein klingelndes, nach Aufmerksamkeit verlangendes Telefon zur Hand. Vor dem Schließen der Tür von der anderen Seite leistete Colin sich eine tiefe, kunstvolle Verbeugung, bei der er zwei Finger küsste und zwinkerte. Kei grinste als er das sah und erwiderte den Gruß kurz.
Mit dem Anrufer sprach er noch eine Weile.
Unterwegs war Colin froh, dass er nicht als besonders merkwürdige Gestalt auffiel. Immerhin war dies Tokyo. Er wurde daran erinnert, dass der Jahreswechsel kurz bevorstand. Er fand passende Geschäfte und schaffte es weitestgehend, den Menschen aus dem Weg zu gehen, oder zumindest ihren Blicken, hoffte er.
Erst weit nach elf Uhr kam er nach ein paar beabsichtigten Umwegen wieder in Keis Nachbarschaft an.
Kei vermutete, angesichts der Tatsache, dass Colin noch nicht da war, dass er entweder von der Polizei aufgeriffen worden war, sich verlaufen oder noch etwas zu erledigen hatte. Colin war alt genug um allein draußen herum zu laufen, also erkundigte Kei sich nicht nach seinem Verbleib. Das würde er erst tun, wenn Colin in einigen Stunden noch nicht zurück wäre.
Das Telefongespräch ergab, dass Kei sich am nächsten Tag beim Boss seiner Ortsgruppe einzufinden habe. Nachdenklich lag er auf dem Sofa herum.
Colin klingelte.
Kei erhob sich mit einem Handstand, da seine Arme sich dichter am Boden befanden als die Beine, sprang auf die Füße und stand auf um Colin die Tür zu öffnen.
"Du brauchst noch 'nen Schlüssel."
Colin nickte bloß und ließ seine Tüten fallen. Er trug nun Kleidung, die ihm passte, und hatte auch wieder Hals- und Armbänder, um seine Narben zu verdecken. Sofort pulte er das restliche Geld aus seiner neuen Jackentasche hervor und hielt es Kei hin. Es waren ein paar tausend Yen. Kei nahm es entgegen und steckte es in seine Jacke zurück.
"Eindeutig besser," kommentierte er Colins neue Kleidung.
"Danke." Er lächelte etwas und zog sich die Schuhe und die Jacke aus. Darunter trug er ein weißes T-Shirt. Das hatte er gekauft, weil ihm zwischendurch aufgefallen war, dass er zwischen all dem Schwarz sonst immer wie die Leiche aussah, die er zeitweise war. Und das hatte ihm fast den Magen umgedreht.
"Ich habe überlegt, wie ich dich zurückzahlen kann. Mir ist aber nichts eingefallen, das nicht furchtbar öffentlich ist." Ihm war nur Musik eingefallen. Und die brauchte zum Geldverdienen Publikum.
Kei winkte ab. "Irgendwann mal. Das hat Zeit," meinte er. Er wusste, dass Colin nicht viel legales blieb und wollte nicht unbedingt, dass er sich in etwas illegales hineinbegab. Colin hatte die Tüten wieder aufgehoben und hielt nun kurz inne, um Kei interessiert anzusehen. Der meint das wirklich ernst, was? Mit ewig lang zusammenbleiben und so...
Kei warf sich wieder auf das Sofa, ziemlich genauso verdreht wie vor Colins Rückkehr. Colin sah stumm dabei zu und als er meinte, rot zu werden, ging er schnell in Keis Schlafzimmer und sortierte die geliehenen Kleider weg. Dann schlurfte er ins Wohnzimmer und sprang aufs Sofa. Kei hing immer noch so da und beobachtete Colin. "War dein Einkauf erfolgreich?"
"Sehr." Er kletterte über Kei und trat ihn leicht in die Seite. "Es sieht anstrengend aus, wie du nachdenkst. Soll ich dir helfen?"
Kei drehte sich ein bisschen. "Wie gedenkst du mir zu helfen?"
"Indem ich dir beim Denken helfe. Wir wissen beide, dass das meine Stärke ist," protzte Colin, als er über Kei stand, indem er die Haare herumwarf und sich theatralisch auf die Brust schlug.
Kei lachte und zog Colin zu sich herunter. "Ich darf dem Boss morgen einen Besuch abstatten und habe keine Ahnung warum."
Colin verschränkte die Arme auf Kei, als er rittlings auf ihm kniete.
"So viele Möglichkeiten... vielleicht darfst du dir einen Rüffel für die Eskapaden der letzten Wochen abholen. Oder eine Belohnung. Vielleicht will er dich befördern oder degradieren. Oder er hat eine neue Aufgabe für dich. Oder du wirst wegen irgendwas verhört."
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Strafe ist. Ich hab nichts angestellt. In den letzten drei Tagen."
Colin lachte. "Was ist dein Boss für einer?"
"Ein brutales Arschloch. Aber fair."
"Also nicht so wie du. Ein brutales Arschloch. Und ungerecht."
"Ich? Ungerecht?"
Colin zuckte mit den Schultern. "Du hältst dich nicht an die Spielregeln anderer Leute."
"Nein, ich hab meine eigenen."
"Wie passt das zusammen? Musst du als Yakuzahandlanger nicht absolut gehorsam sein?"
"Ja, meinem Boss gegenüber. Niemand hat was von anderen gesagt."
"Gibt es da nicht Zwischenstationen? Irgendwelche... anderen Leute, die Befehle weitergeben?"
"Ja, natürlich. Aber der Boss mag mich. Deshalb haben mir nur wenige andere Leute was zu sagen."
"Was machst du für ihn?"
"Überwiegend die 'Drecksarbeit'." Im Gegensatz zu vielen anderen mochte Kei solche Jobs, weil sie ihm Blut und Geld und Abwechslung verschafften.
"Die da wäre?"
"Hier und da nach dem Rechten sehen, Leute umlegen, sowas."
Colin betrachtete ihn ausdrucksneutral. Kei hing immer noch so verdreht auf dem Sofa herum und betrachtete Colin.
"Morgen, ja?"
"Ja. Morgen Nachmittag."
"Hm," sagte Colin. Er setzte sich auf.
"Was ist?"
"Nichts." Er schmunzelte etwas.
Kei schaute ihm ins Gesicht. "Nichts, ja?"
Verlegen grinste Colin. "Nichts." Dass er den Entschluss gefasst hatte, Kei zu beschatten, musste er ihm nicht auf die Nase binden.
Kei glaubte ihm zwar nicht, beließ es aber dabei und setzte sich ebenfalls auf.
"Was, wenn ich zwar öffentlich bin, aber etwas mache, das man auf keinen Fall mit Colin Hammerer in Verbindung bringen würde?" überlegte er mit Blick auf die gegenüberliegende Wand.
"Könnte klappen, es müsste aber was nicht offizielles sein."
"Das ist klar. Sonst bräuchte ich einen falschen Ausweis."
"Hast du ne Idee?"
"Ich kann rappen." Er sah Kei an und schien das ernst zu meinen.
"Dafür will ich einen Beweis." Dass Colin mit ein bisschen Übung ein sehr guter Sänger werden konnte, hatte er bewiesen, aber singen war nicht gleich rappen. Und Kei konnte sich das irgendwie nur schwer vorstellen.
Mit einem verlegenen Grinsen stand er auf und räusperte sich umständlich. Er blieb auf dem Sofa stehen.
"Also, ich muss dich vorwarnen, ich habe nie etwas Japanisches geübt. Und ich kann nicht freestylen oder sowas. Also bin ich in der rauhen Realität niemals als Rapper zu gebrauchen."
"Hast ja Zeit zum Üben."
"Schnauze. Bring mich nicht aus dem Konzept." Er guckte grimmig entschlossen.
"Finally, someone let me out of my cage,
now time for me is nothin' 'cause I'm countin' no age,
now I couldn't be there,
now you shouldn't be scared,
I'm good at repairs, and I'm under each snare,
intangible, I bet you didn't think so
I command you to, panoramic view,
look, I'll make you all manageable,
pick and choose, sit and lose,
all you different crews,"
Nun begann Colin zu grinsen, weil es besser klappte als er befürchtet hatte. Er hatte sich einen einfachen, lässigen und relativ langsamen Rap ausgesucht.
"Chicks and dudes, who you think is really kickin' tunes?
Picture you gettin' down and I'll picture too
Like you lit the fuse,
you think it's fictional? Mystical? Maybe-
Spiritual hero who appears on you to clear your view when you're too crazy-
lifeless for whose definition is what-for- damn, fuck it-" Er winkte ab und drehte sich einmal frustriert im Kreis.
"Ausbaufähig, aber Texthänger kommen beim Publikum nie gut." Kei lächelte ganz leicht. Das war auf jeden Fall besser als er erwartet hatte. Es hatte ihn überrascht.
"Ach! Glaubst du?" Colin trat ihn sachte. "Ich muss mir nützliche Talente zulegen," beschloss er.
Kei zog ihm die Füße weg, sodass Colin auf ihm landete. "Ja, glaub ich. Was für welche?"
"Argh! Gleichgewicht!"
Kei lachte. "Das wäre ein Anfang und als nächstes dann die Standfestigkeit."
"Durchsetzungsvermögen wäre auch gut," fuhr Colin fort, als er sich aufrappelte, aber nur soweit, dass er wieder halb auf Kei kniete und lag.
"Ja, könntest du gebrauchen." Kei hatte einen Arm um Colin gelegt. Der griff in eine Tasche seiner neuen Jeans und zog ein Klappmesser heraus.
"Wo hast du das denn her?"
"Vom Bahnhof."
"Wem hast du's abgenommen?"
"Tss, ich habs niemandem 'abgenommen'. Ich habe es gekauft." Von einem etwas krank aussehenden Typen, aber das verschwieg er.
"Du kannst es gut brauchen," meinte Kei dazu. Sein eigenes Waffenarsenal war gar nicht so klein, was er aber lieber für sich behielt. Trotzdem, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Colin seine Klingen- und Schusswaffensammlung fand, die im Schlafzimmer auf dem Schrank verstaut war. Dort stand eine Kiste herum.
"Meine ich auch." Er war erleichtert, dass Kei keine Einwände hatte, aber die hatte er von ihm auch eigentlich nicht erwartet. Er selbst hielt das Messer für eine kluge Investition und war von seiner Klingenform fasziniert. Es lief spitz zu, hatte eine glatte Schneide und knapp über dem Heft einige Zentimeter mit Zähnen. Er hoffte nur, dass wenn er es mal rausholen müssen sollte, es ihm nicht gleich abgenommen werden würde.
"Du solltest lernen, wie man damit umgeht," schlug Kei vor.
"Ist das nicht ziemlich offensichtlich?"
"Dass man ihnen das spitze Ende irgendwohinrammt, wo's wehtut?"
"Ja?" Nun war Colin verunsichert.
"So kannst du's machen, aber dann bist du das Messer schneller los, als du bis eins zählen kannst."
"Also, ich kann ziemlich schnell bis eins zählen-" er setzte sich wieder auf.
"Gegen betrunkene Wichser kannst du's so benutzen, gegen einen Gegner mit Ahnung, von denen du dem einen oder anderen begegnen wirst, solltest du ein bisschen Kampferfahrung haben."
Er sah Kei zweifelnd von der Seite an. "Ich werde nicht versuchen, dich abzustechen, um zu üben."
"Das schaffst du auch mit Übung äußerst schwer. Du sollest im Allgemeinen ein bisschen üben. Wenn du dich nicht verteidigen kannst, nützt dir das Messer nichts."
Er steckte das Messer langsam wieder ein. "Und wie übe ich das?"
"Komm morgen ein Stück mit, ich stell dir einen Freund vor, der dir einiges beibringen kann."
"Okay." Er musterte Kei.
Kei musterte ihn kurz, den Blick erwidernd.


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