Thursday, October 1, 2015

Kei + Colin XXXIV: Heiligabend



FREITAG
Es waren einige Tage vergangen und Weihnachten stand vor der Tür, buchstäblich, denn es war in zwei Tagen. Kei war das herzlich egal, da er nie Weihnachten gefeiert hatte. Seine Klassenkameraden, zumindest der Großteil, waren im Stress. Im Weihnachtskitschstress. Wem schenkte man was? Wie rosa sollte es ein? Das war beinahe alles, was Kei zu hören oder zu sehen bekam, bevor er am Nachmittag das Gebäude verließ und nachhause ging - endlich Ruhe!
Er schrieb Colin von zuhause eine SMS.
'Ist Weihnachten in Schottland auch so kitschig?'

Colin schmunzelte, als er die Nachricht las und schrieb zurück:
'Aye. A little different.'
Er saß mit Schulbüchern auf seinem Bett und machte Aufgaben, die in der Schule übersprungen worden waren.

Kei grinste als er das las und legte seine Gitarre zur Seite.
'Wie anders?'

'Festlicher. Rustikaler. Nicht nur für Paare sondern für Kinder. Mit Schnee und Lichtern und Tannenbäumen und Braten und auch die Kinder dürfen einen Schuss Gin im Kakao haben. ;P '

'Klingt nach Familie.' schrieb Kei zurück, der Familienleben oder Familienfeste nur aus dem TV kannte, wenn überhaupt.

'Ja. Das kann schmerzhaft, laut und tränenreich werden.'

Kei schrieb einen fies lachenden Smiley zurück und setzte drunter: 'Mit Katana, Nebelmaschine und gemeinen Schwestern.'

Das verstand Colin nicht. Er antwortete nicht mehr, sondern schrieb weiter Antworten auf.

Kei steckte das Handy weg und spielte weiter Gitarre.
Das tat er noch lange. Am nächsten Tag würde Samstag sein und er mit Colin in die Disco gehen. Das versprach ein guter Tag zu werden.

Nach einer Weile schickte Colin Kei eine Musikdatei. God rest ye merry gentlemen, ein traditionelles Weihnachtslied.
Kei öffnete es und legte das Musik spielende Telefon neben sich und lauschte. Es war bloß Gesang eines großen Chores mit männlichen und weiblichen Stimmen jeden Alters in einer großen Halle (einer Kirche), mit verschiedenen Soli. Kei hörte dem zu und spielte die Melodie auf der Gitarre mit.
Irgendwann schrieb er Colin wieder.
'Wann willst du morgen eigentlich abgeholt werden?'

'Treffen wir uns um 9 davor.'

'Ich dachte du wolltest abgeholt werden? : P '

Colin rollte die Augen.
'Hol mich um halb 9 ab.'

'Alles klar.'

Der Freitag neigte sich dem Ende zu und ehe Kei sich versah, war es Samstag früh.

SAMSTAG
Außer Geige üben - besonders auf der elektrischen - tat Colin nicht viel. Seine Geschenke hatte er schon vorbereitet und für den Weihnachtsmorgen unter den Baum gelegt, und für Schularbeit war er etwas zu unkonzentriert. Um kurz vor halb neun verließ er das Haus und stellte sich vor das Tor, wo er sich an einen der gemauerten Pfeiler lehnte.

Kei hatte sich mal Mühe gegeben und seine Haare etwas hergerichtet bevor er das Haus verließ. Deshalb, und weil er vorhatte, nicht nüchtern zu bleiben, ließ er das Motorrad hinter dem Haus stehen. Gegen halb neun Uhr schlug er bei Colin auf. Er sah den Jungen schon von Weitem vor seinem Haus herumstehen, als er auf ihn zuschlenderte.
"Hey!"
"Hey." Colin strahlte. Das hatte er nicht vorgehabt, aber es passierte trotzdem.
Er hatte sich nicht sonderlich hergerichtet, sondern nur darauf geachtet, dass alles was er trug schwarz war. Ein enges schwarzes T-shirt unter einem kurzärmeligen, offenen schwarzen Hemd, eine schwarze Jacke mit Kapuze, schwarze Jeans, Stiefel... und natürlich die breiten Armbänder und das Halsband, um die Spuren zu verdecken. Seine weiße Haut und die blonden Haare, die er offen trug, waren das einzig helle an ihm.
Kei war ebenfalls ganz in schwarz, wobei sein T-shirt mit silbernem Kleinkram und seine Hose mit diversen Ketten und Aufnähern benäht waren. Über dem T-shirt trug er eine lederne Bikerjacke, an der eine Kapuze befestigt war.
"Wir müssen leider Bahn fahren, das Motorrad bleibt heute stehen," sagte er grinsend.
Als er schließlich bei Colin angekommen war, küsste er ihn.
"Hm," entgegnete Colin Keis Mund, als er den Kuss erwiderte. "Dann lass schnell da runtergehen. Es ist kalt." Er nickte in Richtung U-Bahnstation.
"Ja." Kei wandte sich um und setzte sich mit Colin in Bewegung.
"Warst du mal da drin?"
"In dem Club oder der U-Bahn?"
Colin lachte. "Kuroyakoto."
Das hatte Kei glatt vergessen - den Namen. Auch, wenn es ein großer, bekannter Club war. Tatsächlich war er schon mal dagewesen.
"Ja, ein-, zweimal. Das endete in der Regel nicht so gut."
Mit einem Blick auf die Anzeigetafel stellte Colin zufrieden fest, dass die Bahn gleich kommen würde. Er schaute Kei erwartungsvoll an. "Was ist passiert?"
"Ein kleineres Drama. Ich war gerade sechzehn geworden. Ist also fast zwei Jahre her, es war Winter und irgendsoein älterer Kerl wollte mich angraben. Als ich draußen eine rauchen war, kam er mir nach und wollte mich an die Wand drücken und... du weißt schon. Er ist erfroren."
Colin musterte Kei still.
Kei schaute weniger ernst. "Die fahndeten nicht mal, die dachten, er ist im Schnee erfroren, weil er besoffen war. Er war so blau, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich hab ihn nicht zusammengeschlagen. Nur einmal. Dann lag er und ich bin gegangen..." erklärte Kei. Er stand nicht wirklich drauf, vergewaltigt zu werden.
"Er ist wirklich erfroren?"
Ratternd und kreischend fuhr die Bahn ein und hielt an den Markierungen. Eine Tonbandstimme quakte das Übliche, und Colin stieg ein. Kei folgte ihm.
"Ja, ich bin nur schuld daran."
Der Waggon war gut gefüllt, aber nicht so voll wie zu Stoßzeiten. Colin drängelte sich in eine Ecke, wo er sich anlehnen konnte und sich nicht nach oben recken musste, um sich an einem Gurt festzuhalten.
"Und die anderen Male?"
"Ist ähnliches passiert. Mehr oder weniger mit ähnlichem Ausgang."
Colin schmunzelte leise.
"Und was ist mit dem Laden selbst? Taugt der was?"
"Oh ja. Die Musik ist sehr gut und es sind viele Menschen da. Die Getränke sind erschwinglich, deshalb trifft man die verschiedensten Leute. Das Gelände ist riesig und es gibt viele verschiedene verschachtelte Räume mit mehr oder weniger Beleuchtung. Draußen gibt es Feuer, an denen auch Musik gespielt wird, aber leise."
Colin lächelte.
"Du wirst es mögen. Die Musik ist auch ziemlich unterschiedlich."
Allmählich leerte sich der Waggon. Die meisten Fahrgäste stiegen mit ihnen in der Innenstadt aus.
Es waren viele Einkäufer und Paare und einkaufende Paare unterwegs. Auf der Straße standen ein paar mehr Sandwichwerbemenschen als sonst, die blinkten und Visitenkarten für Stundenhotels verteilten.
"Darf ich vorstellen? Weihnachtszeit in Tokyo," verkündete Kei amüsiert. Colin grinste.
Auf einem kleinen Platz voller Betrieb mit einem kleinen hässlichen Springbrunnen hielt Colin an.
"Oh, warte mal. Ich bin gespannt, ob das funktioniert-" Er rannte zum Springbrunnen, sprang auf das niedrige Mäuerchen und räusperte sich laut.
"Was hast du vor?" Kei lief ihm nach und stellte sich davor.
Colin streckte die Hände aus um ihm zu bedeuten, dass er unten bleiben sollte.
Dann begann er zu singen.
"Hark, the herald angels sing, glory to the newborn king,
peace on earth and mercy mild, gods and sinners reconciled."
Es klang sehr klassisch und klar. Colins Stimme war seinem Alter entsprechend beim Singen wie auch Sprechen leicht kratzig, aber er sang hoch und sicher, als hätte er viel Erfahrung darin. Er sah einige der Passanten mit einem feierlichen Lächeln direkt an.
"Joyful all ye nations rise, join the triumph of the skies-"
Kei lächelte und und machte ein Bild von Colin, wie er da singend auf dem Brunnen stand.
"With the angelic host proclaim: Christ is born in Bethlehem."
Er nickte und strahlte eine Dame an, die ihm ein paar Münzen vor die Füße legte. Ihrem Beispiel folgten noch ein paar Leute.
Als das Lied zuende war, waren einige Leute stehengeblieben und klatschten brav, und Colin verbeugte sich. Kei grinste leicht und verkniff sich seinen Kommentar bis die Leute wieder weg waren. Danach fragte er scherzhaft: "Musstest du herausfinden, ob die Leute wirklich weihnachtlich eingestellt sind?"
Davon abgesehen hatte er Colins Gesangseinlage wirklich gut gefunden.
"Ja," sagte der ungerührt, als er vom Brunnen gesprungen war, während er das Geld zählte und einsteckte. "Der Geist von Weihnachten drückt sich in großzügigem Geben aus. Ich wollte wissen, ob die Leute hier im Land der aufgehenden Sonne das begriffen haben." Er tätschelte seine Hosentasche. "Haben sie."
"Du wolltest nur dein Taschengeld aufbessern."
"Was für eine infame Unterstellung." Er drehte sich zum Weitergehen. "Ich wollte meinen exhibitionistischen Neigungen fröhnen. ... Und mein Taschengeld aufbessern." Er schmunzelte.
Kei lachte.
"Taschengeld hast du wohl genug."
"Woher willst du das wissen?"
"Ich hab nen Blick in dein Zimmer geworfen." Kei lächelte.
Colin lächelte auch. Dann machte er eine abwinkende Geste. "Hach, ja, ich hab genug. Dank meiner Nebenjobs als Stripper und Gangsterrapper kann ich mir alles leisten," lispelte er.
Kei prustete los. "Und ich verdien mein Geld mit Nachhilfe..."
"Das wäre sogar wahr, wenn ich dich für Sex bezahlen würde."
Kei grinste dreckig. "Oh, you did."
Colin sah ihn an. "Wann habe ich dich dafür bezahlt?"
"Deine Reaktion war Bezahlung genug."
Colin schubste ihn. Kei griff nach Colins Handgelenk und zog ihn mit sich, sodass sie beide mehr oder weniger unsaft an den Brunnen krachten. Der Vampir lachte bloß. Colin stützte sich auf Kei, ganz im Vertrauen darauf, dass der sich schon über Wasser halten würde. Er biss in Keis Ohr. Kei hielt sie beide tatsächlich über dem Wasser und richtete sich langsam wieder auf. Grinsend küsste er Colins Hals. Mit den Unterarmen versuchte Colin, ihn wegzudrücken.
"Los, komm."
Kei ließ von ihm ab. "Ja. Sonst kommen wir erst morgen an."

Vor dem Eingang der Riesendisco hielt Colin sich etwas hinter Kei, weil er nicht wusste, wie er sie beide hineinbringen wollte. Er drückte ihm nur Eintrittsgeld in die Hand und harrte aus. Von vielen Gästen ließen sie sich Ausweise zeigen, von einigen nicht. Colin war davon überzeugt, dass er niemals ohne Tricks eingelassen werden würde. Kei bestimmt, der wirkte trotz seines Alters erwachsen genug. Colin sah aber einfach zu jung aus.
Kei gab dem Türsteher das Eintrittsgeld und funkelte ihn an. Er ließ beide einfach so durch.
Zu gleichen Teilen erleichtert und beeindruckt sah Colin sich drinnen erstmal um, indem er sich umdrehte.
Kei navigierte Colin zu einer oberhalb einer Treppe gelegenen Sitzecke, wo sonst keiner war und sie einen guten Überblick hatten. Die Bar war auch nicht weit.
"Mach's dir gemütlich, wenn du willst. Ich geh uns was zu trinken holen... Was willst du haben?"
Colin sah sich immer noch begeistert um und kletterte auf die Mitte des ranzigen Sofas. Er zuckte die Schultern.
"Bier," sagte er einfach. Du bist fantastisch, dachte er, als er Kei ansah.
Kei machte sich auf an die Bar und bestellte ein Bier für Colin und eines für sich selbst. Der Barmann fragte ihn gar nicht erst nach seinem Alter und auch die Kollegin sagte keinen Ton. Mit den bekommenen Getränken manövrierte er zurück. Von der Sitzecke aus hatten sie auch einen guten Blick auf die Bühne, wo regelmäßig junge Musiker auftraten und gelegentlich auch Konzerte gestandener Bands stattfanden. Er stellte das Bier vor Colin und ließ sich neben ihm nieder.
"Gefällts dir hier?"
Colin nickte und nahm die Flasche. Er saß im Schneidersitz und hatte seine Jacke auf die Sofalehne gelegt. Er prostete Kei zu.
"Auf dass es heute dröhnen möge."
Kei saß breitbeinig daneben, seine eigene Jacke auf der von Colin. "Auf ein gutes Dröhnen." Er stieß mit ihm an und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Colin nahm ebenfalls einen herzhaften Zug und stellte die Flasche wieder ab. Er beugte sich zu Kei.
Eine kleine Gruppe von Menschen voller Lack, Leder und Schnallen mit eindrucksvollen Stiefeln suchte sich just diesen Moment aus, um nach den freien Plätzen auf dem Sofa und den drei gepolsterten Hockern zu fragen. Kei bedeutete ihnen sich ruhig zu setzen und widmete sich Colin. Er legte einen Arm um ihn und küsste ihn. Colins Grinsen hinderte ihn zuerst daran, aber er erwiderte den Kuss langsam und sanft.
Zwei der Mädchen in der Fünfergruppe quietschten und lachten. Kei beachtete die Geräusche der Mädchen nicht. Mehr die Musik und Colin. Das war wichtiger.




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