Thursday, October 8, 2015

Kei + Colin XLVIII: Neujahr



SONNTAG, 1. JANUAR
Da er keinen Schlüssel mitgenommen hatte, knackte er sein eigenes Schloss um in die Wohnung zu kommen, da es zwei Uhr morgens war.
Colin lag im Bett und schien friedlich zu schlafen, sogar mit Puls. Der Zettel lag wie ein Kuscheltier in seinem Arm. Kei betrat das Schlafzimmer leise und schaute zu Colin, sein Blick fiel auf den Zettel in dessen Arm. Er war vergilbt, etwas ausgefranst und offensichtlich mehrmals ent- und wieder zusammengefaltet worden. Kei sah genauer darauf, erkannte aber nichts weiter. Er zog sich bis auf die Boxershorts aus und legte sich zu dem Schlafenden ins Bett. Colin brummte leise und schlief weiter.
Kei schlief nicht. Er lag einfach nur da und lauschte Colin beim Schlafen.
Irgendwann drehte Colin sich um und patschte Kei dabei den Zettel ins Gesicht. Der nahm ihm das Blatt aus der Hand und schaute vorsichtig darauf. Es war ein handschriftlich ausgefülltes Notenblatt mit der Überschrift 'Tha gaol agam ort.' Kei konnte das schwer lesen, es war aber etwas, das Colin ihm mal übersetzt hatte.
Nicht seine Schrift... Es ist alt... Er wollte wissen, von wem der Zettel war.
Colin ratzte friedlich vor sich hin.
Er weckte Colin, immerhin war es schon wieder hell draußen und somit morgens. Der drehte sich noch einmal und rieb sich langsam über die Augen.
"Morgen," sagte Kei leise. Colin lächelte ihn leise an. "Was'n das für'n Zettel?" fragte Kei leise.
"Hm?" Colins Blick fiel darauf und sein Lächeln erstarb. Er griff danach. Kei ließ ihm den Zettel.
"Du hast ihn mir ins Gesicht gedrückt. Der sieht alt aus."
"Ist er auch," flüsterte Colin. Beim Zusammenfalten zögerte er, dann breitete er ihn wieder aus und sah die Noten an. Kei sah ungeniert mit drauf.
"Was sind das für Noten?"
"Das ist ein Geschenk. Die Melodie hatte ich mir ausgedacht. Teilweise." Auf der unteren rechten Ecke stand 'Yours.' Colin zeigte darauf. "Das war mein Geigenlehrer."
"Wollte er was von dir?" sprach Kei einfach aus, was ihm in den Sinn kam.
Colin zögerte. Wie feinfühlig du bist.
"Ja."
"Du von ihm?"
Colin warf ihm einen Seitenblick zu. Ja.
"Ich war elf." Der Ton sagte sowas wie 'Bist du bescheuert?'
"Das heißt nichts." Ich hab schon viel gesehen...
Colin wich dem Blick des Vampirs aus und sah dafür wieder das Papier an.
"Und wenn?" forderte er leise mit defensivem Unterton.
Bin ich ein eifersüchtiger Idiot... Kei blieb ruhig. Sein Blick war nichtssagend. Und Colin gestehen, dass er es fertigbrachte, auf einen Toten eifersüchtig zu sein, wollte er nicht.
"Darauf kommts doch sowieso nicht an," murmelte Colin. "Man wird nur gefragt, ob man angefasst wurde und das wars."
Und dann wird man weit weg geschickt. Nach Japan.
Kei nickte leicht. "Also ist er angezeigt worden..." Seine Gedanken drehten sich.
"Nein. Dafür gab es keine Grundlage. Es wurde nur viel geredet und er hat alle seine Schüler verloren." Colin sprach ruhig, mit Bedauern in der Stimme und im Gesicht. "Jedes letzte Klatschweib hatte irgendeine Geschichte auf Lager. Ich hätte als einziger was zu erzählen gehabt, und ich habe als einziger nichts erzählt."
Keis Blick veränderte sich nicht, er ließ keine Spur von dem verlauten, was in ihm vorging.
"Warum nicht?"
"Warum doch? Alles was ich hätte sagen können, hätte ihn nur belastet. Dabei war nichts davon... würdest du mich..." Er runzelte die Stirn. "Wenn ich alles erzählt hätte, was für ein Mensch... und wie wichtig er war und... all das... dann, also... es interessiert doch niemanden, was du als Kind willst oder fühlst. Ich wäre ein Zeuge gegen ihn gewesen, wenn ich für ihn gesprochen hätte."
"Dass du nichts gesagt hast, hat auch nichts geändert," stellte Kei nüchtern fest.
"Doch. Er ist nicht angezeigt worden."
Kei seufzte und stand auf. Er zog sich ein Shirt über und ging in die Küche, wo er sich niederließ und eine rauchte. Seine Gedanken liefen Amok.
Colin setzte sich auf und legte das Lied neben das Bett, ehe er aufstand, seine Hose wechselte und sich ein kurzärmeliges Knöpfhemd und Jeans anzog. Barfuß ging er ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und gesellte sich zu Kei in die Küche. Beim Eintreten verlangsamte er seinen Schritt und steckte sich verlegen die Hände in die Hosentaschen. Kei sah irgendwie gestresst oder genervt aus.
"Ist letzte Nacht irgendwas passiert?"
"Nichts wichtiges," winkte Kei ab, der im Schneidersitz auf dem Stuhl saß.
Er spielt es herunter oder er ist noch wegen meines Ausflugs ins abgesperrte Haus angenervt. Er setzte sich Kei gegenüber an den Tisch. Ordentlich.
"Es tut mir leid. Ich weiß, dass das unvernünftig war." Er kam nicht darauf, dass Kei vielleicht nicht an dieselbe Sache dachte.
"Ich weiß, dass du das weißt," sagte Kei leise. Sein Kopf wollte sich nicht in Ordnung bringen lassen. Er zog an seiner Kippe und sah an die Wand. Immer noch keine Spur von dem preisgebend, womit sein Gehirn beschäftigt war.
"... Shingo anzurufen auch," bot Colin vorsichtig an.
Kei machte ein Gesicht, das deutlich machte, dass er nicht darüber reden wollte, was er für'n Problem hatte. Er stand auf.
Ernst und mit schlechtem Gewissen auf seiner Unterlippe kauend sah Colin auf seine Hände auf dem Tisch und wartete.
Sowas war wahrscheinlich normal. Zwischendurch hart und kühl zu sein, wenn man ständig aufeinanderhockte. Das normalste zwischen ihnen, das bisher passierte, dachte Colin. Er wusste, dass er schwierig war, und auch der gefühlskalte Vampir konnte nicht ewig langmütig sein.
Kei ging ins Schlafzimmer, zog sich eine Hose an und legte sich mit Gitarre aufs Bett, wo er ein wenig leise spielte und so vermied, sich weiter aktiv mit dem Mist in seinem Kopf auseinanderzusetzen.
Rausgehen... Nachher... entschied er.
Colin blieb in der Küche sitzen und legte den Kopf mit der Stirn auf den Tisch, als er die Musik hörte. Nach einem resignierten Seufzen guckte er in den Kühlschrank, fand fertige Reisklöße, von denen er sich zwei nahm, und süßen Tee in einer Dose. Damit ging er ins Wohnzimmer, wo er eines der mitgebrachten Bücher - ein Schulbuch - aus dem Regal nahm und darin las, während er am Sofatisch auf dem Boden saß und aß.
Kei spielte ein Weilchen weiter, ehe er nach draußen verschwand.
Als er die Tür schließen hörte, beendete Colin noch das Kapitel über Genetik und begann danach, Geige zu spielen. Diesmal benutzte er seine eigene. Er übte Bekanntes, improvisierte ein bisschen und begann dann, sich dabei Notizen zu machen.
Die spielte er dann mehrmals durch, änderte hier und da etwas, bis er zufrieden war, und schrieb dann alles sorgfältig auf ein frisches Notenblatt. Darüber schrieb er 'Titel:' und guckte dann eine Weile in die Luft, um darüber nachzudenken, bevor er eine lange Zeile hinzufügte: 'Du hast mir viel weggenommen. Meine Zeit, meine Jugend, meine Jungfräulichkeit... mein Herz.'
Danach räumte er auf und ließ nur das Notenblatt und den Druckbleistift auf dem Sofatisch liegen, als er sich Socken, Schuhe und einen Kapuzenpullover anzog und auch die Wohnung verließ. Er nahm den Schlüssel vom Tisch mit.
Er fuhr nach Akiba und streunte dort herum, bedauernd, dass er kein Geld hatte, mit dem er Spielautomaten füttern konnte. Es gab aber genug buntes Treiben, dem man zusehen konnte. Viele Menschen waren in Feierlaune, weil es anscheinend der erste Tag des neuen Jahres war, stellte Colin mit Erstaunen fest.
Nach einer Weile des Zusehens wurde er zu einem Tanzspiel eingeladen. Daran beteiligten sich rundenweise ungefähr ein dutzend Jugendliche, die die Lieder des Spiels teilweise mitsangen und hinterher beschlossen, geschlossen in den nächsten Karaokeladen zu gehen. Einige von ihnen kannten sich untereinander, aber insgesamt war es eine sehr spontane Gemeinschaft, die zum Teil angeheitert bis betrunken war, und Colin wurde wieder eingeladen. Als Akira ging er mit.
Erst als er Stunden, nachdem er Keis Haus verlassen hatte, seine kurzfristigen Freunde mit einer komödiantischen Version von Sayonara von Gackt unterhielt, bei der er das erste Violinensolo überzogen mimte, fragte er sich, was gerade passierte. Das Ende des Liedes trug er dafür tatsächlich ernst vor.

Kei war stundenlang durch die Gegend gelaufen und hatte irgendwann zufällig einige Bekannte getroffen, die irgendwo in Shinjuku unterwegs waren, und wohin es auch ihn verschlagen hatte. Ziemlich betrunken fand er sich irgendwann auf der Bühne eines kleinen Konzerts wieder. Einer der Musiker hatte ihn vor dem Konzert zu einer Wette herausgefordert, weil seine Jungs geprahlt hatten, er könne verdammt gut Gitarre spielen. Die Wette bestand daraus, dass wenn Kei vor Publikum bestehen würde, er ihm und seinen Freunden die ziemlich hohe Getränkerechnung zahlen würde. Sollte das nicht der Fall sein, müsse Kei die Rechnung der Band begleichen. Kei war darauf eingegangen.
So kam es, dass er nun mit Gitarre in der Hand auf der Bühne eines Hinterhofclubs stand und zum Leidwesen des großkotzigen Musikers eine gute Show ablieferte.
Keis Begleiter verabschiedeten sich zur Bar, als sie die Gesichtszüge des jungen Mannes entgleisen sahen, der ihnen nun ihre volle Zeche schuldig war.
So ging das stundenlang weiter.
Kei trieb sich noch in anderen Clubs herum und hörte alles mögliche an Geschichten. Irgendwann endete er in einer Karaokebar. Gut abgefüllt saß er in einer Ecke, mit einem Glas, und lauschte den Gesängen.

Colin gab das Mikrofon an die nächste ab und setzte sich zurück zu den anderen aufs Sofa. Während weitergesungen wurde, verspürte er allerdings den unwiderstehlichen Ruf der Natur und schlüpfte auf den Flur hinaus, um eine Toilette zu suchen. Das Schild führte ihn in Richtung Eingang, wo es einen öffentlichen Bereich gab, in dem auch Alkohol ausgeschenkt wurde.
Er kam gerade von der Toilette im Keller zurück und bog um das Treppengeländer, um auf den Flur mit den einzeln mietbaren Räumen zurückzugehen, als er am Ende der Bar, direkt an der Wand, Kei sitzen sah.
Kei hatte die Augen halb geschlossen und saß ein wenig geistesabwesend auf seinem Stuhl, als er gerade einen Schluck seines Getränks nahm. Colin bemerkte er nicht. Was zum einen daran lag, dass es laut und voll war und zum anderen, dass er gar nicht in seine Richtung schaute.
Colin ging in den Raum zurück und verabschiedete sich dort dankend von seinen temporären Kumpeln, bevor er in die Bar zurückkehrte und sich dort in der Nähe der Bühne gegenüber von Kei an die Wand lehnte. Da er kein Geld hatte, bestellte er sich kein Getränk, sondern machte sich möglichst unsichtbar, damit er nicht als Herumlungerer auffiel und rausgeschmissen wurde. Die meiste Zeit beobachtete er Kei, doch zwischendurch zogen die Sänger auf der niedrigen Bühne seine Aufmerksamkeit kurz auf sich.


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