Friday, October 2, 2015

Kei + Colin XXXIX: Tabula Rasa



Am späten Abend stand Colin auf einem gut mit Menschen gefüllten Platz, die alle auf ihre eigene japanische Art "Weihnachten" feierten. Er war barfuß und in ein Laken gewickelt, das fast so weiß war wie er selbst, und spielte Geige.
Ein paar Paare blieben stehen und hörten gaffend zu, einige legten Geld vor ihn.

Kei lieferte sich eine Schlägerei mit einem Polizisten, der sein Motorrad konfiszieren wollte und brach dem jungen Mann einige Knochen bevor er ihn als Abendessen missbrauchte und davonfuhr. Die Leiche ließ er liegen, wo sie war. Außer heruntergekommenenen zwielichtigen Gestalten kam sowieso niemand mehr in diese Gegend.
Er raste mit gut hundert Sachen quer durch die Fußgängerzone und ruinierte einigen Leuten ihr Weihnachten.

Colin spielte Corellis La Folia.
Kei raste an ihm vorbei ohne ihn wirklich zu bemerken. Sein Gedanke war, dass das nur ein Traum seines nicht mehr funktionsfähigen Verstandes sein konnte, der eigentlich nichts mehr wollte, als Colin wieder am Leben zu haben, aber selbst Kei wusste, was tot war, war nun mal tot.
Die Leute stoben auseinander, um Kei Platz zu machen, nur Colin blieb ungerührt stehen und spielte weiter, obwohl das Krankenhauslaken herunterflatterte. Er trug noch seine Jeans.
Kei raste nur knapp an ihm vorbei. Mit weniger als einem Meter Abstand.
Plötzlich waren mehr Smartphones im Einsatz als zuvor. Die Leute nahmen wie wild Kei auf dem Motorrad auf, den kleinen weißen Ausländer, dessen Verletzungen man nun deutlich sehen konnte und der mitten im Winter halbnackt und ohne Schuhe seelenruhig daneben Musik machte.
Kei war genausoschnell verschwunden, wie er an den Leuten vorbeigefahren war.
Es dauerte noch Stunden, bis Kei sich dazu bequemte nachhause zu fahren. Als er endlich ankam sah er kaum nach vorn, als er auf den Hof fuhr und sein Motorrad abstellte und sah erst auf, als er abstieg um das Garagentor zu öffnen.
Colin saß vor seiner Garage. Die Geige hielt er auf seinen Knien.
Wortlos sah er den Jungen an, als er ihn erkannte. Mit halbwegs versteckter Verwirrung und Fassungslosigkeit starrte er ihn an.
Colin sah zu ihm auf. Er hatte keinen bestimmten Gesichtsausdruck.
Dann stand er auf und lächelte leise.
Kei nahm seinen Helm ab.
"Sie sagten, du bist tot. Ich hab dich gesehen..." sagte er leise.
Colin nickte.
Kei hängte seinen Helm an den Lenker.
"Du bist zu jung zum Sterben, lass das in Zukunft, okay?" sagte er leise und ging ein Stück weiter auf Colin zu. Der schmunzelte und legte die Hände mit der Geige und dem Bogen hinter sich zusammen. Er nickte. Das sah wie artiges Einverständnis aus.
Kei öffnete die Garage und blieb direkt neben Colin stehen. Er nahm den Kleineren einfach in den Arm. Colin war kühl. Er umarmte Kei.
"Du bist kalt," sagte Kei leise und dann: "Du bist immer noch tot, oder?"
Colin ließ ihn los um sich an den Hals zu fassen. Er positionierte seine Finger ein paarmal neu, fand aber nicht, was er suchte und zuckte dann mit den Schultern. Er öffnete und schloss den Mund.
Kei hielt ihn einfach weiter fest. Colin lächelte ihn wieder an, streichelte seine Wange und umarmte ihn wieder. Ohne Puls.
Kei dachte Er ist wirklich tot, und beließ es dabei, froh, dass Colin wieder da war.
"Du riechst nach Alkohol und Blut," flüsterte Colin.
"Ich weiß," sagte Kei leise.
"Hast du keine Schmerzen?" flüsterte Colin. Er erinnerte sich an die vielen Schüsse.
"Das geht wieder weg," sagte er. "In drei Tagen sieht man's kaum noch."
Colin ließ ihn los.
Kei ließ den Kleineren deutlich widerwilliger los, blieb aber dicht bei ihm stehen.
Colin sah zum Motorrad.
Kei folgte seinem Blick. Colin sah ihn an und schmunzelte.
"Was ist?" fragte Kei leise. Er wurde von Colin sachte geküsst.
Den Kuss erwidernd fing Kei an zu lächeln. Kurz darauf wich Colin zurück.
"Sie wird geklaut, wenn sie hier draußen stehenbleibt," sagte er leise und ging zur Seite.
"Oder beschlagnahmt," schmunzelte Kei und stellte das Motorrad in die Garage, deren Tor er daraufhin schloss und verriegelte.
Colin hatte brav gewartet und ging nun vor zur Haustür.
Kei ging ihm nach, sortierte ein paar seiner Gedanken, immerhin warf die Anwesenheit eines offensichtlich Toten in der Welt der Lebenden einige Fragen auf. Obwohl er sich wunderte, war er froh über Colins Rückkehr. An der Tür angekommen öffnete er diese und stieg die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Stumm und sehr leise, weil barfuß, folgte Colin ihm. Er wirkte sehr gelassen.
Kei schloss die Tür auf.
"Mach's dir gemütlich." Dass ein Chaos seine Wohnung beherrschte war kaum zu übersehen. "Wo willst du jetzt eigentlich hin?" fragte er nach einer kurzen Weile in der er seine Schuhe ausgezogen hatte.
Das Gemütlichmachen schien für den weißen Colin darin zu bestehen, sich die Fußsohlen an seinen Hosenbeinen abzuwischen und weiter in den Flur hineinzugehen, um wieder auf Kei zu warten. Er dachte kurz über die Frage nach.
"Ich will nirgendwohin," sagte er schließlich. "Wo kann ich hin?" fiel ihm noch ein.
Kei folgte ihm und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa fallen ließ. "Du kannst hier bleiben, wenn du willst," bot er an und dachte kurz nach. "Wenn du tot bist, was machst du dann unter den Lebenden?" wollte er wissen. Es war keine angreifende Frage, sondern eine, deren Antwort ihn wirklich interessierte. Colin lächelte auf das Angebot hin und blieb auf der anderen Seite des Kaffeetisches vor dem Sofa stehen. Die Hände mit dem Instrument hatte er wieder hinter dem Rücken verschränkt.
"Weiß ich nicht," sagte er. "Nun, ich weiß, was ich mache... aber ich weiß nicht, warum oder wie ich wieder da bin."
Kei nickte. "Vielleicht finden wir das in einigen Jahren heraus. Wir haben ja jetzt viele davon."
Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und lag mehr auf dem Sofa als dass er saß.
"Meinst du? Warum?"
"Ich glaub nicht, dass du eine menschliche Lebenserwartung hast," sagte Kei und lächelte. "Ich bin froh, dass du wieder da bist," fügte er hinzu.
Colin lächelte warm und sein Herz begann zu schlagen. "Oh."
"Hm?"
Langsam atmete Colin aus und fasste sich kurz an die Brust. "Warum? Vielleicht bin ich ja gar nicht richtig tot."
Sachte zitternd legte er die Geige und den Bogen auf den Tisch.
"Das glaub ich auch nicht, wenn du richtig wirklich tot wärst, würdest du da nicht stehen."
Kei lächelte, als er einen zweiten Herzschlag in seiner Nähe vernahm.
Vorsichtig ging Colin um den Tisch herum, um sich auch hinzusetzen. Auf das nächstgelegene Ende des Sofas ließ er sich langsam nieder, wobei er hörbar und sichtbar konzentriert atmete und sich auf die Rückenlehne stützte. Er fasste sich testend an den Hals und kniff etwas die Augen zusammen, als er dabei die beiden Brandwunden berührte.
Kei nahm seine andere Hand. "Du bist wärmer als vorhin," sagte er leise.
"Das hier auch," sagte Colin, immer noch seinen Hals rundherum betastend. "Es tut weh. Mein Rücken auch. Ich hatte wohl einen Unfall, was?" Er lächelte entschuldigend.
"Unfall, ja. Das trifft es nicht ganz, aber gut," sagte Kei und drückte nur kurz Colins Hand. Er wollte nicht, dass der anfing zu schreien, wenn er ihn in den Arm nahm. Colin sah auf die Hand und nahm sie überrascht hoch.
"Hm?"
Er inspizierte stirnrunzelnd seine vernarbten Handgelenke. Ohne Ergebnis ließ er die Hände sinken und schaute nur irritiert.
"Was ist?" fragte Kei etwas verwundert.
"Uhm..." Colin sah ihn vorsichtig an und dann lieber nach vorn. "Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich nichts weiß, oder?"
"Das kommt drauf an, was du noch weißt. Welcher ist der letzte Tag an den du dich erinnerst?"
"Heute. Jetzt."
"Und davor?"
"Ich war bei dir. Da hatte ich noch mehr an." Er sah an sich herunter. "Danach hast du mich irgendwohin getragen."
"Du warst schon öfter hier. Erinnerst du dich an das Konzert auf dem wir waren?"
"Ja. Beide."
"Das kurz vor Weihnachten?"
"Ja." Er lächelte ein bisschen. "Das war erst gestern."
"Ja." Weiß er nur den einen Tag nicht mehr? ...Vielleicht ist das besser so... "Es ist wohl wirklich besser, wenn du dich an den Unfall nicht erinnerst..."
Colin rutschte etwas näher und hob eine Hand, zeigte auf die Narbe. Er sah Kei fest an. "Das ist aber nicht von gestern."
"Ich weiß, das ist etwas länger her, aber auch nicht besonders lange."
"Weißt du, dass ich dich liebe?" sagte er im Verhörton. Kurz darauf errötete er etwas, aber er sah Kei weiter fest an.
Kei lächelte. "Du hast mal sowas erwähnt," sagte er leise, erwiderte den Blick und sah dem Kleineren dabei tief in die Augen. "Anatamo."
Langsam atmete Colin aus, scheinbar erleichtert. Er legte seine Hand wieder zu Keis.
Kei nahm sie und hielt sie locker fest.
"Jetzt bist du nekrophil," sagte Colin ruhig.
"Wir waren uns nicht sicher, ob du wirklich richtig tot bist," sagte Kei leicht scherzhaft, meinte es aber durchaus ernst. Colin war warm. Warm und tot, passt nicht zusammen.
"Es ist bestimmt die praktischere Lösung," entschied Colin. Er beugte sich zu Kei.
"Wenn du unerkannt durch die Gegend ziehen willst, ja," sagte Kei und küsste den Kleineren. Colins Herz machte noch einen Sprung und schlug schneller weiter. Kei mochte das Geräusch. Leben hieß Wärme und Wärme war etwas, dass er sehr gern mochte. Das würde er niemals zugeben, außer vor Colin vielleicht. Immerhin war es dessen Wärme auf die er es abgesehen hatte.
"Du hast viel geraucht und getrunken," murmelte Colin an Keis Mund und leckte sich über die Lippen. Dabei befühlte er den Riss darin. "Prügel ich mich oft?"
"Hab ich, ja. Und nein, eigentlich nicht." Er schmunzelte leicht bei der Vorstellung, dass Colin sich oft prügeln würde. "Hast du nur die Details deiner Verletzungen vergessen?"
Colin zuckte mit den Schultern und küsste ihn wieder, sachte.
"Ich weiß, dass ein paar von dir sein müssen," sagte er leise.
Kei erwiderte den Kuss und befand Colins Verletzungen spontan für scheiße.
"Die miesen sind nicht meine," sagte er. "Obwohl du auch schon wegen mir im Krankenhaus lagst."
Colin wich etwas zurück und sah ihn an. "Was, wieso?"
Kei war verwundert, dass er das nicht mehr wusste.
"Man könnte es Unfall nennen," sagte er.
"Oh." Er schien sich zu erinnern. "Das. Du warst ein richtiges Arschloch."
"Ja. Das bin ich auch immer noch, obwohl ich das nicht nochmal machen würde."
Colin lächelte ein bisschen, dann riss er plötzlich die Augen auf. "Shingo!"
Kei war nun komplett verwirrt. "Was ist mit dem?"
Er suchte seine Hosentaschen ab, aber natürlich waren sie leer. "Ich muss ihm bescheid sagen!"
Er hatte den Mitschüler gar nicht mehr auf dem Schirm, der ihm gesagt hatte, dass Colin entführt worden war.
"Weshalb?"
"Und meinen Eltern! Dass äh -" Er lehnte sich stirnrunzelnd zurück. "Scheiße."
Kei schaute ihn fragend an. Colin sprang auf.
"Was ist? Wo willst du hin?" fragte Kei.
"Ich muss nach Hause. Es ist schon mitten in der Nacht!"
"Ehm. Das wird nicht nötig sein," begann Kei. Colin eilte um den Tisch und griff sich die Geige.
"Warum, wissen sie, dass ich hier bin?" Sein Puls war ziemlich unnormal hoch.
"Nein, aber..."
Kei begann, ihm die gesamte Geschichte der letzeten Tage zu erzählen, ruhig.
Die blutigsten Details ließ er dabei aus, doch Colin erfuhr nun, dass es keine Eltern mehr gab, denen er irgendetwas sagen musste, und dass er seinen Tod selbst herbeigeführt hatte.
Entgeistert starrte er Kei an.
Kei sah ihn ruhig an, stand auf und nahm ihn in den Arm, aber vorsichtig.
Allmählich kühlte er wieder ab.
"Das verstehe ich nicht ganz," sagte er dumpf und leise in Keis Hemd.
"Was passiert ist, oder dass du abkühlst?" fragte Kei und drückte den Kleineren etwas fester.
"Ich kühle ab?"
"Ja, du bist wieder fast so kalt wie tot."
"Dann bin ich wohl tot," schloss Colin. Er legte die Arme um Kei.
"Vielleicht bist du beides," schloss Kei aus der wechselnden Körperwärme und dachte gar nicht daran, ihn wieder loszulassen.
"Jetzt kann ich - kannst du mich bei Shingo entschuldigen? Bitte."
"Kann ich, ja, weshalb?"
"Es tut mir Leid, dass ich ihn im Stich lasse."
"Okay... Ich sag's ihm. Soll ich ihn anrufen?"
"Ja - Oder nein, sags ihm in der Schule. Dann musst du ihn nicht wecken."
Kei nahm sein Handy zur Hand, das in der Hosentasche steckte und steckte es gleich darauf wieder weg. "Mach ich."
Colin legte die Geige wieder hin und drehte sich dazu in Keis Arm etwas. Er versuchte aber nicht, sich ihm zu entwinden. Er sah ihn an.
"Was mache ich jetzt?"
Kei dachte kurz nach. "Ich weiß es nicht. Wenn du willst, bleib hier. Platz hab ich."



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