Thursday, September 17, 2015

Kei + Colin VIII: Hölzern


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SONNTAG
Colin stand am nächsten Vormittag blass, mit schwarzem Rollkragenpullover, Barett und Kilt - und natürlich seiner Geige - in einem der eleganten holzgetäfelten Säle des Miwa-Museums. Zur Eröffnung einer Wanderaustellung über die Shetlandinseln gab es für die Gäste des ersten Tages Freigetränke und Häppchen, sowie auf das Thema abgestimmte Musik.
Augenblicklich spielte Colin und versuchte dabei, die tadelnden Blicke seiner Mutter zu ignorieren, die seinen Zustand verdächtig und seine Halsdekoration fast so schrecklich fand wie er selbst. Die Besucher, die meisten von ihnen ernsthaft in Schale geworfen, betrachteten die Gemälde, Drucke und Fotografien, und nahmen den Fiedler hier und den Dudelsackspieler und die Harfistin dort nur am Rande zur Kenntnis.

Kei schlief noch in seinem großen Bett. Er schlief lang.
Nachdem er aufgestanden und geduscht war, suchte er sich ein paar Kleidungsstücke heraus. Eine schwarze Hose und ein Kapuzenshirt ohne Ärmel.
Mit der Kapuze auf dem Kopf und einer Sonnenbrille auf den Augen, sowie seiner Münze und einem kleinen Vorhängeschloss um den Hals, ging er nach draußen. Er streifte ziellos durch die Stadt, bis er irgendwann mit Zigarette zwischen den Lippen vor dem Miwa-Museum stehenblieb. Auf den Bannern, die vor der Fassade in der Brise flatterten, waren Segelboote, stürmische Klippen und rauhe Landschaften abgebildet.
Kei beschloss, hineinzugehen und sich die Gemälde in Natura anzusehen. Der Eintritt war preiswert und etwas besseres hatte er sowieso nicht zu tun.

Colin stand gerade zwischen der Harfistin, die ein bisschen wie eine Märchenfee oder eine Elfe aus dem Herrn der Ringe aufgemacht war, und einer Vitrine, in der ein zum Teil vergoldeter Holzwikinger stand, und blickte ziemlich fröhlich drein, als sie ein genauso fröhliches und leichtes Duett spielten. Er tippte gelegentlich mit der Schuhspitze im Takt auf den Boden und gab sich Mühe, nicht herumzuspringen. Seine Mutter hatte mittlerweile von ihm abgelassen und sich auch der abbildenden Kunst gewidmet.
Kei, der optisch kaum in diese Gesellschaft passte, schaute sich interessiert um. Gemächlich ging er, auf einem Piercing in seiner Unterlippe herumkauend, in Richtung der Musik und wich dabei den Menschen aus, die mit Sektgläsern in kleinen Grüppchen herumstanden und sich unterhielten. Irgendwann fand er den Saal, aus dem die fröhliche Musik drang und sah sich dort weiter um.
Ein Mann kündigte laut "A reel!" an, und das Tempo sowie die Lautstärke der Geige nahmen zu, als sich eine zweite Fiedel dazugesellte und ein ausgelasseneres Stück anstimmte. Der Japaner mit der Viola stellte sich vor Colin und beugte sich etwas zu ihm vor, Colin grinste ihn an und beugte sich ebenfalls zu ihm und sie spielten und stampften beide scheinbar um die Wette, während die Harfistin kurz auflachte und dann, anstatt Pause zu machen, die beiden mit ihrer eigenen Improvisation begleitete. An einer Stelle hüpfte der Japaner auf einem Bein und drehte sich dabei einmal im Kreis, und die Harfistin und Colin mussten laut lachen, spielten aber weiter. Das Stück schien eher in einen Pub voller gröhlender rothaariger Fischer zu gehören anstatt in diese gesetzte, hochgeschlossene Gesellschaft im Museum.
Kei hörte der Musik zu, die sich langsam in seinen Aufmerksamkeitsvordergrund schob. Vor allem als diese immer lauter und fröhlicher wurde. Er drehte sich in Richtung der Musik und musste schmunzeln, als er Colin sah. Nicht nur deshalb, weil er gerade herumhüpfte, sondern auch, weil er ihm mal wieder aus Versehen über den Weg lief.
Der Japaner im Anzug und Colin im Kilt standen für die letzten Takte nebeneinander, völlig synchron mit einem vorgestellten Bein nach vorn gebeugt und spielten die Melodie noch ein paarmal laut in rasendem Tempo bis zur höchsten Note, schwangen dann die Bögen gleichzeitig wie Degen zur Seite, senkten ihre Geige respektive Bratsche und verbeugten sich gleichzeitig. Ein paar Gäste im Saal lachten und alle applaudierten.
Kei hatte sich an die Wand gelehnt und die beiden beobachtet. Er folgte dem Applaus und lächelte leicht. Er fragte sich, wann und ob Colin ihn sehen würde. Am liebsten hätte er sich einfach hinter ihn gestellt, aber er wollte den anderen den Herzinfarkt ersparen.
Kei fiel Colin gar nicht auf, denn er gewährte den Gästen, derer nun recht viele hier im Saal angekommen waren, nur ein umherschweifendes glückliches Gesamtlächeln und eine Verbeugung, bevor er mit dem Japaner abklatschte und sich von ihm auf die Schulter klopfen ließ. Dann sprach er mit der Harfistin auf Englisch, während der Japaner wieder grinsend davonspazierte.
Kei besah sich das Ganze und beschloss, sich Colins Aufmerksamkeit einfach selbst zu holen, wenn der ihn schon übersah. Worüber er sich mit den anderen unterhalten hatte, hatte er nicht verstanden, weil einfach zu viele Leute im Raum waren. Er wüsste es allerdings gern.
Leise wie er war, ging er zu ihm und blieb schräg hinter ihm in seinem toten Winkel stehen.
"Hi," grüßte er.
Es herrschte allgemeines Raunen, aber diese Stimme war nicht zu überhören. Colin fuhr herum und entdeckte Keisuke. Zuerst war nur Erstaunen in seinem Gesicht zu sehen, dann Scham, etwas Farbe kroch in sein weißes Gesicht und er sah schnell wieder weg.
Mit ernstem Blick begann er etwas sehr langsames, tiefes zu spielen. Die Harfistin schien davon nichts gewusst zu haben. Das Stück war nicht geplant gewesen.
Colin schloss kurz die Augen. So zart und mit absteigender Melodie stand es im krassen Gegensatz zu dem wilden Volkstanz von vor zwei Minuten und klang sehr elegant, aber auch ziemlich verzweifelt und traurig. Wenn er zwischendurch die Augen öffnete, sah er in die Luft vor sich oder zu Keisuke.
Keisuke sah mit leichtem Schmunzeln in Colins Gesicht, dessen Ausdruck sich gewandelt hatte, ehe es wieder wegsah. Er begann zuzuhören. Stand einfach da und schloss die Augen. Na super. Colin hatte eine Waffe gefunden, ihn zum Schweigen zu bringen. Ganz toll. Dem spielenden Jungen zuhörend, lehnte er sich an die Wand hinter sich. Schaute die ganze Zeit in Richtung Colin, auch wenn er ihn nicht sah. Er schenkte ihm ein kaum merkliches Lächeln.
Colin hatte keine Wahl, das Stück ausklingen zu lassen, als es zu Ende war, obwohl er das Thema am Schluss zweimal wiederholte. Er ließ den Bogen sinken aber behielt die Geige wie einen Schild auf der Schulter, um möglichst nicht ansprechbar auszusehen, aber als die Harfistin wieder zu spielen begann, konnte er nicht weiter so tun als ob und nahm die Geige auch herunter.
Kei schaute Colin an, amüsiert über dessen Versuche, ihm die kalte Schulter zu zeigen.
"Das finde ich jetzt nicht nett, dass du mich ignorierst," sagte er und musste sich wirklich beherrschen, nicht gleich loszulachen.
"Nett?!" Vor Entrüstung brachte Colin nicht mehr heraus. Der Kerl war ein waschechter Stalker! Er nagte ihm den ganzen Hals wund, begrapschte ihn unaufgefordert, kletterte ihm ins Klo hinterher, kam zu jedem seiner Auftritte seit er auf der Schule war...
Das dachte er, während er Kei anstarrte, war aber zu verärgert - und zu gut erzogen - um es hier laut auszusprechen. Stattdessen wandte er sich wieder von dem Freak ab.
"Was hast du überhaupt an, du passt hier gar nicht hin," maulte er. Dass seine nackten Arme trotzdem echt gut aussahen, fügte er nur in Gedanken hinzu.
Kei lachte. Dann eben nicht, dachte er und amüsierte sich in Gedanken weiter. "Ein Shirt, ne Hose und Schuhe," kommentierte er trocken, musste sich wirklich dazu zwingen. Von Dresscode stand nichts an der Tür. Und was kümmerte es Colin, wie er aussah? Der stampfte gerade entrüstet irgendwoanders hin.
Kei lehnte weiterhin an der Wand, lief ihm nicht hinterher. Colin ging zielstrebig auf eine Wand zu, an der ein riesiges Gemälde von Klippen in einem Sturm hing. Als er es bemerkte, schlug er einen Haken und ging stattdessen auf eine Tür zum nächsten Raum zu. Dort waren auf einem Tisch Gläser mit Wein, Wasser und Saft aufgebaut, die ständig nachgefüllt wurden. Dahinter lag auch Colins Geigenkasten. Er packte sein Instrument weg und nahm sich ein Glas. Nach kurzem Zögern nahm er noch ein zweites mit rotem Traubensaft und ging damit zurück.
Kei beobachtete von seinem Platz an der Wand die Menschen um sich herum und die Gemälde und Ausstellungsstücke. Er sah wirklich unpassend aus, wie er dastand, an die Wand gelehnt, sich mit leicht gesenktem Kopf umschauend. Er sah, wie Colin mit zwei Gläsern wieder zurückkam und schmunzelte innerlich. Der war viel, viel zu gut erzogen, fand er. Das konsequente Ignorieren musste er echt noch lernen.
Langsam ging Colin zurück zu Keisuke und baute sich vor ihm auf. Mit einem der vollen Gläser deutete er vage durch den Raum. "Weißt du überhaupt was das hier ist?" fragte er giftig. Sein Blick sagte 'Erzähl mir nicht, dass du nicht meinetwegen hier bist.'
"Eine Ausstellung in einem noblen Museum," antwortete er, "Mal abgesehen davon, dass ich das Thema interessant finde und es mir wirklich angesehen habe - ja. Ich hatte dich hier vermutet, nachdem ich reingegangen bin und die Musik gehört habe. Ich kann aber auch wieder gehen, wenn dem Herrn meine Anwesenheit nicht in den Kram passt." Mit dieser uncharakteristisch langen Erläuterung und ganz ruhiger Stimme ließ er keine bemerkenswerte Spur von Emotion vermuten.
Colin errötete etwas und sah in das zweite Glas, das er mitgebracht hatte. Wortlos hielt er es Kei hin, ohne ihn anzusehen. Kei bedankte sich japanisch höflich und nahm ihm das Glas ab. Er besah sich Colins Kleidung und befand, dass das besser zu ihm passte als die Schuluniform. Zwischendurch sah er sich im Raum um. Vieles, was hier abgebildet war, hatte er noch nie gesehen. Fernsehen tat er kaum, also bekam er auch keine Dokumentationen über das Ausland zu Gesicht.
Colin trug die Tracht, als wäre sie normal für ihn. Er trank einen Schluck und tippte dann verlegen gegen sein Glas. "Also... was hast du... dir denn so... angesehen?"
Kei fand Colins Verhalten fast schon niedlich, das würde er aber nicht freiwillig zugeben. Am längsten war er tatsächlich in Räumen mit Bildern von Landschaften und Architektur geblieben, bevor er in diesem Raum gelandet war. "Landschaftsmalerei," begann er. "Die sind wirklich schön. Sieht so ganz anders aus als hier." Er erzählte Colin, was er sich alles angesehen hatte und auch, dass er sich das wohl irgendwann einmal vor Ort anschauen wollte. Die schönen Küsten der Inseln, die grünen Hügel, die Felsen und alles, was er sich sonst noch angesehen hatte.
Colin hörte zu und sah Kei dabei an. Er sah aus, als habe er ein schlechtes Gewissen.
Am Schluss sagte er tonlos: "Es ist viel kälter als hier. Und dunkler," als ob das irgendwie relevant wäre. "Und windiger." Dabei lächelte er.
Kei lächelte. "Kälter und dunkler ist okay, das macht mir nichts. Und mit ein bisschen Wind im Urlaub kann ich leben. Zur Not muss ich etwas mehr Haarspray mitnehmen." Er grinste. Er würde sich das gern ansehen. "Und du zeigst mir die Gegend, weil ich mich verlaufen würde," fügte er an.
Colin schmunzelte. "Weil ich die Inseln ja auch wie meine Hosentasche kenne. So wie jeder Japaner schonmal auf den Fuji gestiegen ist und sich in Tokyo auskennt."
Kei grinste. "Naja Schottland ist kleiner als Japan. Und ICH kenne sowohl den Fuji als auch Tokyo." Wobei er damit wohl ziemlich alleine dastand, sich in Tokyo auszukennen. Immerhin war er ständig zu Fuß in der Stadt unterwegs. Er war aber auch ein kleines bisschen fitter als die allermeisten anderen.
"Das behauptest du einfach mal." Colin gab das Grinsen zurück. Er linste auf Keis Haare. "Haarspray ist schlecht für die Ozonschicht," sagte er und rubbelte ihm kurz über den Kopf, machte dann schnell einen Schritt rückwärts.
"Ja, soll ichs dir beweisen?" Er grinste. Er funkelte ihn kurz sehr böse an - grinsend, was dem Ausdruck jegliche Gefahr nahm. Stattdessen hob er Colin mit einem Arm hoch, in der anderen Hand trug er das Glas, und hielt ihn in die Luft.
"Soll ich deine Haare ruiniern? Ich glaub du musst heute noch ein bisschen länger gut aussehen als ich."
Gleichzeitig schockiert und amüsiert musste Colin fast lachen und war drauf und dran, etwas zu entgegnen, als ein Herr sie unterbrach: "Colin, deine Mutter sucht nach dir. Der Termin ist gleich," sagte der beanzugte Japaner. Er bedachte Keisuke mit freundlich hochgezogenen Augenbrauen.
Tatsächlich stand die Dame mit den rotblonden Locken im Nachbarsaal und winkte herüber.
Kei setzte Colin mit leicht argwöhnischem Blick auf den Anzugjapaner ab.
Er grinste. Trank sein Getränk. Verabschiedete sich höflich.
"Bis nachher. Oder morgen."
Colin nickte und deutete ganz automatisch eine Verbeugung an. "Bis morgen." Er ging mit dem Japaner mit, der ihn fragte, wer dieser Junge gewesen sei - Als sie bei der Mutter ankamen, half sie Colin in sein Jackett und gab ihm den Geigenkasten. Dann sah sie sich ein wenig misstrauisch nach dem anderen Jungen um, den der Japaner erwähnte.



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