Friday, September 25, 2015

Kei + Colin XXIII: Ein falscher Schritt




Über das folgende Wochenende nahm Colin dutzende Male sein Handy zur Hand und starrte darauf, unschlüssig auf seinen Lippen kauend, tat aber schließlich nichts damit. Und auf einmal war es wieder Montagmorgen.

MONTAG
Kei war die meiste zeit unterwegs gewesen, hier und da arbeiten, Bandprobe und wahllos irgendwelche Menschen umbringen. Montag früh kam er in seinen üblichen Klamotten zur Schule. Vor dem Gebäude blieb er an einem der Bäume stehen und rauchte, während er sich eine kleine Weile umsah.
Colin wurde mit dem schwarzen Auto gebracht. Als er ausstieg, sah er sich nicht um und ging geradewegs auf den Eingang zu. Dem Wetter und den spätherbstlichen Temperaturen entsprechend trug er über seiner Uniform eine Jacke, sowie eine Mütze und einen Schal. Fast alle ihrer Mitschüler hatten sich mittlerweile auf diese Weise der Jahreszeit angepasst.
Kei trug unter der nicht allzudicken Uniformjacke nichts weiter als ein T-Shirt. Nachdem er seine Zigaretten-'Pause' beendet hatte, ging er ins Gebäude. Langsam, schließlich hatte er es nicht eilig. Auch der schwarze Wagen war ihm nicht entgangen, aber er war sich noch nicht sicher, ob er wissen wollte, ob Colin wusste, was seine Mutter für ein Problem hatte.
Colin wechselte gemächlich seine Schuhe und packte Schal, Mütze und Jacke ebenfalls in den Schrank. Er trug wieder einen dünnen Rollkragenpullover unter dem Jackett. Auf dem Flur begegnete er Shingo, der ihn überschwänglich in Empfang nahm und ihn in den Klassenraum begleitete. Sie unterhielten sich, auf Colins und Tomokos Tischen sitzend, wobei Colin zwar lächelte, aber sehr ruhig wirkte.
Kei kam einige Minuten später dort an, weil er ein paar seiner Bandkollegen begegnet war und mit ihnen ein paar Worte gewechselt hatte. Er setzte sich auf seinen Platz und sah aus dem Fenster, als es in Strömen zu regnen begann. Der Unterricht würde nun bald beginnen und Shingo ging zu seinem eigenen Tisch zurück - auch weil Tomoko sich über seinen Hintern auf ihrem Pult beschwerte, als sie kam.
Colin sah mit einem bedauernden Blick zu Kei hinüber und holte dann seinen Krempel aus der Tasche.
Nach einer kurzen Weile des in den Regen starrens sah Kei zu Colin herüber.
"Was is los?" fragte er schließlich, da der Lehrer noch nicht da war. Colin sah auf und Kei wieder an. Er lächelte ein bisschen.
"Ich -"
"Sooo, Herrschaften, jetzt wollen wir doch mal sehen, wer am Wochenende gefaulenzt und wer gepaukt hat!" kündigte der Mathelehrer an, während die Schiebetür hinter ihm zurauschte und er einen Stapel Blätter auf das Pult knallte. Kei sah in Richtung Lehrer, ließ ein paar leise Flüche los und bedeute Colin ihm das, was auch immer er hatte sagen wollen, später mitzuteilen. Der Mathelehrer sah alles andere als gut gelaunt aus. Als die Blätter ausgeteilt wurden, betrachtete Kei seines nur kurz. Unter allgemeinem Stöhnen und Seufzen wurden die Bücher und Hefte von den Tischen geräumt und die Testblätter herumgereicht. Colin nahm seins ausdruckslos in Empfang und legte es vor sich hin.
"Fangt an," sagte der Lehrer, der mit strengem Blick und verschränkten Armen das Austeilen überwacht hatte, als jeder auf seinem Tisch nichts als das Übungsblatt, Taschenrechner und Stifte liegen hatte. Colin begann ohne zu zögern mit dem Lösen der Aufgaben.
Kei arbeitete das Blatt zwar durch, lenkte sich aber immer wieder ab. Mit dem Blick aus dem Fenster oder dem Blick auf Colin, oder aber seinen Gedanken, sie so gar nicht zu Mathe passten.
Vor Ablauf der Testzeit war aber auch er fertig. Mehr schlecht als recht, aber gerade noch bestanden. Nachdem er sein Blatt umgedreht hatte und wartete, bis der Lehrer den Test als beendet ankündigte sah er zu Colin. Der war lange vor ihm fertig gewesen und hatte ihn mit dem Kopf auf eine Hand gestützt nachdenklich betrachtet. Als Kei ihn ansah, blinzelte er und hob schnell den Kopf, um stattdessen nach vorn zu sehen.
Kei sah weiter in seine Richtung, den Kopf hatte er auf die Arme gelegt.
Beschämt fummelte Colin an seinem Papier herum und hoffte auf das Ende der Stunde, während er auf seinen Tisch starrte und es vermied, Kei wieder anzusehen, obwohl ihm das offensichtlich schwerfiel und er sich dessen Blick unangenehm bewusst war.
Irgendwann schloss Kei die Augen und wartete. Die Stunde musste bald vorbei sein. Sein Blick würde immer noch Richtung Colin gehen, wenn er die Augen offen hätte.
Nach einer halben Ewigkeit sammelte der Lehrer endlich die Blätter ein und stapelte sie sorgfältig.
"Nächste Woche kommt die richtige Klassenarbeit. Jetzt wisst ihr also, was ihr dafür noch nachholen müsst," sagte er, wenige Sekunden bevor die Glocke ertönte. Die halbe Klasse seufzte wieder auf und die andere Hälfte begann mit Unterhaltungen. Colin drehte seinen Bleistift zwischen den Fingern und sah ihn ernst an.
Kei war einigermaßen froh, Mathe hinter sich zu haben - welch wunderbarer Start in eine neue Woche - und setzte sich wieder halbwegs vernünftig hin.
"Du wolltest mir vorhin was erzählen," sagte er zu Colin, so leise, dass man es kaum hören konnte.
Colin sank etwas in sich zusammen. Er hatte gute Ohren. Er sah vorsichtig zu Kei auf.
"Ich... bin ein sehr schlechter Lügner. Weißt du?"
"Weiß ich," sagte er dazu ruhig und wartete geduldig auf das, was jetzt noch kommen würde.
Es fiel Colin offenbar schwer, auszusprechen, worauf er gerade herumkaute.
"Es ist dir wahrscheinlich ziemlich egal..." sagte er, ebenfalls sehr leise, "Ich darf mich nicht mehr mit dir treffen."
Er sah dabei wieder auf seinen Bleistift, verlegen wie er nur sein konnte.
Das interessierte Kei wirklich nicht. Der Verbotsteil zumindest. "Hat sie gesagt, warum?"
Das ließ Colin Kei ansehen. Er blinzelte etwas verwundert und schüttelte dabei den Kopf, als sei das eine dumme Frage gewesen. "Es ist doch ziemlich offensichtlich," sagte er.
Kei musste leicht grinsen. "Ich laufe dir dann nur noch aus Versehen über den Weg," meinte er halb scherzend und nickte schließlich. "Wenn man eine überfürsorgliche Mutter ist, ja." Er selbst dachte da eher pragmatisch. Immerhin hatte er Colin am Leben gelassen und nicht vor ihn umzubringen, obwohl er viel mehr wusste, als gesund für ihn war.
Colin musterte Kei, als gäbe es an seinem Gesicht etwas neues.
"Trink nicht mehr von mir," sagte er leise und war auf die Reaktion gespannt.
Kei war von dieser Idee nicht gerade begeistert. "Warum? Damit du nicht mehr bewusstlos zusammenklappst oder wegen den Verletzungen?" Er hatte die leise Ahnung, dass das irgendwas mit seiner Mutter zu tun hatte.
Colin hatte keine bestimmte Reaktion erwartet, aber diese schien die falsche zu sein. Er sah etwas verletzt aus und sah zurück auf seine Tischplatte.
"... damit ich nicht mehr 'bewusstlos zusammenklappe'," bestätigte er.
Kei wollte das nicht sein lassen, irgendwo konnte er das gar nicht. Colins Reaktion verwunderte ihn ein wenig. Fragend sah er ihn an. "Komm mit nach draußen."
Ohne Zögern legte Colin seinen Stift hin und stand auf.
Kei nahm ihn mit nach draußen auf den Flur, wo sich keine weiteren Schüler befanden. "So. Klartext. Was genau ist das Problem?" wollte er wissen.
Colin schien nicht genau zu wissen, wonach Kei fragte. "Vielleicht, dass ich nur eine endliche Menge Blut besitze?" bot er mit einem Schulterzucken an. Er war uncharakteristisch gelassen und ruhig. Gedämpft statt kämpferisch.
"Das erklärt deine Reaktion nicht wirklich..." kommentierte Kei und sah den Kleineren an.
Colin stutzte und runzelte die Stirn. "Dass ich ohnmächtig geworden bin? Ich finde schon, dass es das erklärt. Allerdings bin ich kein Mediziner..." gab er zurück, wieder etwas mehr er selbst.
"Die eben. Nicht Freitag." Kei war gelassen, wie immer.
Colin war weiterhin verwirrt und das nervte ihn. "Was eben? Was für eine Reaktion?"
"Dein... verletzter Gesichtsausdruck eben," sagte Kei und blieb ruhig. Sah Colin aus den tiefblauen Augen an.
Colin erstarrte kurz und erwiderte Keis Blick vorsichtig.
"Das... interessiert dich doch nicht wirklich, oder?" fragte er nach einigem Zögern leise.
"Wenn es mich nicht interessieren würde, würde ich dort drinnen sitzen und dem Regen zuschauen," kommentierte Kei in stoischer Gelassenheit und lehnte sich an die Wand.
"Es macht dir aber nichts aus -" Colin musste nachdenken und nach den richtigen Worten suchen - "Du hast gesagt, dass es zu schade wäre, mich umzubringen, aber -" Er fand wieder nicht die passenden Worte. Er blickte im Flur herum und steckte die Hände in die Jacketttaschen.
"... Ich finde 'Zusammenklappen' nicht so bombig," schloss er. Das war aber nur fast das, was er sagen wollte. Er kaute sich auf der Lippe herum. "Aber du findest das in Ordnung."
Kei dachte einen kleinen Moment nach.
"Es macht mir nichts aus. Da hast du Recht," erklärte er und wartete immer noch auf eine weitere Antwort. Irgendwas fehlte ihm noch, sonst würde Colin nicht mit der Antwort so sehr herumdrucksen.
Bei Keis Worten schien Colin in sich zusammenzufallen. Er zog die Schultern hoch und wandte den zerstörten Blick von Kei ab. Seine Stimme blieb weiterhin leise, aber nicht mehr so ruhig.
"Das ist okay. Es ist. Okay. Das wusste ich ja. Trink nicht wieder von mir." Er ging plötzlich los, aber nicht zum Klassenzimmer zurück, sondern den Flur hinunter.
Kei blieb dort stehen und sah dem Kleineren nach. Wo zur Hölle ist sein Problem? Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass das Colins Problem war, zumindest nicht das einzige. Der Vampir ging in die andere Richtung nach draußen. Begab sich aufs Dach und zündete sich eine Zigarette an. Dachte nach.
Dann eben nicht... Seine Geduld war nicht besonders groß und in diesem Moment hatte er nicht wirklich großes Interesse daran, sich mit Colins und vor allem seiner eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen. Während er rauchend auf dem Dach stand, sah er in den Himmel vor sich und über die Stadt, die sich zu allen Seiten endlos zu erstrecken schien.

In die nächste Stunde, die bald begonnen hatte, kam Colin nicht. Er harrte im Klo aus, bis sie vorbei war, bevor er zum Klassenraum zurückging, wo er sich so unauffällig, wie es ihm möglich war, zu seinem Platz schlich und sich unsichtbar zu machen versuchte. Er benutzte seine Haare als Vorhang und ging wieder dazu über, in einem Buch zu lesen, das er vor sich auf den Tisch stellte, damit niemand Blickkontakt zu ihm herstellen oder überhaupt sein Gesicht sehen konnte.

Kei ließ das In-den-Unterricht-gehen für diesen Schultag bleiben, stattdessen machte er sich auf in Gefilde der Stadt, die so mancher anderer lieber nicht aufsuchen wollen würde. Er trieb sich den Rest des Tages in zwielichtigen Clubs herum, wo ihm keiner auf die Nerven ging und ertränkte seine Gedanken in Alkohol und Arbeit. Füllte seine Taschen mit Geld und ließ ein paar Hundert Gramm Heroin und Kokain in Umlauf gehen. Für eine Weile vergaß er, darüber nachzudenken, dass er es nicht auf die Reihe bekam, halbwegs vernünftig mit Colin umzugehen.

Colin war froh darüber, dass Kei nicht zurückkam. Das war gut für seine Nerven. Doch als er sich auch nach Unterrichtsende nicht blicken ließ, wurde Colin wärmstens empfohlen, sich Keis Schulsachen anzunehmen, denn er sei ja schließlich mit ihm befreundet. Die Lehrerin und die gesamte Klasse schienen davon überzeugt zu sein, selbst Shingo.
Also packte Colin den Krempel zusammen und nahm ihn mit.
Er wurde wieder von Hiroki abgeholt und machte sich zuhause nach dem Essen sofort ans Pauken und Geigespielen.

Kei übergab den größten Teil des Geldes, das er bekommen hatte, an den Clubbesitzer und widmete sich die halbe Nacht weiterhin Hochprozentigem und irgendwelchen Menschen, für die dies der letzte Abend ihres Lebens sein würde. Erst morgens kam er völlig betrunken nach Hause und fiel beinahe umgehend in sein Bett.
An Colin dachte er ausnahmsweise einmal nicht, während er einschlief.

DIENSTAG
Keisuke schien seine Schultasche nicht zu vermissen. Colin bedachte sie mit einem zweifelnden Blick, wie sie neben seinem Schreibtisch lag, während er sich anzog. Vielleicht hätte er sich gemeldet. Nicht, dass Colin das einschätzen konnte.
Er beschloss, sie dort liegenzulassen. Warum sollte er dem Soziopathen seinen Mist hinterhertragen? Darum sollte der sich schön selbst kümmern.
So dachte er, bis ihm im Auto neben Hiroki auf dem Weg zur Schule auffiel, dass er sich doch beide Taschen umgehängt hatte.
Erleichtert, dass Kei (noch) nicht gekommen war, stellte er dessen Tasche auf seinen Stuhl und nahm sich vor, sich richtig ernsthaft nur auf die Schule zu konzentrieren.

Dem Vampir war noch gar nicht aufgefallen, dass er sein Zeug in der Schule liegen gelassen hatte. Immerhin hatte er alles, was wichtig war, für gewöhnlich in den Hosentaschen. Er schlief ziemlich lang. Den Wecker hatte er gar nicht erst gestellt, weshalb er auch nicht aufstand - geschweige denn zur Schule ging. Nachdem er aufwachte, war das erste, was er tat, der Griff zur Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug.
Irgendwann nahm er sein Telefon zur Hand und schaute drauf. Nichts neues. Er stand auf, ging duschen und zog sich frische Sachen an, ehe ihm auffiel, dass er seine Schulsachen gar nicht mitgenommen hatte.

Der Schultag floss entspannend akademisch dahin und Colin konnte seinem Entschluss treu bleiben. Die Mittagspause war ebenfalls angenehm entspannt. Shingo löcherte ihn nicht und warf ihm nichts vor, und sie gesellten sich zu Ayane und Tomoko, um zu essen, nachdem sie sich Brötchen vom Kiosk geholt hatten.

Kei schrieb zuerst seinen Bandkollegen eine SMS, dass er nicht kommen würde und schrieb dann eine an Colin, ob seine Tasche noch in der Schule wäre. Danach ging er nach draußen.

Colin sah erst nach Schulschluss auf sein Telefon, als er sich längst wieder beide Taschen umgehängt hatte und auf dem Weg zum Schuhschrank war. Seine Antwort bestand aus:
'Ja. Ich nehme sie mit.'

Kei schrieb ein 'Thanks.' zurück und begab sich in die nahe gelegene Einkaufsstraße und machte ein paar Erledigungen, zahlte etwas Geld auf der Bank ein. Sein 'Wocheneinkauf' bestand im Wesentlichen aus Zigaretten, Alkohol und anderen Annehmlichkeiten. Ein paar Lebensmittel waren auch dabei, hauptsächlich deswegen, weil Kei Süßigkeiten und dergleichen mochte und sie gern beim Herumsitzen aß.

Keis Schultasche bekam wieder ihren Platz neben Colins Schreibtisch, als er sich hinsetzte, um seine eigenen Aufgaben zu machen. Als er damit fertig wurde, schielte er darauf. Er stand auf, schob seinen Stuhl ans Bücherregal, kletterte drauf und zog eine Kiste herunter. Die durchsuchte er, bis er gefunden hatte, was er suchte. Sein altes Grundschulenglischbuch und Englischübungsheft steckte er in Keis Tasche.
Dann räumte er die Kiste wieder weg und fing an, Geige zu üben.

Kei war, wieder zuhause, dazu übergegangen ein bisschen Gitarre zu spielen und seine Wohnung etwas aufzuräumen. Irgendwann schrieb er Colin eine Nachricht. 'Kann ich kurz vorbeikommen, um mein Zeug abzuholen?'

Colin überlegte etwas.
Ach, scheiß drauf.
'Ja.'
Er spielte weiter.

Kei machte sich bald darauf auf zu dem großen Haus, in dem Colins Familie wohnte. Er benutzte jedoch nicht die Tür, oder gar die Klingel, sondern klopfte einfach an Colins Fenster und wartete auf dem Sims sitzend.
Colin stand vor einem Notenständer, auf dem ein geöffneter Schreibhefter mit kopierten Notenblättern aufgestellt war und hatte konzentriert gespielt. Als es klopfte, brach er ab und sah zum Fenster.
Sein Blick blieb ernst, als er zum Fenster ging und es öffnete, die Geige und den Bogen noch in einer Hand.
"Hi," grüßte Kei knapp und schaute dem Kleineren in die Augen. Mit mehr Positivem als Gleichgültigkeit in den Augen. Draußen fing es wieder an zu regnen, was ihn nicht groß störte.
Colins Gesichtsausdruck wurde irgendwie etwas weicher, als er den Blick erwiderte.
"Hi," echote er leise. Das Fenster stand nun weit offen. Nach ein paar Sekunden fiel ihm ein, dass er mehr tun sollte, als nur blöd glotzend herumzustehen und lud Kei ein, hereinzuklettern, indem er mit der Geige in den Raum hineinzeigte.
Sein Zimmer war relativ groß und großzügig möbliert. Es standen mehrere Regale voller Bücher, CDs und sogar Schallplatten darin. Neben einem, in dem eine große Stereoanlage mit Plattenspieler stand, stand auf dem Teppich ein kleiner Verstärker, auf dem eine E-Geige lag.
Kei nahm das Angebot gern an und kletterte in den großen Raum. Als er sich umsah, blieb er beinahe an der ganzen Musik kleben. Vor allem an der Anlage.
Den Verstärker mit der E-Geige betrachtete er ebenfalls eingehend.
"Klingt eine E-Geige sehr anders als eine akustische?" fragte er und sah sich weiter um, bis er wieder bei Colin angekommen war.
Colin schloss in der Zwischenzeit das Fenster und legte die Geige auf sein Bett.
"So wie eine E-Gitarre anders als eine akustische klingt. Also ja." Er gesellte sich zu Kei vor das Regal. Seine große CD- und Plattensammlung beinhaltete viele Genres von sehr viel Klassik über Klezmer, internationale Volksmusik, Classic Rock, Heavy Metal, Punk bis zu Pop und Hip Hop und Showtunes. Eines der langen Regalbretter wurde komplett von Notenbüchern, -heften, -heftern und losen Notenblättern belegt. "Natürlich könnten andere Leute da anderer Meinung sein. Es kommt darauf an, wie man sie spielt. Wie bei einer E-Gitarre."
Kei nickte. Eine E-Geige hatte er noch nie gehört. Er betrachtete die enorme Musiksammlung weiterhin, die meisten der Interpreten sagten ihm nichts oder nicht viel. Jedenfalls deren Namen nicht. Irgendwann fielen seine Augen auf die Schallplattensammlung. Er betrachete Colins Einrichtung weiter.
"Du wohnst echt nicht schlecht," sagte er irgendwann.
"Wenn man von den Nachbarn absieht..." Colin musste schmunzeln.
Kei schmunzelte ebenfalls leicht. "Die sucht man sich aber auch nicht aus.."
"Die Familie auch nicht. Der ganze Krempel hier gehört ja streng genommen nicht mir." Er wandte sich ab und ging zum Schreibtisch. "Wenn meine Mutter Malerin statt Sängerin wäre, hätte sie vielleicht beschlossen, dass ich nicht so viel Musik brauche und hier stünden jetzt fünf Staffeleien oder so." Er zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht wärst du dann auch eher an Kunst interessiert als an Musik," kommentierte Kei und lehnte sich an das Fensterbrett. Eine Hand in der Jackentasche und die andere in der Hosentasche.
Er betrachtete den Kleineren.
Colin hatte seine schwarzen Ziviljeans und einen abgetragenen Kapuzenpullover mit bröckelndem Rolling Stones-Aufdruck an, sodass sein fleckiger Hals samt frischem Pflaster freigelegt war und ging mit besockten Füßen umher. Die Ärmel hatte er zum Spielen hochgekrempelt und die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden.
Nun hob er Keis Schultasche hoch und brachte sie ihm.
Er lächelte, als er sie ihm reichte.
"Hast du das kleine Teehaus im Garten gesehen? Es ist neu. Wir weihen es morgen ein."



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