Wednesday, September 16, 2015

Kei + Colin II: Der zweite Eindruck

Hier geht es zum ersten Teil.


Am nächsten Morgen fing er den Jüngeren vor dem Eingang zum Gebäude ab.
"Colin!" Mit Höflichkeiten hielt er sich nicht auf.
Colin stutzte. "Äh... Kerl."
"Kei, aber das tut nichts zur Sache. Du hast was gefunden, das mir gehört, ich hätte es gern zurück." Von Freundlichkeit war in seiner Stimme kein Hauch zu vernehmen.
Colin sah kurz überlegend zur Seite.
"Äh. Deine Höflichkeit? Die könntest du fallengelassen haben, als du mich gestern angerempelt hast."
"Nein, etwas größeres."
Colin musste plötzlich lachen.
"Okay, dein Ego?"
"Kleiner. Etwas greifbares. Es ist dir vor die Füße gefallen."
Colin lächelte freundlich. "Du irrst dich. Das Schulbuch gehört mir." Er schob die Hände zurück in die Hosentaschen und machte Anstalten, an Kei vorbeizugehen. Dessen Geduldsspanne war nicht gerade die längste, also hielt er den kleineren mühelos an der Schulter fest und somit auf.
"Die Münze, du Blitzbirne. Die blutige, wenn dir das denken hilft."
Colin blickte finster auf. "Fass mich nicht an."
"Heul nicht rum und gib mir die Münze zurück, dann kannst du da gern hineingehen." Keis gelangweilter Blick hatte sich zu Aggression gewandelt. Colin versuchte, sich mit einem Ruck aus seinem Griff zu befreien und weiterzugehen, doch Kei drückte nur fester zu.
"Hörst du schwer?"
Colin kniff aus Unwohlsein die Augen etwas zusammen, aber blieb bloß stehen und ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten.
"Ja. Ich bin furchtbar schwerhörig. Könntest du das bitte wiederholen? Laut, bitte."
Anstatt die Stimme zu erheben, hob Kei den Kleineren einfach in die Luft und drückte ihn an die Wand. "Du hast mich genau verstanden, Zwerg."
Der Zwerg vergaß vor lauter Verblüffung, sich zu wehren und guckte den Verrückten nur entgeistert an.
"Hast du sie noch alle?"
"Nein. Damit das geklärt ist. Und jetzt rück meine Münze raus." Kei machte gar nicht erst den Versuch, zu erklären, dass ihm etwas viel an dem kleinen Stück Metall lag. Er trug es seit jenem Tag mit sich herum. Immer. Was war er auch so dumm gewesen, ausgerechnet diese Münze fallen zu lassen...
"Es sind lächerliche hundert Yen, du Wahnsinniger!"
"Hör das Diskutieren auf und gib sie mir zurück." Keis Blick wandelte sich von Aggression zu etwas anderem. Wut vielleicht. Etwas derartiges, nur tödlicher. Colin konnte gerade noch schlucken.
"Okay, lass mich los," flüsterte er.
Kei ließ ihn los - ohne ihn abzusetzen. Machte aber keine Anstalten ihm Raum zur Flucht zu geben und wartete. Beim Herunterkommen rempelte Colin ihn etwas an und richtete sich eilig wieder auf. Er griff in seine Hosentasche, zog die Hand wieder heraus, blickte auf die kleine Münze und
- steckte sie sich in den Mund. Er sah Kei ins Gesicht und schluckte demonstrativ.
Keis Geduld war endgültig am Ende.
"Spuck die verdammte Münze aus, oder es klebt DEIN Blut daran."
Das brachte Colin wieder zum Lachen und er lehnte sich zurück an die Wand. Er bewegte den Mund etwas, grinsend, öffnete ihn dann und streckte kurz die Zungenspitze heraus, auf der die Münze lag. Nachdem er den Mund wieder geschlossen hatte, schmunzelte er immer noch.
Am liebsten hätte Kei ihm das Gesicht zerschnitten. Das käme in der Schule allerdings schlecht. Ein bisschen jedenfalls. Mit einem Messer, welches er aus seiner Hosentasche zog, strich er Colin über die Wange.
"Gib mir die Münze wieder, du bereust das noch," sagte er fast schon zu freundlich.
Als er das Messer bemerkte, hörte Colin auf zu lächeln und versuchte, kontrolliert zu atmen und Kei weiter fest anzusehen. Er sah aber eher fasziniert als ängstlich aus.
Nachdem er Keis Gesicht etwas gemustert hatte, öffnete er langsam wieder den Mund und schob sich die Münze zwischen die Lippen.
Keis Gesicht verzog sich zu einem mörderischen Grinsen.
"Danke, Verehrtester," sagte er leise, kam dem Jüngeren sehr nahe. Die Münze holte er sich mit den Zähnen zurück.
Mit dem Stückchen nicht mehr wirklich blutigen Metalls zwischen den Lippen ließ er schließlich von Colin ab, drehte sich um und ging, als wenn nie etwas gewesen wäre. Vorher jedoch schnitt er nicht tief und nicht lang in Colins Arm. Ließ ein, zwei Tropfen Blut auf die Münze tropfen. "Mach das nicht nochmal," sagte er, während er durch die Tür ging.
Colin sah ihm nach und schauderte. Als Kei außer Sicht war, zog er sich den Ärmel wieder herunter und ging zögernd hinterher zum Klassenraum.

Beim Eintreten vermied er es, jemanden direkt anzusehen und steckte sich nervös viel häufiger als nötig die Haare hinter die Ohren.
Kei schaute gelangweilt drein, wie den gestrigen Tag auch. Er grinste kaum merklich als er sah, dass Colin etwas unsicher in den Klassenraum kam. Er war selbst Schuld. Der Siebzehnjährige genoss das ein bisschen, ehe er dazu überging, wieder teilnahmslos aus dem Fenster zu starren.
Colin derweil baute seinen Krempel auf und linste dabei zu Keis Tisch um zu sehen, was darauf herumlag.
Kei hatte die Münze in der Hand herumgetragen, da das Blut darauf erstmal trocknen musste. Um sie nicht wieder zu verlieren nahm er eine kleine Silberkette aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch zusammen mit Block und Federtasche. Die Kette fädelte er durch die Münze, die ein kleines Loch zu diesem Zwecke aufwies. Irgendwer hatte vor etlichen Jahren mal ein Loch hineingebohrt. Kei hatte das nie interessiert, bisher war ihm die Münze auch noch nie abhanden gekommen. Er befestigte das nun Schmuckstück an seinem Hals, Noch rot von Colins Blut.
Colin beobachtete das und wartete, bis Kei mit dem Schließen der Kette fertig war, bevor er sich zu ihm beugte und flüsterte: "Warum hast du mich damit beworfen, wenn du sie behalten wolltest?"
"Das war ein Versehen. Ich wollte sie nicht fallen lassen," erklärte Kei kurz.
Colin runzelte die Stirn. "Fallen lassen," wiederholte er trocken.
"Ja. Problem damit? Wenn ich dich damit beworfen hätte, würde ich sie sicher nicht wiederhaben wollen. Das wäre ein Geschenk gewesen." Kei verstand nicht ganz, was Colin daran so ungewöhnlich fand. Bis ihm einfiel, dass er unbemerkt geblieben war und man denken musste, dass er die Münze geworfen hatte. "Ich saß auf dem Dach."
Colin gab ihm einen unüberzeugten Blick. "You're shitting me."
"Was kann ich dafür, wenn du nicht schaust, wo die Dinge herkommen, die ausversehen vor deinen Füßen landen?" Verstanden hatte er ihn kaum, der Blick war aber eindeutig.
"Das kitschige Glasdach. Ich lag neben dem Fenster, das war offen. Erklärung genug?"
Kei war angepisst, aber die Aggression von vorhin ließ sich in seinem Blick nicht vermuten, er schaute einfach genervt.
Colin gab sich Mühe, nicht zu grinsen, war aber offensichtlich amüsiert. "Warst du da, weil du dir keine Karte leisten konntest? Oder ist das ein guter Platz für ein Nickerchen?"
"Es ist ein guter Platz für ein Nickerchen," erwiderte Kei trocken. Dass er wegen Colin dagewesen war, musste der ja nicht wissen.
Colin lächelte breit. "In dem Fall ... Muss ich dich ja gut in den Schlaf gewiegt haben. Du warst nicht mal mehr dazu in der Lage, dein Schmusegeld festzuhalten." Er machte ein fast mitleidiges, aber eher amüsiertes Gesicht und eine vage, schwächlich winkende Geste mit der Hand.
"Ja, Einschläfern kannst du auf hohem Niveau. Das muss man dir lassen." Kei veränderte seine Miene kein bisschen. "Du hast 'ne große Fresse für deine vierzehn Jahre, Kleiner. Pass gut drauf auf, wir wollen doch nicht, dass dein hübsches Gesicht kaputt geht, oder?" Kei war verdammt leicht zu provozieren und sehr ungeduldig. Er hatte nicht wirklich Lust das Gespräch mit dem Kleinen fortzuführen, schließlich hatte der ja seine Antwort bekommen.
Colin hatte seinen Kopf auf die Faust gestützt und Kei dreist weiter angelächelt, und nickte nun verständnisvoll. "Es rührt mich, dass du mein Handwerk anerkennst und sogar mein Gesicht hübsch findest. Ich werde gut darauf aufpassen. Aber wenn nochmal Geld vom Himmel fällt, kann ich nicht dafür garantieren." Er zuckte mit den Schultern und machte ein gekonnt unschuldiges Gesicht.
Die Lehrerin rauschte endlich herein, knallte einen dicken Hefter aufs Pult und verkündete den Beginn des Unterrichts.
"Los, Allemann, Japanisch, Seite 35!" rief sie feldwebelhaft in den Raum hinein.
Kei hasste diese Frau, aber das tat er mit allen Menschen. Bei Colin war er sich noch nicht sicher.
"Keine Sorge, die Versuchung wird dir erspart bleiben." Kei blätterte in seinem Japanischbuch herum und landete irgendwann tatsächlich auf der gefragten Seite. Beim Lesen fing er wieder damit an, auf einer seinen grünen Haarsträhnen herumzukauen.
Colin öffnete das Buch auf Seite 35 und wurde als Neuling gleich zum Vorlesen der halben Seite aufgefordert. Es war ein alter Zeitungsartikel voller antiquierter Ausdrücke und heute fast ungebräuchlicher Kanji. Er stand auf und las ihn flüssig vor.
Kei staunte nicht schlecht. Ein weiteres Mal hatte der Kleine ihn verwirrt und verblüfft. Während er sich fragte, wo Colin diese Kanji gelernt hatte, las er beiläufig mit und driftete mit seinen Gedanken ab.
Er sah wieder aus dem Fenster.
Colin beantwortete noch ein paar Fragen zu der Bedeutung einiger der Wörter und setzte sich wieder. Er folgte einigermaßen interessiert dem Unterricht und machte sich unaufgefordert ein paar Notizen, während Kei sein Heft vollmalte, solange er nichts schreiben musste.

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