Wednesday, September 23, 2015

Kei + Colin XVII: Der Morgen danach




Kei selbst trocknete sich ganz ab, er tropfte nicht gern den ganzen Boden voll, aber es machte ihm nichts, wenn Colin das tat. Den Kleineren aus dem Augenwinkel betrachtend machte er sich daran, kurz zu verschwinden. Mit einer Trainingshose an den Beinen kam er wieder zurück.
"Es ist spät, willst du hier oder bei dir schlafen?" fragte er. Es war mittlerwile wirklich ziemlich spät und Kei würde Colin ungern durch dieses Viertel laufen lassen. Das war gefährlich. Er ließ sich von seinen Gedanken nichts anmerken.
Colin nahm langsam das Handtuch herunter, mit dem er sich gerade über die Haare gerubbelt hatte. Die feuchten Locken fielen nun über sein Gesicht und er sah Kei vorsichtig an.
"Ich hatte damit gerechnet, die ganze Nacht lang im Hotel zu sein," sagte er heiser. "Irgendwie habe ich gesagt, dass ich bei dir übernachten würde," gab er schüchtern zu, als er Keis Blick auswich und sich das Handtuch um die Hüften wickelte.
Kei nickte. "Machs dir gemütlich. Du kannst schlafen, wo du willst." Er fügte noch hinzu: "Sag Bescheid, wenn du was brauchst." Er erwiderte Colins Blick freundlicher als sonst, die leicht ausbleichenden Strähnen im Gesicht. Er trocknete seine Haare und wusste nicht recht, was jetzt. Besuch hatte er nicht besonders oft und schon gar nicht solchen, den er nicht wieder loswerden wollte. Zugeben konnte er das nicht. Wollte er nicht. Er entschied sich dazu, einfach Gitarre spielen zu gehen.
Colin sammelte im Wohnzimmer seine Kleider auf. Seine Boxershorts und sein Sweatshirt zog er sich langsam und vorsichtig an, und legte den Rest auf eine Armlehne des Sofas, als Kei hereinkam. Er setzte sich im Schneidersitz hin und beobachtete Keisuke. Sein Sweatshirt rieb unangenehm an seinem wunden Hals.
Kei nahm auf dem Boden Platz und drapierte die Gitarre auf seinem Schoß. Den Verstärker hatte er leise, ganz leise gedreht und spielte vor sich hin. Etwas ruhiges. Aber nicht traurig. Sein Blick ging mal durch den Raum, mal zu Colin und mal waren seine Augen geschlossen.
Colin sah und hörte stumm zu. Zwischendurch lächelte er ein bisschen. Er wischte sich noch ein paarmal Tränen ab.
Es dauerte nicht lang, bis er auf der Seite lag, den Kopf auf seiner Hose auf der Armlehne und die Beine etwas umeinander gewickelt, und eingeschlafen war.
Kei spielte bis tief in die Nacht und betrachtete Colin dabei immer länger. Sah ihm beim Schlafen zu. Wie kann man so bloß schlafen? Seine Finger glitten so lange über die Saiten des Instruments, bis auch er beim Spielen einfach einschlief und gegen den Verstärker gelehnt, Gitarre in den Händen, dasaß. Bis zum nächsten Morgen.

DIENSTAG
"I love you the most, I do, when you suffer for me!" kreischte es aus Colins Jeans und er zuckte zusammen und fuhr hoch. Er fummelte nach seinem Telefon, aus dem es weiter schrie.
"I don't want a sweetheart, all I want's a machine!" Er fummelte und schaltete es aus.
Kei blinzelte verschlafen, als er dem Lärm vernahm, den er nicht verstand. Den Kopf hebend schaute er in die Richtung.
"Morgen," murmelte er müde.
"Entschuldigung," sagte Colin. Er sortierte sich und stand auf, wobei er gleichzeitig versuchte, sich die Hose anzuziehen. "Du musst noch nicht auf-" Er hielt inne und sah auf. "Warte, hast du die ganze Nacht da gesessen?"
"Hm... Ja." Er sah auf die Gitarre in seinen Händen. "Bin wohl beim Spielen eingeschlafen..."
Colin schmunzelte böse und knöpfte sich die Hose zu.
"Du kannst auch auf hohem Niveau einschläfern. Ich dachte, Vampire müssten nicht schlafen."
"Ich brauche Schlaf auch nicht wirklich. Aber ich schlafe gerne. Vierundzwanzig Stunden muss ich mir das Elend des Lebens nicht anschauen." Kei grinste innerlich über Colins Kommentar und nahm das als Kompliment, wenn es auf den gestrigen Tag bezogen war.
Nun widmete sich Colin seinen Socken.
"Wie alt bist du?"
"Siebzehn. Noch," antwortete er und stellte die Gitarre beiseite.
Colin sah auf und stand wieder auf. "Wirklich? Bist du gestorben als du siebzehn warst oder bist du vor siebzehn Jahren geboren worden?"
Kei schmunzelte. "Vor siebzehn Jahren geboren worden," erklärte er und erhob sich.
Colin sah aus, als fielen ihm noch andere Fragen ein, doch er sah auf Keis nackten Oberkörper und strich sich verlegen durch den sehr unordentlich gelockten Schopf, als er schnell sein Handy aus der Hosentasche zog.
Kei betrachtete den Kleineren und lächelte kurz kaum merklich.
"Wirst du schon vermisst?" fragte er nach und sah auf das Telefon in Colins Hand.
"Wahrscheinlich nicht. Aber ich brauche meine Uniform," erklärte er knapp. Er machte sich daran, den Raum zu verlassen, ohne Kei weiter anzusehen. "Das war nur mein Wecker," merkte er unterwegs an.
Ihm nachsehend machte auch Kei sich daran den Raum zu verlassen, in Richtung seines Schlafzimmers. Er hatte ganz vergessen, dass schon wieder Dienstag war. Shit... Es ist schon wieder Dienstag...
"Wie spät ist es?" wollte er wissen.
"Fünf!" rief Colin, während er sich die Schuhe anzog und dabei schonmal die Tür öffnete.
"So früh?" Verblüfft sah Kei ihm nach. "Warte kurz," bat er und lief in seine Richtung. Bei ihm angekommen umarmte er ihn ganz kurz.
Vor Überraschung versteinerte Colin und fiel rückwärts gegen die Tür, die daraufhin wieder zufiel. Ein Bein in der Luft zu haben und es dabei festzuhalten, war seinem Gleichgewicht etwas abträglich gewesen.
"Äh," sagte er.
Kei verabschiedete ihn mit einem "Man sieht sich," als er den Kleineren wieder losließ.
"Äh," sagte Colin wieder und öffnete hastig die Tür. Er sah Kei streng und misstrauisch an und verschwand eilig.
Kei musste grinsen, als Colin weg war. Vor allem über sich selbst. Sich fragend, was eigentlich gerade mit ihm los war, machte er sich daran, sich anzuziehen.

Auf seinem Heimweg wechselten sich Sorgen über die Sache mit dem Video und allgemeine bis sehr spezielle Verwirrung über die letzte Nacht und Keisuke ab. Als er nach Hause kam, war niemand da, dem sein Zustand hätte auffallen können, bis er seine Haare etwas gebändigt hatte - sie waren nun kein Gestrüpp mehr, doch viel lockiger als sonst und er band sie sich zu einem festen Pferdeschwanz. Sein Anblick im Spiegel schockierte ihn im ersten Moment ein wenig. Gegen seine Blässe hoben sich die Flecken und teilweise offenen Wunden um seinen Hals ab, als wäre er gerade vom Galgen abgenommen worden. Anstelle des Hemdes zog er also einen schwarzen Rollkragenpullover an. Den konnte er gut mit dem kalten Herbstwetter legitimieren.
Erst als er fertig uniformiert war, begegnete er in der Küche Hiroki. Das machte ihn etwas nervös, denn Hiroki war weder blöd noch blind vor Vertrauen, aber er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte, dichtzuhalten. Seine Mutter würde ihn wochenlang zuhause festsetzen, während Hiroki ihm sowas wie ein Leben zugestand. Er verabschiedete ihn allerdings mit einem mahnenden Blick.
Das würde noch 'ein Gespräch' geben, wusste Colin.
Er wechselte sofort die Straßenseite, um nicht direkt am Haus des Erpressers vorbeigehen zu müssen. Es war niemand davor zu sehen, keine Absperrbänder oder etwas anderes Außergewöhnliches. Das erleichterte ihn kaum.
Er kam rechtzeitig an der Schule an. Es waren schon viele andere Schüler da.

Nachdem er sich ein paar Kleider inklusive der Jacke seiner Uniform herausgesucht hatte, kramte er seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an - zum Frühstück quasi. Sein eigentliches Frühstück war Colin gewesen. Er zog sich an und setze sich mit Gitarre und Kippe in der Hand auf das Sofa, wo er noch eine Weile spielte. Es war noch Zeit bis er losmüssen würde. Er dachte nach, versank ein wenig in seinen Gedanken. Irgendwann stand er auf, ging ins Bad, richtete sich etwas her und packte sein Zeug zusammen.
Als er die Tür hinter sich ins Schloß fallen ließ, kam ihm sein genervt wirkender Nachbar entgegen, der ohne eine Vorwarnung loswetterte, was ihm bitte einfiele, mitten in der Nacht so einen Lärm zu veranstalten. Kei erwiderte, dass er in seine Wohnung tun und lassen könne, was er wollte und ging weiter.

Zur Schule kam er pünktlich, beinahe früh. In den Unterricht jedoch beinahe zu spät. Er setzte sich und beachtete weder Mitschüler noch Lehrer.
Colin sah auf, als Kei hereinkam. Sein Gesicht wirkte nicht hocherfreut oder nervös, aber offen und freundlich.
Kei wirkte wie immer. Als interessiere ihn das Geschehen um ihn herum nicht im Geringsten. Colin war der einzige den er direkt ansah, wenn auch nur ganz kurz von seinem Platz aus.
Colin folgte wie üblich konzentriert und vorbildlich dem Unterricht und machte seine Aufgaben. Zwischendurch spielte er nachdenklich mit den Lippen am Kopf seines Druckbleistiftes herum und sah gelegentlich zu Keisuke hinüber. Der Vampir war nicht der Typ zum Händchenhalten, sicher, aber er hatte doch etwas mehr als diese neutrale Kenntnisnahme erwartet. Nach letzter Nacht. Und heute morgen.
Der Grund warum Kei zur Schule gekommen war, war die Clubzeit danach. Er mochte das Gitarrespielen und seine Kollegen waren auch in Ordnung.
Ein Teil von ihm mochte es auch, wenn Colin ihm zuhörte. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier.
'Bin ich gut genug fürs Konzert? Mach dir mal ein Bild davon. Du bist gut darin...'
Das war sein Versuch einer Kontaktaufnahme. Er wollte es wirklich wissen und Colin kannte sich mit Musik aus.
Colin lächelte, als er die Notiz las.
'Du oder Rood?' schrieb er in seiner winzigen, sauberen Schrift darunter und legte das Blatt auf Keis Tisch zurück.
'Ich. Dass die anderen spielen können, weiß ich. Aber ich hab die Gitarre noch nicht lang' kritzelte er auf das kleine Zettelchen. Er wusste zwar mit einer Gitarre umzugehen, aber das Konzert war nicht mehr allzu lang hin und er hatte keine große Spielerfahrung.
Er malte noch einen kleinen Smiley auf das Blatt. Einen zwinkernden.
Colin zwang sich sein Schmunzeln aus dem Gesicht. Ein Smiley, echt jetzt? Er warf Kei einen Seitenblick zu und ließ das Blatt vor sich liegen, ohne zu antworten. Stattdessen sah er wieder nach vorn und schrieb weiter von der Tafel ab.
Kei grinste. Mission erfolgreich. Colin schien damit nichts anfangen zu können.
Er wendete sich nun seinerseits den Aufgaben zu und kritzelte ein paar wirre Noten an den Rand.
Als die Stunde vorbei war, drehte sich Colin auf dem Stuhl zu Kei um. Kei packte sein Zeug gerade zusammen als er den Kopf hob und Colin sah.
"Hm?"
"Du bist gut genug. Aber du musst die Sache ernster nehmen. Bei eurer Probe, die ich gehört habe, hast du nur herumgespielt." Er sah ernst und ehrlich aus, aber lächelte fast. "Damit machst du es den anderen schwer." Er sah Kei ruhig an.
Kei sah ihn beinahe verblüfft an, weil er nicht damit gerechnet hatte, jetzt eine Kritik von Colin zu hören. Er nickte, schließlich war ihm das tatsächlich wichtig und das einzige, was er wirklich ernster nahm als den Rest seines Lebens.
"Danke," sagte er nach einer Pause. "Willst du nachher mitkommen? ... Zur Probe mein ich..." Für Kei war es mehr als ungewohnt ein ganz normales Gespräch mit Colin zu führen. Er blickte ebenso ruhig, wie er angesehen wurde.
Colin errötete ein ganz kleines bisschen und nickte.
Kei stand auf und ging draußen, eine rauchen, die wirren Gedanken ordnen. Vergeblich.
Erst zu Beginn der nächsten Stunde kam er zurück in den Raum und setzte sich wieder. Colin hatte in der Zwischenzeit in einem Schulbuch gelesen - anscheinend hatte er über das Wochenende nicht alles vorbereitet. Was für eine praktische, effiziente Methode, seine Gedanken von Keisuke wegzuzwingen. Er grüßte Kei mit einem halben Schmunzeln und verbrachte den folgenden Unterricht wie zuvor damit, sich auf ihn zu konzentrieren und ab und zu Kei einen ziemlich neutralen Blick zuzuwerfen.
Kei war ebenfalls mit dem Versuch des Ablenkens beschäftigt. Er malte allerdings lieber, als zu lesen und sah ab und an unauffällig in Richtung Colin. In seinem Kopf war alles Möglische, aber kein Unterricht. Häufig ertappte er sich dabei an die vergangene Nacht zu denken. Den Lehrer erdolchte er mit einem Blick, als dieser ihn ernahmte, dem Unterricht zu folgen. Colin grinste dazu nur unverhohlen, aber sah weiter in sein Heft.
Als diese Folterstunde auch endlich vorbei war, lehnte Colin sich zurück und zog seinen Rollkragen etwas herunter, sodass die gelben und lila Flecken sichtbar wurden. Er kratzte sich vorsichtig, während er seine Tasche einpackte. Kei betrachtete sein Kunstwerk, mit leichtem Grinsen. In spätestens ein paar Tagen würde er ein neues gestalten müssen. Da fehlte ein bisschen Grün... Das würde morgen schon wieder anders aussehen.
Schnell packte er sein Zeug zusammen und stand auf.
Pause.


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