Friday, September 25, 2015

Kei + Colin XXIV: Näher




Kei bedankte sich, als er sein Zeug bekam und schüttelte leicht den Kopf.
"Nein. Aber ich sehe es mir an, wenn ich auf dem Rückweg bin," versprach er.
Er mochte Teehäuser. Zwar war er kein allzu großer Teetrinker, aber sie waren einfach schön.
Colin nickte zufrieden. Dann stand er nur so rum und musterte Kei.
Kei lächelte leicht, als er sich die Tasche umhängte.
"So. Ich bin dann mal weg, bevor deine Mutter mich hier erwischt. Sie ist ja nicht besonders gut auf mich zu sprechen," erklärte er und schaute dem Kleineren dabei in die Augen.
Colin erwiderte den Blick, immer noch friedlich. "Ja. Warte."
Er machte einen Schritt auf Kei zu, streifte ihn dabei etwas und lehnte sich neben ihm auf die Fensterbank, um hinauszusehen. "Vielleicht sind die Hunde draußen," erklärte er leise, etwas verschämt. Er war in Lügen und Vorwänden gleichermaßen schlecht. Vielleicht war Kei es aber auch einfach egal und es fiel ihm nicht auf, dass er nur dicht neben ihm stehen wollte. "Bei dem Regen aber eher nicht mehr," er zuckte wieder mit den Schultern und richtete sich wieder auf.
"Ich bin ein bisschen schneller als deine Hundchen," sagte Kei mit einem Hauch Amüsiertheit. "Worauf warten?" wollte er wissen und schaute ein bisschen hinaus in den Regen. Dieser war in den letzten Minuten zu einem starken Schauer mutiert. Ihm fiel zwar auf, dass Colin der schlechteste Lügner der Welt war, aber er ließ das Kommentieren davon einfach bleiben.
"Möchtest du einen, äh... Regenschirm haben?" fragte Colin. "Oder vielleicht... warten bis der Regen nachlässt?"
Kei dachte kurz nach, lächelte ein ganz kleines bisschen. "Warten ist gut." Er bezweifelte, dass ein Schirm bei dem Regen auch nur den kleinsten Hauch von Schutz geben könnte und der Vampir hatte keine wirkliche Lust darauf, wieder bis auf die Knochen nass zu werden.
Colin gönnte sich wieder ein Lächeln und ging gemächlich zum Schreibtisch zurück, um seine eigenen Schulsachen einzupacken.
"Willst du die E-Geige mal ausprobieren?"
"Das könnten deine Ohren bereuen, aber gern." Kei hatte nie eine Geige mit der Absicht, ihr einen Ton zu entlocken, in der Hand gehabt.
Er setzte seine Tasche wieder auf dem Boden ab.
Colin hockte sich vor den Verstärker, stöpselte ihn ein und schaltete ihn ein, stellte ihn dann etwas mehr in den Raum hinein und nahm die Geige auf die Schulter. Aus dem Regal nahm er einen Bogen, spannte ihn und begann, die Saiten zu stimmen. Nach weniger als einer Minute war er zufrieden und schaltete einen kleinen Regler an der Geige ein.
Kei sah ihm dabei zu und ging zum Verstärker herüber. Seiner Meinung nach stand Colin die Geige wirklich gut. Genau, wie ihm der Anblick von Colin in Zivilkleidung - so ganz unförmlich - ziemlich gut gefiel.
Das behielt er jedoch für sich.
Nachdem er noch die Lautstärke etwas ausprobiert hatte und damit zufrieden war, hielt er Kei die Geige und den Bogen hin.
Kei nahm die Geige und den Bogen entgegen.
"Wenn du keinen Hörschaden erleiden willst, musst du mir helfen, ich hatte noch nie eine Geige in der Hand," erklärte er. Sein Blick war freundlicher geworden. Zwischendurch folterte er sein Piercing, das nur als schwarze Kugel direkt unter der Unterlippe sichtbar war.
"Okay, also zuerst hör auf, auf deiner Lippe herumzukauen. Wenn du deinen Kiefer so bewegst, während du Geige spielst, beißt du dir nur die Zunge ab." Er nahm seine Geige vom Bett und klemmte sie sich auf die Schulter. "Mach es so wie ich. Das schwarze Plastikteil da ist für dein Kinn."
Kei folgte Colins Anweisungen und tat dem Stecker an seinem Mund auch den Gefallen, ihn in Ruhe zu lassen.
"So?"
Colin nickte und hielt Kei seinen Bogen hin. "So hält man den Bogen."
Kei begann ein wenig deutlicher zu lächeln, und hielt den Bogen, so wie es ihm gezeigt wurde.
"Halte deine Finger locker, damit sie nicht verkrampfen. Das passiert am Anfang leicht, wenn du dich darauf konzentrierst, den Griff so zu halten." Er setzte den Bogen auf die Saiten und strich sanft und langsam über die tiefste.
Das war tatsächlich nicht so einfach, wie es aussah. Der erste Ton, den Kei dem Instrument vorsichtig entlockte, war sehr schief. Der nächste Versuch war etwas besser.
"Du musst den Bogen ruhig halten und darfst nicht drücken. Probier die anderen Saiten aus. Es wird alles ein wenig... künstlicher klingen als bei mir." Er nahm seine Geige wieder herunter.
Kei probierte ein wenig herum und fand den Klang einer E-Geige ziemlich ungewohnt, aber irgendwie gut, auch wenn er das Instrument nicht spielen konnte. Ein paar gar nicht mal so dramatisch schlecht klingende Töne bekam er heraus. Das Probieren machte ihm sichtlich Spaß.
Colin sah lächelnd zu und nickte ermutigend. Er zeigte Kei ein paar einfache Griffe und zeigte dabei auf die Saiten, die er gleichzeitig streichen sollte.
Kei, der mit einer Gitarre ziemlich geschickt war, stellte sich beim Greifen auf der Geige zwar weniger gut, aber nicht gänzlich dämlich an. Die Handhaltung war für ihn mehr als ungewohnt.
Mit einem leichten Lächeln, das vor allem seiner gar nicht mal so unterirdischen Leistung geschuldet war, spielte er unter Colins Anweisung. Es machte ihm Spaß.
Colin lächelte breiter und zeigte Kei eine einfache Melodie. Es gelang ihm nach einer Weile, dem Instrument die gewünschten Töne zu entlocken, wenn auch etwas holprig. Dass er eigentlich nur kurz vorbeikommen wollte, hatte er längst wieder vergessen.
Colin nickte und ließ Kei damit weitermachen, während er sich auf das Bett hinter sich setzte und sich seine Geige auf den Schoß legte. Er sah Kei gespannt und mit wachsender Amüsiertheit zu. Der Vampir machte einfach weiter damit, mit leichtem Lächeln auf den Lippen, Colins Geige ein wenig zu malträtieren. Eine ganze Weile sogar. Colin faltete seine Beine in einen Schneidersitz, stützte die Ellenbogen auf die Knie und sein Kinn in eine Hand. Er schmunzelte friedlich.
Als das Telefon in seiner Hosentasche anfing zu plärren, nahm Kei das Instrunment herunter und nahm das kleine nervige Gerät in die Hand. Ein Anruf. Er ging dran und grüßte den Anrufer mit: "Was willst du? Wo hast du meine Nummer her?" Nachdem er dem anderen kurz zugehört hatte, sagte er: "Klär das nicht mit mir. Ruf Izawa an." Er legte auf.
Genervt seufzte er.
Colin hob die Augenbrauen. Er musterte Kei. Der schaute ihn schulterzuckend an und kommentierte sein Telefonat mit: "Ein nerviger Penner."
"Und wer war am anderen Ende der Leitung?" Colin kniff die Augen zusammen. Warum kann ich mir das nicht verkneifen?! Grrr.
Kei steckte das Handy wieder weg. "Ein Typ, der nichts besseres zu tun hat, als mir auf den Sack zu gehen," erklärte er möglichst nichtssagend.
Colin musste nicht wissen, mit wem er telefonierte.
"Es gibt noch einen? Und ich dachte, ich wäre der Einzige!" Colin legte sich eine Hand auf die Stirn und schluchzte filmreif.
Gleich darauf musste er grinsen.
Jetzt musste auch Kei lachen.
"Da muss ich dich leider enttäuschen, du wirst dir diese Ehre teilen müssen."
"Ehre? Das ist harte Arbeit! Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wieviel Zeit und Aufwand dafür draufgehen, dir fachgerecht auf die Nerven zu gehen?"
"Ich hatte angenommen, dass das inzwischen zum Hobby geworden ist." Kei grinste. "Ich kann mir aber vorstellen, dass das seeehr zeitraubend ist."
Colins Augen wurden groß. "Und wiiee!"
"Es scheint dich nicht zu stören. Sonst würdest du's ja nicht machen." Er grinste immer noch. "Irgendwas muss ich an mir haben."
Colins Lächeln wurde süffisant, aber er sagte nichts und musterte Kei nur weiter.
Kei grinste weiter und musterte Colin ebenfalls.
"Du siehst surreal aus," sagte Colin nach einer Weile, immer noch amüsiert. "Ich habe dich mir nie mit Violine vorgestellt," erläuterte er.
"Ich mich mir auch nicht," sagte Kei dazu. Er fand, dass ihm die Gitarre bestimmt besser stand als eine Violine. Mittlerweile hatte er das Instrument vorsichtig auf Colins Bett gelegt.
Colin setzte die Füße wieder auf und beugte sich vor, um den Verstärker auszuschalten.
"Du hast dich aber sehr gut angestellt."
"Danke." Er lächelte leicht, ganz leicht. Dieses Mal in Richtung Colin.
Er setzte sich neben Colin und schaute kurz aus dem Fester. Es goss noch immer.
"Ja. Sehr geschickt." Colin griff nach seiner stromlosen Holzgeige und stellte sie sich wie eine Gitarre auf den Schoß, griff dann irgendwelche Saiten und zupfte sie sachte.
"..." Er wirkte verlegen, als wolle er etwas sagen, aber nicht auf seine übliche beklommene Weise. Er lächelte zufrieden, während er herumklimperte.
Kei grinste. "Ich bringe dir mal meine Gitarre mit," sagte er freundlich. Das was Colin da gerade fabrizierte klang wirklich interessant, also positiv interessant. Colin grinste ihn an, dann machte er ein unernstes zweifelndes Gesicht.
"Hast du vielleicht eine Ukulele? Deine Gitarre ist bestimmt viel zu groß und schwer für mich." Er versuchte erfolglos, sein Grinsen in Schach zu halten. Kei schmunzelte. Er stellte sich vor, wie Colin mit einer Gitarre umgehängt, zu Boden gezogen wurde. Hinzu kam eine Comicoptik. Vergeblich versuchte er ebenfalls, die allzu offensichtlichen Gedanken aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Die Vorstellung war zu gut. Er fing an zu lachen. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, sagte er: "Das schaffst du schon, du bist schon groß."
Colin hatte mitgelacht und machte jetzt wieder große Augen. "Findest du wirklich?" fragte er hoffnungsvoll. "Werde ich jetzt endlich Feuerwehrmann?"
Kei kam aus dem Grinsen, Schmunzeln oder Lachen gar nicht mehr heraus. "Nein... Dafür bist du noch zu klein. Aber nur ein bisschen."
"Ah, muss ich dann doch mein Gemüse aufessen... damit ich noch wachse," brummte Colin zerknirscht. "Meine Eltern sind übrigens gar nicht da, du kannst also nicht rausgeschmissen werden. Sie arbeiten heute abend beide."
Kei war tatsächlich gar nicht mal wenig froh darüber, immerhin konnte er so, wie Colin schon sagte, nicht rausgeworfen werden und, was noch viel besser war, er musste sich gar nicht mit Colins Eltern herumschlagen.
"Warum warst du denn nicht in der Schule?" Colin war aufrichtig interessiert.
"Ich hab geschlafen," sagte Kei.
Colin stutzte kurz, nickte dann und klimperte weiter.
"Did you practice your English," fragte er langsam.
"Not today," erwiderte Kei, er hatte gelernt. Wirklich ernsthaft gelernt.
Er verunglimpfte das Gezupfe mit Griffen in Colins Saiten. Der musste schmunzeln und nahm seine Hand weg, um Kei da machen zu lassen.
"Gute Aussprache."
Kei verunglimpfte munter weiter, sodass da irgendwas extrem Schiefes bei herauskam und grinste.
"Thanks."
Colin legte den Kopf schief und sah Kei vorwurfsvoll an. "Hör auf, Jenny zu befummeln. Sie mag das nicht. Das hörst du doch. Sie sagt nein."
Kei prustete beinahe los vor Lachen. "Ein schönerer Name ist dir nicht eingefallen?"
"Nein," sagte Colin mit beinahe ernstem Gesicht. "Keisuke war leider schon vergeben." Er brachte es fertig, Kei offenherzig anzusehen, aber man konnte ihm deutlich ansehen, dass er sich anstrengen musste.
Kei hatte lange nicht mehr so viel gelacht. "Es gibt noch mehr schöne Namen," kommentierte er und versuchte ebenfalls ernst zu klingen, was ihm aber hoffnungslos misslang.
"Stimmt. Kunibert. Und Helga."
"Neee."
"Sondern? Archibald? Hirohito? Akihito?"
"Ne. Ich hab ne Idee. Nimm eine Sprache, die keiner von uns kann und blättere blind in einem Wörterbuch."
"Hmm..." Interessanter Einfall. "Taugt die Schulbibliothek was? Ich war noch nicht da."
"Tatsächlich tut sie das. Da könnte man fündig werden, wenn man diverse Wörterbücher sucht," meinte Kei. Nur afrikanische Sprachen würde man dort wohl nicht finden, aber sonst...
"Hast du eigentlich noch andere Namen?"
"Wie, andere Namen? Meinst du Zweitnamen?"
Colin nickte.
Kei verneinte das. "Ich habe nur einen Vornamen. Hast du nen zweiten?"
Er nickte. "Ich habe zwei. Also insgesamt drei. Also Vornamen."
"Verrätst du die?" fragte Kei.
Colin nickte wieder und zuckte mit den Schultern.
"Colin Taliason Alasdair."
Kei hatte die letzten beiden Namen noch nie in seinem Leben gehört. "Klingt ungewöhnlich, wo kommen die letzten beiden her?"
"Alasdair ist ein gälischer Name. So heißt mein Opa, und Taliason ist mein toter Onkel. Der Name ist glaube ich aus Wales. Ich weiß aber nicht, was sie bedeuten."
"Schade." Kei hätte das gern gewusst. Er mochte Namen. Japaner suchten Namen häufig wegen des Klanges aus. Er würde nie erfahren, was sich seine Eltern bei der Namensgebung gedacht hatten und als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hätte, war er noch zu klein gewesen um darüber nachzudenken.
"Das lässt sich leicht herausfinden." Colin legte die Geige aufs Bett und stand auf, um zum Schreibtisch zu gehen. Kei sah ihm nach.
"Fragst du das Internet?"
"Ja." Er schaltete Bildschirm und Rechner an und setzte sich auf den Drehstuhl, mit dem er daraufhin zu Kei zurückrutschte, während der Rechner hochfuhr.
Der Bildschirmhintergrund war schwarz mit dem Bild einer vergilbten Porträtzeichnung in der Mitte. Colin rutschte zum Schreibtisch zurück, öffnete einen Browser und tippte herum...
Kei ging zu ihm herüber und schaute auf den Bildschirm.
"Uh... 'leuchtende stirn'? Da steht 'shining forehead' für Taliason."
Kei grinste und schaute auf Colins Gesicht. "Ne, passt nicht, außer es ist dein Geist oder so gemeint."
"Strahlende Stirn, hmm... bescheuert."
"Hier steht noch, dass ein Seher und Dichter so hieß. Dann ergibt die strahlende Stirn einen Sinn."
Kei nickte. "Dann ja."
Er suchte nach dem anderen Namen und klickte durch ein, zwei Seiten.
"Alasdair soll die schottische Version von Alexander sein. Bla bla, Verteidiger der Menschen..."
"Es klingt auf jeden Fall schön. Auch wenn mir nicht einfällt wen du verteidigen könntest." Kei grinste.
Colin bedachte Kei mit einem abschätzigen Blick aus dem Augenwinkel. Dann begann er, nach 'Keisuke' zu suchen.
Kei schaute auf den Bildschrim.
Colin klickte auf den angebotenen Wikipediaartikel.
"Mister Miyagi aus Karate Kid heißt so wie du. Und die meisten Berühmtheiten namens Keisuke sind Fußballer." Colin lachte.
Kei kommentierte das mit: "Ich bin kein besonders guter Fußballspieler."
"Nein. Du bevorzugst Bloodsports." Colin lächelte sachte und sah dann ernst zu Kei auf. Kei grinste minimal bei Colins Kommentar.
"Ich muss dir was erklären, glaube ich," sagte Colin und sah auf Keis Hose. "Lass mich ausreden, ja? Auch wenn es für dich vielleicht keinen Sinn ergibt."
Kei nickte. "Okay..."
Er war gespannt, was Colin eventuell sinnloses zu sagen hatte. Mochte er doch gerade solche Gesprächsanfänge überhaupt nicht.
"Also... was meine komische Reaktion angeht, nach der du gefragt hast... Ich nehme dir übel, dass dir nicht leidtut, was du mit mir gemacht hast," beichtete Colin leise, indem er wieder zu Kei aufsah. "Aber ich weiß, dass das vielleicht nicht ganz fair ist, weil du ja kein richtiger Mensch bist und so. Vielleicht funktioniert das bei dir ja anders, und du hast nie Schuldgefühle. Das wäre dann gut für dich, weil sie dich am Überleben hindern würden... Aber dann kannst du nicht mit Menschen umgehen. Hat dir niemand beigebracht, dass man Leute, die man mag, nicht... so überfällt und dann ohnmächtig auf der Straße liegen lässt? Und wenn du mich nicht umbringen willst, hättest du dich hinterher mehr zurückhalten sollen. Letzte Woche." Es fiel ihm schwer, das alles zu sagen, er war nicht so mutig. Er gab sich die Blöße. Er machte sich für Kei verwundbar, ausgerechnet vor ihm, der ihm schon gesagt hatte, dass ihm sein Zustand egal war. Aber er war hiergeblieben und war in der Zeit scheinbar ehrlich glücklich gewesen. Heute war er auch offen und interessiert, er sah ihn ausnahmsweise nicht wie ein Raubtier an.
Kei hörte ihm aufmerksam zu. Schuldgefühle hatte er tatsächlich keine. Dieses Gefühl war ihm vollkommen fremd. Nachdem er eine Weile über das von Colin Gesagte nachgedacht hatte, begann er zu erklären:
"Mir hat nie jemand erklärt, was man tun und nicht tun darf oder sollte. Nur, dass ich irgendwie überleben muss und möglichst nicht dabei draufgehe oder jemand weiß, wer ich bin." Er machte eine Pause.
Wie erklärte man, dass man nicht weiß, was gut oder schlecht ist oder gar, wie man sich schuldig fühlt?
Dem Vampir war es vollkommen egal ob jemand starb oder getötet wurde.
Nur Colin wollte er nicht umbringen. Soziale Interaktion, vernünftige vor allem, war ihm größtenteils unbekannt. Irgendwo war ihm Colins Gesundheit nicht einmal völlig egal, das wusste er auch. Sonst würde er immerhin nicht ständig an ihn denken. Oder gar - sich Sorgen machen. Ein bisschen.
"Ich bin überwiegend allein groß geworden. Da gab es nie jemanden, der mir irgendwas erklären konnte. Nicht lange jedenfalls."
Colin musterte Keis Gesicht.
"Du hast keine Eltern?" Er klang eher interessiert als schockiert.
"Nein. Nicht mehr," erklärte Kei, als sei das was völlig normales. War es für ihn ja auch.
"Wie lang bist du schon allein?"
Kei dachte kurz nach. "Ich lebe seit drei Jahren ganz allein, davor einige Jahre hier und da."
Er fügte noch hinzu, dass er keine Eltern mehr hatte seit er fünf oder sechs Jahre alt gewesen war.
"... Hattest du einen Vormund oder andere Verwandte?"
"Das Amt bestimmt mal, irgendwann war ich abgehauen. Dann niemanden mehr. Verwandte habe ich keine von denen ich weiß."
Colin staunte ihn unverhohlen an. Er drehte sich mit dem Schreibtischstuhl zu ihm.
"Warum gehst du zur Schule?"
"Um nicht den ganzen Tag sonstwo zu verbringen und damit mir keiner auf die Nerven geht, bis ich mit der Schule fertig bin. Dadurch, dass ich tatsächlich gemeldet bin, weiß die Präfektur oder wer auch immer da die Register führt, dass ich siebzehn Jahre alt bin. Ich will nicht, dass die mir auf den Sack gehen, nur weil ich die Schule schmeiße," erklärte er.
"Das erklärt so viel..." Colin stand auf. Kei schaute ihn an und wusste nicht so ganz, was genau seine Erläuterung Colin jetzt erklärt hatte.
Colin schluckte und blickte seitwärts auf seinen Schreibtisch. "Ich mag dich wirklich, weißt du?" Er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, und steckte sie in seine Bauchtasche. "Und du hast gesagt, dass du mich magst, und das glaube ich dir sogar... aber ich weiß nicht, wie. Du behandelst mich mehr wie... " Er kratzte sich am Nacken.
Kei lehnte sich an Colins Schreibtisch, sodass er ihm direkt gegenüberstand, eher halb saß, und betrachtete den Jüngeren weiter. Nickte leicht.
Ihm fiel kein passendes Wort ein, mit dem er Colins Satz beenden konnte, das nicht völlig daneben klang. Etwas zu essen, war das erste, was ihm einfiel, wobei das auch nicht passte, weil man sein Essen nicht K.O. schlägt um es dann liegen zu lassen. Er sagte leise: "Nicht so, wie man jemanden behandeln sollte, den man mag..."
Colin wagte es, ihn kurz anzusehen und nickte etwas.
"Wie ein Ding." Er brachte es nicht fertig, Keis außerirdische Augen weiter anzusehen und senkte den Blick wieder. "Das ist auch in Ordnung, das würde ich mitmachen." Braucht er überhaupt mein Einverständnis? "Aber ich möchte es wissen. Soll ich dein Besitz sein? Oder dein -" Er benutzte alle schamvollen, bescheidenen Floskeln, die die Regeln der japanischen Konversationskunst kannten. Das war sein Schild aus Formalität gegen seine Scham für diese Offenheit.
Kei benutzte viele von Colins Höflichkeitsfloskeln äußerst selten. Auch war er überhaupt nicht gewohnt, dass jemand so vernünftig mit ihm sprach. Und er noch nicht Reißaus genommen hatte.
Er lächelte irgendwann ganz leicht.
Begann in seinem Kopf nach englischen Vokabeln zu kramen.
"I do not need you... as a property... but as mine." Er brauchte eine ganze Weile um diesen Satz zu formulieren.
Colin wurde rot.
"Du hast ja wirklich geübt," flüsterte er und sah Kei zuerst immer noch nicht an. "Okay," man konnte sehen wie er sich zusammennahm, bevor er zu Kei aufsah. Seine Stimme war aber noch nicht ganz wiederhergestellt. "So... kiss me?"
Dieser Bitte kam der Vampir sehr gern nach. 



No comments:

Post a Comment