Wednesday, September 16, 2015

Kei + Colin IV: Vorspiel


Hier geht es zum ersten Teil.


Am späten Nachmittag begann es zu regnen, und es hörte bis zum nächsten Vormittag nicht auf.
Kei, diesmal ganz ohne Uniform in Tanktop und langer zerrissener Hose, schlenderte in die Schule. An seinen Armen baumelten Bänder und von seinem Hals die Münze. Kei war froh, dass es Freitag war. Die Nacht hatte er draußen verbracht. In den morgendlichen Nachrichten waren Berichte von etwa fünf Toten in einem Stadtviertel, an denen keinerlei Spuren gefunden worden waren. Entweder waren einfach keine hinterlassen worden, oder der Regen hatte sie weggespült.
Als er die Bilder sah, schaute er sie erstaunt an. In einem der Schulflure hingen große Bleistift- und Kohleporträtzeichnungen von Schülern. Auf einer davon war Colin abgebildet. Vor diesem Portrait blieb er stehen. Er hatte keine Ahnung wer dafür verantwortlich war. An ein größeres Kunstprojekt konnte er sich nicht erinnern. Ein kleines Schild neben dem ersten Bild in der Reihe deklarierte die Zeichnungen als Werke des Kunstclubs. Unter jeder Zeichnung hing ein weiteres Schild mit den Namen des Zeichners und des Modells.
Ein paar Schüler gingen durch den Flur, und Colin betrat ihn nun auch und begann, sich die Bilder anzusehen. Anstelle des großen Rucksacks trug er seinen Geigenkasten auf dem Rücken.
Kei fand, dass die Bilder wirklich gut waren. Nicht alle, aber einige. Er ging an Colin vorbei.
"Du wurdest gut getroffen," sagte er, als er an ihm vorbeikam. "Wo hast du dein Zeug gelassen?" fragte er beiläufig.
Colin sah sich um und lächelte Kei zum Gruß an. "Hier in der Schule. Wo hast du deins gelassen?" Er sah gründlich an Kei herunter.
"Welches?" Kei trug obenrum nicht viel, aber seine Hose war dekoriert. Er hob seine Umhängetasche hoch. Bedeutete mit dieser Geste, dass er sehr wohl etwas dabei hatte. Er war kaum nassgeregnet, weil er einen Schirm besaß, mit dem er seine Haare trocken hielt. Ansonsten störte ihn der Regen nicht. Colin war ebenfalls trocken.
Er blinzelte verständnislos. "Deine Uniform."
"Waschmaschine," antwortete Kei, dessen Uniformjacke beim gestrigen Blutbad etwas abbekommen hatte. Kei schaute weiter auf die Bilder.
Colin nahm das so hin, guckte Kei aber weiter an, dann auch zurück auf die Bilder, als der seinen Blick abwandte.
Er sah sich um, entdeckte seins und sah es sich an.
Kei bleib noch eine Weile bei den Bildern und betrachtete Colin auch noch ein wenig.
Eilig hatte er es immerhin nicht. Er grinste ein wenig als er an dem Kleineren vorbeischlenderte. Ein Grinsen, das nicht freundlich war, aber auch nicht abgrundtief böse. Ein wenig fasziniert. Er wusste nicht, was er von Colin halten sollte. Interessant war das richtige Wort. Colin sah sein Bleistiftabbild ein wenig nachdenklich an, bis Kei an ihm vorbeiging. Er wandte sich stracks zum Gehen, mit verlegen gesenktem Blick. Diese Reaktion amüsierte den jungen Vampir. Weitergrinsend machte er sich nun auf den Weg zum Klassenzimmer.
"Colin!" rief er ihm nach und warf ihm eine Packung Kippen zu. "Du bist ja noch zu klein um dir welche zu kaufen," grinste er und ging in die Klasse.
Colin drehte sich automatisch um und fing die Schachtel aus Reflex auf. Er sah sie verwirrt an und steckte sie hastig in die Jacketttasche, bevor jemand sie sah, und ging auch in den Klassenraum. Er vermied es wieder, jemandem lang ins Gesicht zu sehen, besonders Kei, aber linste immer wieder kurz zu ihm hin, vor dem Unterricht und währenddessen.
An dem ging das nicht unbemerkt vorbei. Es amüsierte ihn. "Bin ich so interessant?" flüsterte er, über seine Aufgaben gebeugt.
Colin machte ein leises Schnaubgeräusch und lächelte ein bisschen wenig überzeugend, neigte dann den Kopf etwas nach vorn, stierte demonstrativ in sein Buch und ließ seine Haare auf der Kei zugewandten Seite von hinter seinem Ohr als Vorhang herunterfallen.
Kei musste lachen. Amüsiert wendete er sich wieder seinen Aufgaben zu.
Dann halt nicht.

Kurz vor der Mittagspause fragte Tomoko, die vor Colin saß, ob er nach der Schule zum Geigenunterricht müsse. Sie nickte auf den Kasten, der hinten auf einem der Reservetische lag.
"Nein, ich spiele heute vor."
"Oh! Wo denn?"
"Hier. Bei Frau Hasegawa."
Kei hörte das auf einem Ohr mit, als er aufstand. Da er sowieso nichts anderes vorhatte, nahm er sich vor, sich das anzuhören. Frau Hasegawa hatte einen ziemlich strengen Ruf.
"Dürfen wir mitkommen? Oder sind keine Zuschauer erlaubt?" fragte Tomoko gespannt. Colin zuckte mit den Schultern.
"Ich glaube schon. Es ist in der Aula, also wird es bestimmt in Ordnung sein."
"Wenn sie dich nimmt, dauert es aber noch ewig, bis du auftreten darfst. Sie lässt alle erst ein Jahr lang proben, bevor sie öffentlich spielen dürfen."
Colin zuckte nur wieder mit den Schultern.
"Kann mir recht sein."
"Wann musst du denn hin?"
"Um viertel nach zwölf."
Tomoko machte riesige Augen.
"Das ist gleich!"
"Oh damn," Colin sprang auf, grabschte sich den Geigenkasten und stürzte aus dem Raum.
Kei lachte. Er schlenderte aus dem Raum und machte sich auf zur Aula. Gemütlich. Wenn er wollte, konnte er verdammt schnell da sein. Er nutzte das Gedränge auf dem Flur aus, um sich unbemerkt in die Aula zu setzen. Er saß irgendwo auf dem Boden herum, außerhalb der Sichtweite der Mädels. Colin konnte ihn sehen, wenn er wollte. Es waren nur eine handvoll Leute da. Tomoko und Ayane natürlich, sie hatten noch einen Jungen mitgebracht, Frau Hasegawa, die sich mit einem dicken Hefter in die erste Reihe gesetzt hatte und zwei weitere Lehrer, die scheinbar nur aus Interesse da waren.
Colin selbst ging auf einer Seite der Bühne hin und her und stimmte dabei die Geige. Er schien etwas atemlos, aber mit jedem Strich über die Saiten etwas gelassener. Sein Kasten lag offen auf der Bühnenkante. Nun schob er ihn mit der Fußspitze etwas zur Seite.
Frau Hasegawa sagte etwas - unverständlich, weil leise und zur Bühne hin, Colin sah sie an und sagte: "Corelli. La folia." Frau Hasegawa sagte noch etwas und Colin schmunzelte etwas, sah zu den Mädchen und entdeckte dabei Kei im Gang sitzen. Er grinste ihn an und sagte: "Irrsinn," setzte sich dann die Geige auf die Schulter.
Keis Gesichtsausdruck ließ den Hauch eines Lächelns vermuten. Irrsinn, ja das passt gut, dachte er und lauschte nachdenklich. Er machte die Augen zu und hörte dem Kleineren zu. Er lehnte sich an die Wand und sah fast schon friedlich aus, wie er dasaß.
Colin begann langsam und sauber zu spielen, sehr kontrolliert und etwas steif, bis er nach ein paar Sekunden außer der Geige alle Geräusche ausgeblendet hatte und nun nur ernst, aber scheinbar sehr gelassen spielte. Nach einer Weile begann er damit, auf der Bühne etwas umherzugehen, einen Schritt nach vorn, nach hinten, beugte sich ab und zu ein bisschen vor, als ob er nicht allein mit den Armen spielen könnte.
Anfangs sah er dabei ernst in seinen geöffneten Geigenkasten hinein und später zu Kei.
Der begann irgendwann, ihn zu beobachten - fasziniert zu beobachten. Musterte jede Bewegung genau, malträtierte sein Piercing beinahe unbemerkt. Nicht einmal, als Colin ihn direkt ansah, genierte er sich. Sah ihm einfach weiter zu. Blickte ihm kurz direkt in die Augen, mit einer Mischung aus Faszination und noch etwas anderem. Grinste leicht. Trotzdem hatte sein Blick etwas Freundliches. Colin sah schrecklich ernst aus, und als es am Schluss daran ging, auf mehreren Saiten gleichzeitig zu spielen, geradezu wütend.
Das legte sich in den letzten Takten und sein Gesichtsausdruck beruhigte sich.
Er richtete sich wieder auf und ließ Bogen und Geige sinken.
Ayane und Tomoko sprangen auf und fingen an zu klatschen.
Kei blieb sitzen und blickte noch weiter kurz und sehr fasziniert in Colins Richtung. Erst als die Weiber ihrem Lob freien Lauf ließen, stand er auf und lehnte sich an die Wand. Er wartete noch eine Weile, ehe er zu Colin hinüberging, ihm einen undefinierbaren Blick zuwarf.
Colin war von der Bühne gesprungen, stand steif davor, hörte brav nickend Frau Hasegawas Kommentaren zu und bemerkte gar nicht, wie Kei näherkam, bis Frau Hasegawa ihre Ausführungen abbrach und Kei pointiert anblickte. Colin sah ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Verwunderung an und zuckte überrascht zusammen, als er ihm ins Ohr flüsterte.
"Du bist gut, Kleiner," hauchte er ihm grinsend ins Ohr und ging an den Weibern vorbei, in Richtung Tür. Colin sah Kei nach und musste sein Ohr anfassen. Hoffte, dass er nicht gerade rot wurde.
Frau Hasegawa war ganz sicher total pikiert und Colin mindestens verblüfft. Mission erfüllt. Kei war sich ziemlich sicher, bei Colin keinen schlechten Eindruck hinterlassen zu haben. Grinsend schlenderte er nach draußen und zündete sich eine Zigarette an.



No comments:

Post a Comment